Frontex-Untersuchungsgruppe im Europäischen Parlament nimmt ihre Arbeit auf

Heute, am 23. Februar 2021, traf zum ersten mal die Frontex-Untersuchungsgruppe des Europäischen Parlaments zusammen. Sie besteht aus 14 Abgeordneten, zu denen auch ich gehöre. Im Zentrum steht die Frage, ob die Agentur systematisch Menschenrechtsverletzungen begangen hat. In vier Monaten wird die Gruppe ihren ersten Bericht vorlegen. Auch nach der ersten Untersuchung wird sich die Gruppe weiter mit Frontex befassen.

Die Vorwürfe gegen die EU-Agentur Frontex wiegen schwer. Griechische Beamte schleppen massenhaft Geflüchtete aufs offene Meer und die Agentur schaut dabei zu oder hilft sogar aktiv mit. Das belegen investigative Recherchen unabhängiger Medien.

Frontex zeigt bislang wenig Interesse an Aufklärung

Das Interesse an einer Aufklärung bei Frontex ist hingegen gering. Interne Unterlagen von Frontex zeigen, dass die Agentur versuchte, Verbrechen zu verschleiern. Insbesondere Frontexchef Fabrice Leggeri verhinderte die Ermittlungen und belog auch uns Abgeordnete, als er im Europäischen Parlament geladen war. Am Folgetag musste selbst die Presseabteilung von Frontex zugeben, dass Leggeri gelogen hatte. 

Trotz der Beweislast behauptet der Frontexdirektor weiterhin, er habe keine Kenntnis von diesen Vorfällen und Frontex halte sich an die menschenrechtlichen Vorgaben. Allerdings hat Leggeri selbst Fragen an die betroffenen Mitgliedstaaten hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen gesendet. Es ist also nicht glaubwürdig, dass er gar nichts wisse. 

Bundespolizei in Pushback involviert

Es gibt eine Vielzahl von Fällen, wo Frontex Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. So hat am 10. August 2020 ein Schiff mit deutscher Besatzung ein Schlauchboot mit Geflüchteten gestoppt und gepushbacked. Somit sind auch deutsche Bundespolizist:innen in solche Aktivitäten verwickelt. Mit dem Magazin Frontal 21 sprach ein Bundespolizist auch darüber, dass von den Beamten erwartet wird, geltendes Recht und grundlegende Menschenrechte zu brechen. 

Am Morgen des 10. August 2020 gegen 6 Uhr beobachtet das an Frontex entsandte deutsche Schiff “DEU CPB 62” ein Schlauchboot mit ca. 40 Menschen in griechischen Gewässern, unweit der Insel Samos. Es fährt hin, stoppt die Fahrt des Bootes und informiert die griechische Küstenwache. Diese erscheint einige Minuten später und übernimmt die Situation. Das deutsche Schiff verlässt die Szene. Im Bericht der griechischen Küstenwache heißt es im Anschluss, dass die Schutzsuchenden auf dem Schlauchboot ihren Kurs geändert hatten und wieder in türkische Gewässer zurückgefahren wären. Auf Nachfrage bestätigen die griechischen Beamt:innen, dass sie “Grenzschutzmaßnahmen zur Verhinderung einer Landung auf Samos” durchgeführt hätten. 

Frontex beobachtet Pushback, doch Leggeri stuft diesen nicht als Grundrechtsverletzung ein

Ein anderer wichtiger Fall ereignete sich in der Nacht vom 18. auf den 19. April 2020. Ein Aufklärungsflugzeug von Frontex überflog das östliche Mittelmeer und beobachtete dort, wie Schutzsuchende sich auf einem Schiff der griechischen Küstenwache befanden und ihr leeres Schlauchboot von dem griechischen Boot gezogen wird. Zwei Stunden später beobachtet das Frontex-Flugzeug, wie die Schutzsuchenden von dem Patrouillenboot der griechischen Küstenwache auf das Schlauchboot zurückgebracht werden, ein weiteres Schnellboot wartet in unmittelbarer Umgebung. Frontex hält zu diesem Zeitpunkt auch klar fest, dass sich keinerlei türkische Boote in der Umgebung befinden. 
Einige Minuten später, gegen 2.45 Uhr am 19. April 2020, macht das Frontex-Flugzeug ein Bild davon, wie das griechische Boot das angeleinte Schlauchboot mit den Schutzsuchenden an Bord in Richtung türkische Gewässer zieht. Eine halbe Stunde später beobachtet Frontex, dass das Schlauchboot keinen Motor hat und die griechischen Boote sich aus der Umgebung des Bootes entfernen. Am nächsten Nachmittag bestätigen die griechischen Behörden, dass das Schlauchboot von der türkischen Küstenwache entdeckt und auf das türkische Festland gebracht wurde. Die Frontex Beamten meldeten den Vorfall und Fabrice Leggeri wandte sich an die griechische Regierung, stufte den Fall jedoch letztendlich nicht als Grundrechtsverletzung ein.

Arbeitsgruppe im Europäischen Parlament wird eingerichtet

Der Innenausschuss des europäischen Parlaments hat Frontex hierzu mehrfach vorgeladen, doch wir Abgeordneten wurden einfach weiter angelogen. Der Ausschuss hat schriftliche Fragen nachgereicht, die Antworten waren eher bescheiden.

Die Untersuchungsgruppe des Europäischen Parlaments soll nun die vorhandenen Beweise und Verfahren prüfen und die Frage beantworten, ob Frontex sein Mandat missachtet, zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt und entgegen der Grundwerte und Gründungsprinzipien der EU handelt. Nach der ersten Untersuchung wird die Gruppe weiterhin bestehen, um die Aktivitäten von Frontex zu überwachen und zu prüfen.

Unsere Ziele in der Arbeitsgruppe

Ich bin froh, dass die Arbeitsgruppe auf Initiative der Grünen/EFA-Gruppe eingerichtet wurde. Mit meiner Fraktionskollegin Tineke Strik, die für den ersten Bericht verantwortlich ist, werde ich mich in der Untersuchungsgruppe dafür einsetzen, die Vorwürfe gegen Frontex zu untersuchen. Konkrete grüne Ziele sind die folgenden: 

  • das Verfassen eines evidenzbasierten Berichts zu den Vorwürfen gegen Frontex
  • Empfehlungen an Frontex, die von der Agentur umgesetzt werden sollen
  • Eine Berücksichtigung von Grundrechten in den Aufträgen der Agentur
  • Veränderung der Arbeitskultur bei Frontex
  • Transparente Berichterstattung von Frontex gegenüber der Öffentlichkeit und dem Europäischen Parlament, dem gegenüber es rechenschaftspflichtig ist. 
  • eine laufende, transparente Überprüfung der Arbeit von Frontex 

Was passiert mit Geld, das die EU Bosnien-Herzegowina für Geflüchtete bereitstellt?

Seit Anfang 2018 hat die EU Bosnien-Herzegowina insgesamt rund 89 Millionen € für Flucht und Migration zur Verfügung gestellt. Mit dem Geld soll laut EU-Kommission humanitäre Hilfe für Flüchtende bereitgestellt und die bosnischen Behörden im Migrationsmanagement unterstützt werden. 

Von diesen Geldern kamen über 75 Millionen € aus den sogenannten Instrument for Pre-accession Assistance (IPA). Dabei handelt es sich um Heranführungshilfen der EU, um Reformen in potentiellen Beitrittsländern der EU zu fördern. Mit den Geldern soll Staaten dabei geholfen werden, fit für die EU zu werden. Weitere 13,8 Millionen € kamen aus dem ECHO-Topf, welcher Gelder für humanitäre Nothilfe bereit stellt. 

Zu diesem Geld gehören auch 3,5 Millionen €, die von der EU-Kommission Anfang Januar zusätzlich zur Verfügung gestellt wurden, nachdem das Camp in Lipa abbrannte und Hunderte Menschen obdachlos dem Winter im bosnischen Gebirge ausgeliefert waren. Das Geld soll für warme Kleidung, Decken, Essen und Gesundheitsversorgung eingesetzt werden. Mit diesem Geld werden vor allem Hilfsorganisationen wie Save the Children oder das Danish Refugee Council unterstützt. Das Danish Refugee Council beispielsweise nutzte Teile der Mittel, um wichtige Berichte über die gewaltvollen und illegalen Pushbacks durch Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zu erstellen. 


Angesichts der furchtbaren Lage in Bosnien fragen sich nun manche, was mit dem Geld geschehen sei. Auch die Deutsche Welle berichtete über das Thema.

Hierhin fließt das Geld  

Das meiste Geld geht aber an IOM in Bosnien-Herzegowina. IOM erhielt seit Juni 2018 insgesamt 76,8 Millionen € von der EU, von denen bis Ende 2020 51,6 Millionen € abgerufen wurden. Somit waren Ende des Jahres noch 25,3 Millionen € übrig. Auf der Homepage der IOM ist die Vergabe der Mittel auch aufgelistet. Ich werde hier nochmal die wichtigsten Punkte aufzählen.

Auf dieser Grafik sieht man, dass ein Großteil der Mittel aus dem IPA.Topf kommt. Außerdem wurden Gelder für eine Antwort auf Covid-19 in Bosnien-Herzegowina auch für Geflüchtete bereitgestellt, damit diese dem Virus nicht schutzlos ausgeliefert sind. Angesichts der räumlichen Enge in den bestehenden Lagern und sehr nah beieinander stehenden Etagenbetten muss aber bezweifelt werden, dass diese Strategie des IOM ausreichend ist. 

Wie setzt IOM die Gelder ein

In dieser Grafik listet IOM auf, wie die Gelder in Bosnien-Herzegowina bislang verteilt wurden. 

14 % der Mittel wurden für die Schaffung beziehungsweise die Renovierung von insgesamt sieben Camps im Kanton Una-Sana und der Umgebung um Sarajevo ausgegeben. Dazu gehören die Installierung von 562 Containern in den Lagern Ušivak, Blažuj, Lipa, Bira, Sedra, Borici und Miral sowie der Umbau des ehemaligen Studierendenwohnheims in Borici. Außerdem wurden rund 5900 Etagenbetten, über 10.000 Matratzen, 1300 Heizungen, 45 Industriewaschmaschinen und weiteres Equipment für die Camps gekauft. Rund 2 % werden für die Verwaltung, Räume und Mitarbeiter des IOM in den Büros in Sarajevo und Bihać ausgegeben.

Intransparenz bei Mittelverwendung durch bosnische Behörden

Mit 3,4 Millionen € gingen rund sieben Prozent der Gelder direkt an die Institutionen Bosnien-Herzegowinas. Von dem Geld erhielt die Polizei neue Fahrzeuge, Drohnen, Wärmebildkameras und schwere Schutzausrüstung zur Aufstandsbekämpfung. Nachdem ich mit eigenen Augen gesehen habe, mit welcher Brutalität die Polizei des Kantons gegen Geflüchtete vorgeht, habe ich aber Zweifel daran, ob das wirklich der beste Einsatz für die Gelder ist. Außerdem werden aus den Mitteln 25 Mitarbeiter der bosnischen Ausländerbehörde finanziert. 

Eine genaue Aufstellung der Nutzung der Mittel durch die bosnischen Behörden ist derzeit leider nicht zu bekommen. Die bosnischen Behörden geben dazu keinen vollumfänglichen Bericht ab und ignorieren Anfragen von Journalist:innen. Das ist kein sehr transparenter Umgang, der hier mit den Mitteln der europäischen Steuerzahler:innen betrieben wird. 

Die Vergabe der Mittel wird von einem Ausschuss kontrolliert, dem Vertreter der EU-Delegation in Bosnien-Herzegowina, das bosnische Sicherheitsministerium, die Grenzpolizei, die Ausländerämter und mehrere Hilfsorganisationen angehören. Insbesondere die bosnischen Behörden müssen darlegen, wo die Gelder hinfließen, wenn sie Zweifel an einer korrekten Mittelvergabe ausräumen wollen.

Gelder für humanitäre Hilfe

77 % der bislang vom IOM ausgegeben Mittel gingen in den Bereich Humanitäre Hilfe. Bei den über 16 Millionen € sind Ausgaben für Heizung, Wasser, Müllabfuhr, Wartung enthalten, sowie die Kosten für die Mitarbeiter des IOM. Insgesamt beschäftigt IOM aktuell 423 Mitarbeiter:innen in den Lagern, von denen 421 bosnische Staatsangehörige sind. 

Knapp 10,9 Millionen € hat das IOM für die Verteilung von mehr als 8,2 Millionen Mahlzeiten ausgegeben. Dabei hat IOM mit der NGO Pomozi.ba im Kanton Sarajevo und dem roten Kreuz im Kanton Una-Sana zusammengearbeitet. 

Für die Anschaffung von Waren des täglichen Bedarfs hat das IOM für 1,6 Millionen Gegenstände insgesamt über 4,7 Millionen € ausgegeben. Dabei handelt es sich um Hygieneartikel wie Seife und Zahnbürsten, aber auch um Schlafsäcke, Winterkleidung oder Schutzmasken. 

Nochmal rund 4,7 Millionen € wurden für den Bereich Gesundheit und Bildung aufgewendet. In diesen Bereich fallen medizinische Versorgung und Transport, sowie besonderer Schutz für minderjährige Geflüchtete und ihre Schulbildung. 

Weitere knapp 3,7 Millionen € wurden für den Bereich Sicherheit ausgegeben. Das Geld ging auch an private Sicherheitsunternehmen, an denen es vonseiten der Bewohner:innen und NGOs viel Kritik gab, weil diese die Geflüchteten schlecht behandelten oder aber schlicht ihre Arbeit nicht machen. So wurde, trotz der Anwesenheit der Sicherheitsleute, im Mai ein Mann im Camp Ušivak getötet. Außerdem wurden Gelder verwendet für Feueralarme, Feuerlöscher und Erste-Hilfe Equipment. 

Die politischen Probleme lassen sich nicht mit mehr Geld lösen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei der Transparenz der Verwendung der Mittel noch Luft nach oben ist. Allerdings handelt es sich bei der Unterbringung für Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina nicht in erster Linie um ein finanzielles Problem, sondern um ein politisches. Die Entitäten und Kantone in Bosnien-Herzegowina wollen keine Geflüchteten aufnehmen, schieben die Verantwortung hin und her und benutzen die Geflüchteten für ein politisches Blame Game, um den jeweils anderen ethnischen Gruppen oder Parteien in Bosnien-Herzegowina die Schuld in die Schuhe zu schieben. Eine Übersicht über die politischen Herausforderungen habe ich in einem Text auf meiner Homepage und auch in meinem Podcast beschrieben. 

Bei aller berechtigten Kritik an Bosnien-Herzegowina dürfen wir aber nicht vergessen, warum dort überhaupt tausende Menschen festsitzen. Die meisten von ihnen waren zuvor bereits in EU-Staaten wie Griechenland, wo sie auch unmenschlich behandelt wurden. Und sie wollen weiter, doch werden sie von den kroatischen Behörden brutal und rechtswidrig zurück geprügelt. Die aktuell furchtbare Lage für Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina ist also auch Schuld der EU-Staaten und vor allem die Kommission muss dafür sorgen, dass sich diese endlich an geltendes Recht halten. 

Auf kurze Sicht müssen in Bosnien-Herzegowina bessere Bedingungen für Flüchtende geschaffen werden und es kann darüber geredet werden, ob sich an der einen oder anderen Stelle auch mit mehr Geld helfen lässt. Aber das grundsätzliche politische Problem wird sich nicht unter höheren Geldsummen verstecken lassen. Wir als Bürger:innen der Europäischen Union dürfen nicht akzeptieren, dass Bosnien-Herzegowina als Abladeplatz für Geflüchtete missbraucht wird und diese immer wieder dorthin zurück geprügelt werden. 

Darum ist es so schwierig zu klagen, wenn Menschenrechte verletzt werden

Oft wird mir die Frage gestellt, warum Menschen auf der Flucht nicht einfach vor einem Gericht klagen, wenn ihre elementaren Menschenrechte von EU-Staaten oder Frontex verletzt werden. Diese Frage ist sehr berechtigt, aber nicht leicht zu beantworten. In diesem Text werde ich einige Eckpunkte aufgreifen, die es für Menschen auf der Flucht so schwierig machen, ihre Rechte einzufordern. 

Menschenrechte sind Rechte, die der Staat jedem Individuum auf seinem Staatsgebiet oder unter seiner Gerichtsbarkeit garantiert. Die Zuständigkeit der jeweiligen Gerichtsbarkeit ist immer gegeben, wenn staatliche Akteure wie Polizei, Grenzschutz oder Armee in Ausübung ihrer Verpflichtungen auf Menschen treffen. Staatliche Verantwortung ist dagegen schwieriger zu beweisen und geltend zu machen, wenn EU-Akteure wie Frontex oder die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (EBCGA) handeln.

Beweispflicht liegt bei den Klagenden 

Wer eine Verletzung seiner Menschenrechte behauptet, muss zunächst seine eigene Betroffenheit beweisen. Im Fall von Pushbacks ist es aufgrund der Art dieser Handlungen schwierig, die eigene Anwesenheit am Ort des Geschehens zu beweisen, denn Zeugen, die nicht gleichzeitig auch Täter oder Opfer sind, gibt es in der Regel nicht. Flüchtende, die sich auf einem Boot auf hoher See befinden und zurückgedrängt werden, haben im Nachhinein oft keine Möglichkeit, Beweise für ihre Anwesenheit auf dem Boot zu erbringen, weil z.B. Handys der Menschen eingesammelt oder zerstört oder zumindest Handyvideos gelöscht werden. Ohne Beweise ist es unwahrscheinlich, dass ein individueller Fall, der sich darauf beruft rechtswidrig „kollektiv ausgewiesen“ oder „zurückgeschoben“ worden zu sein, Erfolg hat.

Mangelnder Zugang zu Gerichten 

Der Zugang zu Gerichten ist eine weitere frühe Hürde auf dem Klageweg. Wenn sich eine Person auf dem Staatsgebiet des Staates befindet, dem diese Person auch die Rechtsverletzung vorwirft, kann die betroffene Person solche Verstöße vor dem nationalen Gericht der ersten/untersten Instanz geltend machen. Die Rechtsordnung der EU ermöglicht es Individuen, einen Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu führen, sobald alle nationalen Rechtsmittel in dem betreffenden Land ausgeschöpft sind, d. h. alle Instanzen des nationalen Rechtssystems. Wenn also eine Person vom Grenzschutz eines dem EGMR unterworfenen Staates auf See, auf territorialem oder extraterritorialem Gebiet angetroffen wird, gelten die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergebenden Rechte und Pflichten. Solche Klagen sind aber faktisch nur dann zu führen, wenn die betroffene Person sich in dem rechtsverletzenden Staat befindet. Dies ist bei Pushbacks nie der Fall oder zumindest erst wenn ein Versuch der Überwindung der Grenze geklappt hat.

Alle EU-Mitgliedsstaaten und auch die assoziierten Staaten sind Vertragsparteien der EMRK. Als solche können sie vor dem EGMR verklagt werden. 

Flüchtende können nicht einfach gegen Frontex klagen

Etwas komplexer werden die Dinge, wenn z.B. Frontex die Behörde ist, die potentiell die Rechtsverletzung begangen hat. Denn als EU-Agentur kann eine Klage gegen sie nicht vor dem EGMR sondern nur vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), verhandelt werden. Der EuGH wiederum verhandelt keine Individualrechtsbeschwerden sondern Organstreitverfahren. Also z.B. EU-Mitgliedstaat gegen Frontex als EU-Behörde. Es ist für die Personen, deren Rechte durch den illegalen Pushback verletzt werden, außerdem nicht ganz einfach zu erkennen, wer eigentlich im konkreten Fall unter der EU-Flagge gerade rechtswidrig handelt. Das Kommando der Operation kann bei einem EU-Mitgliedstaat, einem Drittland mit einem Statusabkommen mit der EBCGA oder bei Frontex selbst liegen.

Die EU und die einzelnen Mitgliedstaaten an die EMRK und die Grundrechtecharta sowie das EU-Recht, also Verordnungen und Richtlinien gebunden. Fälle, die vor dem EuGH verhandelt werden, müssen von den Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission, der so genannten Hüterin der Verträge und Exekutive der EU, dem EuGH vorgelegt werden. Der EuGH kann nicht selbst auf Grundlage eigener Ermittlungen tätig werden. Da die EU-Mitgliedstaaten aktuell kein großes Interesse daran haben, dass das europäische Grenzregime permanent vom EuGH kritisiert wird, finden Vorlagen an den EuGH auf Grundlage eigener staatlicher Ermittlungen gegen Frontex nicht statt. Im Falle von Kroatien oder Griechenland geben die Regierungen ja noch nicht einmal zu, dass systematische oder auch nur einzelne Pushbacks überhaupt stattfinden.

Damit ein möglicher Pushback von Frontex gegen Einzelpersonen, die sich auf einem Boot in Richtung EU-Territorium befinden, in Luxemburg – dem Sitz des EuGH – verhandelt werden kann, muss also zunächst die betroffene Person ihre Anwesenheit auf dem fraglichen Boot nachweisen können. Zweitens muss geklärt werden, auf welchem Hoheitsgebiet der Pushback stattgefunden hat (in der Regel nicht das größte Problem) und drittens muss dieser Staat den Fall an den EuGH weiterleiten. 

Unklarheit darüber, wer eigentlich verantwortlich ist 

Fand der Pushback auf hoher See statt, also nicht im Hoheitsgewässer eines Staates, dann muss zusätzlich geklärt werden, auf welcher Grundlage Frontex zum Grenzschutz dort aktiv war. Frontex kann nicht ohne Absprache mit dem EU-Mitgliedstaat, dessen Grenzen es sichert, aktiv sein, ein Verfahren vor dem EuGH muss dann der Mitgliedstaat einleiten, für den Frontex hier aktiv war.

Es gibt die Möglichkeit, dass die betroffene Person die Beschwerde bei Frontex selbst einreicht. Aber auch hier müssen die oben geschilderten Nachweise zum Standort, zur Zuständigkeit der Agentur usw. erbracht werden. Außerdem ist Frontex bei der Bearbeitung von Beschwerden mindestens ineffektiv.

Unabhängig von den oben beschriebenen Möglichkeiten und Schwierigkeiten ist es noch sehr viel komplizierter eine Klage nach einem Pushback von einem Drittland aus einzureichen.

Lange und wenig realistische Klagewege 

Es gibt Richtlinien und Verordnungen, die die EU-Mitgliedstaaten auch in der Asylpolitik an bestimmte hohe Standards binden. Wenn Regeln, wie z.B. die Aufnahmebedingungen, von den EU-Mitgliedstaaten verletzt werden, leitet entweder die Europäische Kommission ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren gegen das Land ein, um sicherzustellen, dass das EU-Recht ordnungsgemäß umgesetzt wird, oder eine Person, die unter den schrecklichen Bedingungen leidet, kann ein Verfahren wegen des durch die Bedingungen verursachten Leids gegen das entsprechende Land einleiten. Sie muss aber auch hier wieder den Instanzenzug durchlaufen, müsste also in Deutschland bei dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht klagen, bei einer Klageabweisung dann weiter vor das zuständige Oberverwaltungsgericht, dann vor das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesverfassungsgericht. Erst danach kann der EGMR angerufen werden, der den Fall aus der Menschenrechtsperspektive betrachtet und prüft, ob ein Land bestimmte EMRK-Rechte der klagenden Person verletzt..

In einem solchen individuellen Verfahren könnten die unmenschlichen, erniedrigenden Bedingungen vor Ort angegriffen werden, denen Kläger*innen z. B. in einem Aufnahmezentrum ausgesetzt sind. Obwohl der EuGH Urteile des EGMR als Präzedenzfälle berücksichtigt, ist die EU nicht Vertragspartei der EMRK, so dass Menschenrechtsverletzungen durch EU-Akteure nicht vom EGMR verhandelt werden können.

Warum auch Dritte kaum eine Chance haben erfolgreich zu klagen

Wenn es um Dritte geht, die von einer Menschenrechtsverletzung wissen, ist ihre Chance als Menschenrechtsverteidiger:innen, zivilgesellschaftliche Organisationen oder interessierte Einzelpersonen, im Namen des Opfers zu klagen, ebenfalls sehr gering. In erster Linie haben die Mitgliedstaaten oder die Europäische Kommission Zugang zum Gerichtshof der EU, während der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erst zugänglich ist, wenn alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Der Zugang für Dritte, die nicht der gewählte gesetzliche Vertreter der Personen sind, die Menschenrechtsverletzungen geltend machen, ist ohne die aktive Beteiligung der betroffenen Person nicht zulässig.

Trotz offensichtlicher Rechtsverstöße haben die Betroffenen kaum eine Chance zu klagen

In der Realität führen diese komplexen rechtlichen Konstruktionen dazu, dass Menschen auf der Flucht kaum eine Chance haben die Verantwortlichen anzuklagen, wenn ihre elementaren Menschenrechte verletzt worden sind. Gerade weil die Flüchtenden nicht Staatsbürger:innen eines EU-Staates sind und ihre Grundrechte auch nicht von ihren Herkunftsstaaten geschützt werden, weswegen die meisten ja überhaupt erst fliehen müssen, sind sie Pushbacks, Gewalt und unwürdiger Behandlung meist schutzlos ausgeliefert. Die in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten Grundrechte der Vereinten Nationen gelten für diese Menschen in der Realität nicht. Ihre Würde wird tagtäglich angetastet und doch haben sie kaum eine Möglichkeit, sich juristisch dagegen zu wehren. 

Foto: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte © BY-SA 3.0, CherryX

Anfrage: Pushbacks durch Frontex in der Ägäis

Um als Europaabgeordneter meine parlamentarische Kontrollfunktion ausüben zu können, habe ich die Möglichkeit, Anfragen an die EU-Kommission stellen. Die Kommission muss diese Fragen beantworten.
Gemeinsam mit weiteren Abgeordneten habe ich der Kommission folgende Fragen gestellt:

Betrifft: Illegale Zurückweisungen durch Frontex in der Ägäis

Das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ veröffentlichte heute eine Recherche mit dem Titel „Frontex in illegale Pushbacks verwickelt“. Die Recherche belegt detailliert, dass Beamte der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) von den illegalen Praktiken der griechischen Grenzschutzbehörden wissen – und zum Teil selbst in illegale Zurückweisungen in der Ägäis verwickelt sind. Auch wenn die systematischen Rechtsbrüche durch griechische Behörden seit Monaten bekannt oder zumindest offensichtlich sind, hat Frontex zumeist abgestritten, überhaupt von diesen illegalen Zurückweisungen auf offener See zu wissen.

Durch die im Artikel beschriebenen Aktivitäten von Frontex und der griechischen Küstenwache werden die Aussagen der griechischen Regierung widerlegt, dass der Grenzschutz im Einklang mit internationalem Recht geschehe. Nun ist offenbar auch Frontex zunehmend in die illegalen Aktivitäten involviert.

1.    Seit wann hat die Kommission Informationen über die illegalen Praktiken der griechischen Grenzschutzbehörden oder von Frontex bei Einsätzen an der griechischen EU-Außengrenze?

2.    Welche Maßnahmen gedenkt die Kommission zu treffen, um diese Fälle aufzuklären und sicherzustellen, dass Völkerrecht und Unionsrecht durch ihre eigene Agentur eingehalten werden?

3.    Ist der Kommission bekannt, dass EU-Mitgliedstaaten spätestens seit März 2020 an den EU-Außengrenzen systematisch Unionsrecht brechen und dort Menschen misshandelt und in Lebensgefahr gebracht werden, oder wird auch in der Antwort auf diese Frage geschickt um die Realität herumgeredet?

Antwort von Kommissarin Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 11.02.2021:

Die Kommission nimmt die Pushback-Vorwürfe sehr ernst. Vorbehaltlich der Zuständigkeiten der Europäischen Kommission als Hüterin der Verträge sind in erster Linie die nationalen Behörden für die korrekte Umsetzung und Anwendung des EU-Rechts zuständig. Die Kommission hat wiederholt ihre Besorgnis bezüglich solcher Berichte geäußert. Dabei hat sie klargestellt, dass die Mitgliedstaaten Grenzüberwachungsaufgaben gemäß dem Schengener Grenzkodex[1] unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte durchführen, den Zugang zu internationalem Schutz sicherstellen und den Schutz vor Zurückweisung gemäß dem Unionsrecht und dem Völkerrecht gewährleisten müssen. In diesem Zusammenhang hat die Kommission die griechischen Behörden auch nachdrücklich aufgefordert, gemäß ihrer Zuständigkeit jegliches mutmaßliche Fehlverhalten zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund sei an das von der Kommission vorgeschlagene neue Migrations- und Asylpaket erinnert, das vorsieht, dass alle Mitgliedstaaten einen unabhängigen Überwachungsmechanismus einrichten, der den Schutz der Grundrechte an den Außengrenzen gewährleistet. Auf förmliches Ersuchen der Kommission wurde am 10. November 2020 eine dringende außerordentliche Sitzung des Verwaltungsrats der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) einberufen, um Vorwürfe über Pushback-Aktionen im östlichen Mittelmeer zu erörtern. Der Verwaltungsrat teilte die Auffassung, dass dringend alle Aspekte dieser Angelegenheit untersucht werden müssen. Auf der Sitzung des Verwaltungsrats vom 25./26. November 2020 wurde der Sachverhalt weiter erörtert, und es wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um den Sachverhalt gemäß der in der Verordnung[2] festgelegten Verteilung der Zuständigkeiten weiter zu prüfen. Eine zweite außerordentliche Sitzung des Verwaltungsrats wurde am 9. Dezember 2020 einberufen, um die schriftlichen Antworten des Exekutivdirektors auf die Fragen mehrerer Mitglieder des Verwaltungsrats – darunter der Kommission – zu prüfen und allgemein die Fortschritte bei der internen Untersuchung mutmaßlicher Zurückweisungen von Migranten in der Ägäis zu überwachen.[3] Der Ausschuss des Europäischen Parlaments für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres und das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments sind eng in diesen laufenden Prozess eingebunden und haben auch mündliche und schriftliche Anfragen an den Exekutivdirektor der Agentur gerichtet. Ferner hat Frontex Maßnahmen ergriffen, um die in der Gründungsverordnung der Agentur vorgesehenen Posten des Grundrechtsbeauftragten und der Grundrechtebeobachter schneller zu besetzen.


[1] Verordnung (EU) 2016/399 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 77 vom 23.3.2016, S. 1).

[2] Verordnung (EU) 2019/1896 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache (ABl. L 295 vom 14.11.2019, S. 1).

[3] https://ec.europa.eu/home-affairs/news/extraordinary-meeting-frontex-management-board-9-december-2020_en

Wir sind nicht sicher vor Covid-19, bis alle sicher sind

Die Mutationen des Coronavirus zeigen, dass auch wir betroffen sind, wenn wir den globalen Süden aus unseren Impfkampagnen ausschließen.

Der internationale Gesundheitsnotstand, der vor einem Jahr (am 30.01.2020) von der WHO ausgerufen wurde, hält an. Mittlerweile werden weltweit deutlich mehr als 2 Millionen Todesfälle gezählt. In unserer globalisierten Welt zeigt sich besonders deutlich, dass sich wenig von nationalen Alleingängen erwarten lässt. Da das Virus nicht an Ländergrenzen Halt macht, bedarf es einer globalen Impfstrategie, die Solidarität und Nachhaltigkeit vor Profit setzt und zur Steigerung der Produktionskapazitäten für Impfstoff weltweit führt. 

Die globale Impfstrategie war Thema in der ersten Plenarsitzung des Jahres im Europaparlament. Da hierbei jedoch – vor allem in Hinblick auf entwicklungspolitische Zusammenhänge – noch einige Fragen offen geblieben waren, hatte ich angeregt, den Punkt außerdem im Entwicklungsausschuss noch einmal aufzugreifen. Am 4. Februar hatten wir Abgeordnete deswegen noch einmal die Gelegenheit zu einer einstündigen Aussprache mit der Kommissarin für Entwicklungszusammenarbeit Jutta Urpilainen.

Gemeinsame europäische Impfstrategie

Die EU-Kommission hat sich gemeinsam mit den Mitgliedstaaten (als sogenanntes “Team Europe”) auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt, um Impfstoffe für alle Mitgliedstaaten in ausreichender Anzahl zu guten Bedingungen sicher zu stellen und diese fair zu verteilen. Solch ein gemeinsames Agieren ist begrüßenswert, wenn auch noch ausbaufähig – zum Beispiel in Hinblick auf weitere, aufeinander abgestimmte Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. 

Dass die EU momentan beim Impfen im Vergleich beispielsweise zum Vereinigten Königreich hinterher ist, hat verschiedene Gründe: Verspätungen im Produktionsprozess der Impfungen, bürokratische Hürden und schlechte Planung vieler Mitgliedsstaaten, aber schlichtweg auch die deutlich höhere Bevölkerungszahl.

Fehlende Transparenz

In Reaktion auf wiederholte Kritik meiner Kolleg:innen aus dem Europäischen Parlament hinsichtlich fehlender Transparenz bei den zwischen Kommission und Pharmakonzernen abgeschlossenen Verträgen hat sich zumindest etwas bewegt. Inzwischen sind drei der sechs Verträge öffentlich zugänglich, ein weiterer liegt im EP vor, jedoch bleiben Schlüsselinformationen geschwärzt. Eine der Kernaufgaben des Europäischen Parlaments ist die Kontrolle der Ausgabe von öffentlichen Geldern. Dafür ist Transparenz, möglichst schon während der Vertragsverhandlungen, dringend nötig.

Deutscher Alleingang?

Deutschland ist das Land der EU, das bisher die meisten Menschen geimpft hat. Entgegen der europäischen Strategie kaufte Deutschland 30 Mio. zusätzliche Impfdosen von BioNTech/Pfizer und 20 Mio. bei CureVac. In diesem Zusammenhang erntet Deutschland auf europäischer Ebene viel Kritik, auch da die europäische Impfstrategie unter Kommissionschefin von der Leyen und unter deutscher Ratspräsidentschaft entwickelt wurde, Deutschland also deutlich früher Einfluss auf die geringen Bestellmengen gehabt hätte. Mit diesem nationalen Alleingang hat Deutschland möglicherweise einen Vertragsbruch begangen. Ein Rückfall zu nationalistischen Reflexen wird uns bei einer gemeinsamen Bekämpfung der Coronapandemie nicht voranbringen, zumal die 50 Millionen Dosen wohl erst geliefert werden dürfen, wenn die EU-Bestellungen abgeschlossen sind.

Globale Impfstrategie

Auch wenn die Länder des globalen Südens bislang vergleichsweise weniger hohe Covid-19-Todeszahlen aufzuweisen haben, sind die Entwicklungen seit Ausbruch der zweiten Welle besorgniserregend. Der starke Anstieg von Todesfällen, das Auftauchen von Mutationen des Virus unter anderem in Südafrika und die Überlastung von Gesundheitssystemen, vor allem in Krisengebieten, verlangen ein schnelles Eingreifen durch Impfkampagnen. Ein Lösungsansatz ist dabei COVAX, der zentrale Mechanismus der WHO, Gavi (Vaccine Alliance) und der  Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), der die globale Impfstrategie realisieren soll und von der EU bislang zu einem Hauptanteil finanziert wurde. Das Ziel ist, bis Ende 2021 20% der Weltbevölkerung zu impfen. Während COVAX für 2021 noch hohe Finanzierungssummen fehlen, eine ausreichende Versorgung mit Impfstoffen wegen Produktionsengpässen nicht sichergestellt werden kann und eine 20%-ige Impfrate bei weitem nicht zur Herdenimmunität reicht, hat sich die EU hingegen bei einer Gesamtbevölkerung von 450 Millionen Menschen mindestens 2,3 Milliarden Impfdosen gesichert. 

COVAX kann ein wichtiger Mechanismus sein, um eine globale Verteilung des Impfstoffes zu garantieren, doch dafür dürfen ärmere Länder nicht auf das Wohlwollen reicherer Staaten angewiesen sein. Hersteller müssen COVAX die nötigen Mengen der Impfstoffe zusichern, während sich reichere Regionen wie die EU nicht mehr Dosen sichern sollten, als nötig. Außerdem muss eine ausreichende Finanzierung für COVAX umgehend sichergestellt werden.

Der Gamechanger: Aussetzung des Patentrechts und globale Verteilung

Der Vorschlag der WHO, initiiert von Indien und Südafrika, Patente im Rahmen des Agreement of Trade-Related Intellectual Property Rights (TRIPS) auf Impfstoffe gegen das Coronavirus temporär aufzuheben, blieb bisher erfolglos. Dabei wäre das in vielerlei Hinsicht eine wichtiger Schritt: Impfstoffe werden vermehrt in reicheren Staaten entwickelt. Wenn hier sowohl die Patente, als auch der Großteil der Impfdosen bestehen, so verschärft das globale Ungerechtigkeiten in Pandemiezeiten. Während sich bisher über 100 Staaten für den Vorschlag aussprachen, fehlte es bisher an Zustimmung durch unter anderem die EU, USA und Kanada. Selbst der Impfhersteller CureVac sprach sich kürzlich für die Aufhebung von Patenten aus, um die Krise global zu lösen. Das könnte helfen, globale Produktionskapazitäten zu erhöhen, um sichere und günstige Impfstoffe für alle zur Verfügung stellen zu können. Die Aussetzung von Patenten würde auch die Forschung in anderen Bereichen der Pandemiebekämpfung erleichtern, beispielsweise bei der Entwicklung von Medikamenten für Personen, die sich etwa wegen Vorerkrankungen nicht impfen lassen können. Hier muss das Europäische Parlament unbedingt Position beziehen.

Solange das Virus weiter grassiert und die Impfstoffproduktion gleichzeitig durch Patente künstlich verknappt und nur einem Teil der Welt zugänglich gemacht wird, solange werden wir der Pandemie hinterherlaufen: Wenn sich neue Mutationen schneller ausbreiten, als wir Impfstoffe dagegen produzieren können, droht ein Rennen, das wir nie gewinnen können. Deshalb müssen wir die globale Produktion und Verteilung von Impfstoffen jetzt mit aller Kraft hochfahren. 

Europäisches Parlament stimmt für meinen Bericht zu Grenzverfahren

Das Europäische Parlament hat mit einer breiten und fraktionsübergreifenden Mehrheit für meinen Bericht zu Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen gestimmt. Die Forderung ist, dass Grund- und Menschenrechte bei den Asylverfahren eingehalten werden und die Einhaltung überwacht wird.

Das Europäische Parlament zeigt damit Haltung angesichts zunehmender Einschränkungen von Grund- und Menschenrechten an den EU-Außengrenzen. Es ist ein großer Erfolg, dass eine breite fraktionsübergreifende Mehrheit einen Kompromiss gefunden hat und den Willen zeigt, auch bei schwierigen Themen gemeinsame Lösungen zu finden. Die breite Mehrheit fordert fraktionsübergreifend, dass Grund- und Menschenrechte bei den Asylverfahren eingehalten werden und die Einhaltung überwacht wird. Die Abgeordneten verurteilen illegale Pushbacks und sind besorgt über den großen Mangel an Informationen, Rechtsbeistand und Unterstützung für Schutzsuchende in Grenzverfahren und verwehrten Zugang zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Ich begrüße, dass die große Mehrheit der Abgeordneten unsere Forderung nach einer unabhängigen Beobachtung der Menschenrechtssituation an den Außengrenzen unterstützt. In allen untersuchten Mitgliedstaaten wurden Menschen in Grenzverfahren inhaftiert, obwohl Inhaftierungen aufgrund von Herkunft oder aufgrund der Asylantragstellung unzulässig sind. Wir fordern, Grund- und Menschenrechte wieder in das Zentrum des Asylsystems zu stellen.

Probleme bei den Grenzverfahren

Grenzverfahren bedeutet, dass EU-Mitgliedsstaaten die Asylanträge von Schutzsuchenden direkt an ihrer eigenen Grenze prüfen und diese dort auch erstmal festhalten. Konkret führt diese Praxis zu einer Situation wie auf den griechischen Inseln, wo Menschen teilweise jahrelang festsitzen, weil ihre Anträge einfach nicht geprüft werden. Aufgrund solcher Zustände sind die Grenzverfahren auch äußerst umstritten.

Im derzeit verbindlichen EU-Recht können die Mitgliedstaaten Grenzverfahren in einer begrenzten Anzahl von Fällen anwenden. Die Europäische Kommission hat in ihrem kürzlich veröffentlichten Vorschlag für einen neuen Pakt zu Asyl und Migration nun obligatorische Grenzverfahren vorgeschlagen. Die Kommission möchte Asylanträge an den EU-Außengrenzen als neuen Standard etablieren.  

Obwohl die EU-Kommission die Grenzverfahren ausweiten möchte, hat sie nie evaluiert, wie die Grenzverfahren aktuell umgesetzt werden. Die vom europäischen Parlament in Auftrag gegebene Untersuchung, welche die Faktengrundlage für diesen Bericht liefert, zeigt, dass die Grenzverfahren aktuell nicht dazu beitragen, Asylanträge ordentlich zu prüfen.

Ergebnisse des Berichts

Wenn ein Asylantrag an der Grenze oder in einer Transitzone gestellt wird, können die Mitgliedstaaten nach geltendem EU-Recht unter bestimmten Bedingungen den Antrag an diesem Orten prüfen. Die Untersuchung hat jedoch ergeben, dass der Begriff „Grenzverfahren“ im EU-Asylrecht nur unzureichend und ungenau definiert ist. Das führt zu einer unterschiedlichen Praxis in den untersuchten Mitgliedstaaten, jedoch treten überall ähnliche Probleme gegenüber den Antragsteller*innen bei der Prüfung von Schutzansprüchen im Grenzverfahren auf. Grenzverfahren sind insbesondere im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Grundrechte und Verfahrensgarantien bedenklich.

Nach EU-Recht muss Personen die Möglichkeit gegeben werden, an der Grenze einen Asylantrag zu stellen. An vielen EU-Außengrenzen gibt es jedoch Fälle, in denen Schutzsuchenden die Einreise verweigert oder sie zurückgeschoben werden, ohne dass ihr Antrag geprüft und Asylanträge registriert werden.

Bei ihrer Anwendung basieren die Grenzverfahren häufig auf der rechtlichen Fiktion der Nichteinreise. Dies hat schwerwiegende Folgen für Asylbewerber*innen, da sie häufig für die Dauer des Grenzverfahrens (de facto) in Gewahrsam genommen werden. Eine solche Inhaftierung erfolgt in einigen Fällen, ohne dass die Mitgliedstaaten den Aufenthalt im Grenzverfahren als Gewahrsam kategorisieren, so dass die in einem Grenzverfahren inhaftierten Asylbewerber*innen nicht einmal Zugang zu grundlegenden Verfahrensgarantien haben, während die Bedingungen an den Grenzen oft unzureichend sind.

Antragstellende sollten laut internationalem und EU-Recht das Recht haben, in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates einzureisen und nicht allein aus dem Grund in Gewahrsam genommen werden, dass sie einen Asylantrag stellen wollen. Wenn es zu einer Inhaftierung kommt, muss diese immer so kurz wie möglich sein und auf einer individuellen richterlichen Beurteilung hinsichtlich ihrer Notwendigkeit beruhen, wobei das Recht auf Berufung besteht.

Im Falle einer großen Anzahl von Ankünften, wie auf den griechischen Inseln, laufen diese Grenzverfahren auf unmenschliche Bedingungen hinaus, denen die Antragsteller*innen über einen langen Zeitraum ausgesetzt sind. 

Kein angemessener Schutz vulnerabler Personen

Besorgniserregend ist auch, dass die Mitgliedstaaten nicht über angemessene Mechanismen verfügen, um unbegleitete Minderjährige, Kinder und Personen mit besonderen Bedürfnissen zu identifizieren, um sie von dem Grenzverfahren auszunehmen. Untersuchungen zeigen, dass es in allen untersuchten Ländern an angemessenen und effektiven Mechanismen zur Identifizierung von Schutzbedürftigen mangelt. Dies kann  insbesondere auch für Kinder traumatisierend wirken und wirft ernste Fragen hinsichtlich der Einhaltung des Kindeswohls auf. Darüber hinaus werden in den Berichten erhebliche Probleme mit den Verfahrensgarantien in allen untersuchten Mitgliedstaaten beschrieben, die dem EU-Recht zuwiderlaufen.

Antragstellende müssen über ihr Recht, internationalen Schutz zu beantragen, und über die einzelnen Verfahrensschritte informiert werden, und es muss ihnen ein effektiver Zugang zu Organisationen und Personen gewährt werden, die sie unterstützen. Daran mangelt es in der Praxis, obwohl viele Mitgliedstaaten im nationalen Recht das Recht auf kostenlosen Rechtsbeistand und Zugang für die Zivilgesellschaft vorsehen. Kurze Fristen und (faktische) Inhaftierung verhindern oft einen effektiven Zugang zu Rechtsbeistand. Asylbewerber*innen sind nicht in der Lage, einen Anwalt zu kontaktieren, weil es an Kommunikationsmitteln mangelt, Anwält*innen nicht genügend Zeit zur Vorbereitung gegeben wird oder ein völliger Mangel an qualifizierten Anwält*innen besteht. Nichtregierungsorganisationen können die Lücke oft nicht füllen, weil sie nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu Einrichtungen an den Grenzen haben. Oft stehen keine Dolmetscher*innen zur Verfügung.

Dilemma der Grenzverfahren

Grenzverfahren sind durch das Dilemma gekennzeichnet, dass die Zeit für ein faires Verfahren nicht ausreicht und die Zeit durch das Festhalten der Antragsteller*innen so kurz wie möglich sein muss. Sie tragen daher nicht zu den Zielen der Asylverfahrensrichtlinie bei, die darauf abzielt, den Menschen in einem fairen und zügigen Verfahren internationalen Schutz zu gewähren. 

Daher sollten die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet werden, Grenzverfahren als Standardverfahren zur Prüfung von Asylanträgen anzuwenden, da sie einerseits kein faires Verfahren gewährleisten können und andererseits oft die Grundrechte der Antragsteller*innen verletzen, indem sie diese über lange Zeiträume festhalten. Ausnahmen, in denen das Grenzverfahren zur Prüfung von Asylanträgen angewandt werden kann, sollten in einer begrenzten Anzahl einfacher Fälle sein, z. B. wenn Antragsteller*innen bereits in einem anderen (Mitglied-)Staat internationaler Schutz gewährt wurde.

Brexit: Auswirkungen auf die Entwicklungszusammenarbeit

Mit Beginn dieses Jahres sind die Übergangsregelungen zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ausgelaufen. Der Brexit hat Auswirkungen auf unterschiedlichste Wirkungsfelder der Europäischen Union, die nach und nach sichtbar werden. Offensichtliche und unmittelbare Auswirkungen wie Visafreiheit oder Zölle, die momentan vor allem in Hinsicht auf die Umsatzeinbußen von britischen Fischern Schlagzeilen machen, aber auch solche, deren Ausmaße momentan noch schwer abseh- und einschätzbar sind. Dazu gehört auch das Thema Entwicklungszusammenarbeit.

Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich, das am 01. Januar 2021 vorläufig in Kraft getreten ist und noch der Zustimmung durch das Europäische Parlament bedarf, enthält keinerlei Verweise auf Entwicklungszusammenarbeit oder humanitäre Hilfe. Nur die nachhaltigen Entwicklungsziele werden am Rande erwähnt. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreich verringert sich nicht nur das gesamte EU-Budget, auch für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe stehen nun weniger Gelder zur Verfügung. Es kann dabei nicht davon ausgegangen werden, dass es in absehbarer Zeit eine engere Kooperation bei Entwicklungs- oder humanitären Maßnahmen geben wird. Der im Abkommen festgelegte allgemeine Rahmen für die Beteiligung des Vereinigten Königreichs an EU-Programmen räumt dem Land kein Mitspracherecht ein. Auch im kürzlich verhandelten neuen Instrument für Entwicklungskooperation und Nachbarschaftshilfe wurden keine konkreten Bestimmungen vorgesehen, die eine baldige Kooperation erleichtern würden.

Drastische Kürzungen in der Entwicklungszusammenarbeit

Die nationalistischen Tendenzen im Vereinigten Königreich – einer der Gründe für den Brexit – haben auch dazu geführt, dass die Johnson-Regierung kürzlich drastische Kürzungen beim Budget für Entwicklungszusammenarbeit von 0,7 % auf 0,5 % des Staatshaushalts angekündigt hat. 

Die Aufwendung von mindestens 0,7 % des Bruttonationaleinkommens ist dabei die Zielmarke der Vereinten Nationen. Zum Vergleich: In Deutschland lagen die Ausgaben im Jahr 2019 bei 0,6 %, der EU-Durchschnitt lag bei lediglich 0,46 %. Trotz dieser besorgniserregenden Entwicklung bleibt das Vereinigte Königreich ein wichtiger Akteur in Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe, auch wegen der hohen (Projekt-)Erfahrung. Darauf hat der Entwicklungsausschuss des Europaparlaments in der letzten Woche hingewiesen. Im Rahmen des Konsultationsverfahrens zur Ratifizierung des Handels-und Kooperationsabkommen wurde über den Entwicklungsausschuss ein kurzer Brief verfasst, adressiert an den gemeinsam zuständigen Handels- und Außenausschuss. Darin fordern wir, dass das Vereinigte Königreich dazu beitragen soll, die negativen Auswirkungen des Brexit auf Entwicklungsländer zu minimieren, und sein Engagement aufrechterhalten, bei der Entwicklungshilfe und der humanitären Hilfe an vorderster Front zu stehen. Wir hoffen ebenso auf eine enge Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich als Geber. Das schlließt die Möglichkeit mit ein, auf die Kapazitäten des jeweils anderen zurückzugreifen, um die Effizienz, die Wirksamkeit der Entwicklung und die Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung zu maximieren.

Hoffen auf gute Zusammenarbeit in der Zukunft

Inwiefern sich diese Hoffnungen erfüllen werden, ist momentan nicht abzusehen. Es bleibt wohl zu befürchten, dass es in der näheren Zukunft eher zu Dopplungen bei Maßnahmen auf der einen Seite und dem Wegfall von Hilfen auf der anderen Seite kommen wird, bevor mit einer erneuten konstruktiven Zusammenarbeit zu rechnen ist. Einen weiterführenden Kommentar zu möglichen Auswirkungen findet ihr hier. Wozu die Budgetkürzung im Vereinigten Königreich für Empfängerländer führen könnte, lest ihr hier.

Brexit: Auswirkungen auf Flucht und Migration

Mit dem Brexit wird die allgemeine Bewegungsfreiheit zwischen der EU und UK eingeschränkt, ohne dass bisher ein genaues Regelwerk dazu verabschiedet wurde. Seit dem 01.01.2021 unterliegen alle Grenzübertretungen den bestehenden Einwanderungsgesetzen der EU und Großbritanniens. Von letzteren wird es Visa für Kurzzeitaufenthalte geben, sowie Regelungen für die vorübergehende Freizügigkeit von natürlichen Personen zu Geschäftszwecken.

Arbeitsmigration und dienstliche Grenzübertritte

Ein neues, punktebasiertes Migrationssystem Großbritanniens regelt Einreisekriterien für Fach- und Grenzarbeiter:innen sowie Menschen ohne Staatsbürgerschaft, die schon lange in UK leben. Das neue Migrationssystem unterscheidet zwischen Facharbeiter:innen und Geringqualifizierten. Während erstere bestimmte Kriterien erfüllen müssen, gibt es keinerlei Visaerleichterungen für letztere. Deren Arbeit soll von nun an nur noch von britischen oder irischen Staatsbürger:innen ausgeübt werden können oder von Menschen, die bereits einen (pre-)settled Status genießen. 

Als settled gilt, wer bereits über 5 Jahre in UK gelebt hat. Betroffene erhalten eine uneingeschränkte Aufenthaltserlaubnis. Wer weniger als 5 Jahre im Vereinigten Königreich lebte, gilt als pre-settled und kann mit Erreichen der 5-Jahres-Marke den settled-Status beantragen. Anträge, um einen jeweiligen Status zu erhalten, müssen bis zum  30.06.21 beim  EU Settlement Scheme gestellt werden. 

EU-Bürger:innen nicht mehr bevorzugt

EU-Bürger:innen werden durch das neue System nicht mehr bevorzugt. Für alle Menschen ohne britischer Staatsangehörigkeit gelten von nun an die gleichen Regeln. Profitieren werden davon besonders Facharbeiter:innen außerhalb des europäischen Wirtschaftsraums. Im Vergleich zum vorherigen Tier 2 (General) Visum ist das neue Skilled Worker Visum einfacher zu bekommen, die Mindestqualifikation und das nötige Mindestgehalt wurden gesenkt, die jährliche Obergrenze für die Anzahl der Arbeitsvisa ausgesetzt sowie die Arbeitsmarktprüfung abgeschafft. Letztere verlangte die Bevorzugung von Arbeitenden aus dem europäischen Wirtschaftsraum gegenüber anderen selbst bei besserer Qualifikation. Von nun sollen alle Bewerbenden unabhängig ihrer Herkunft und ihres Einwanderungsstatus bei der Vergabe von Arbeitsplätzen gleichberechtigt werden. 

Seit dem 01.01.2021 gelten die EU und Großbritannien als jeweilige Drittstaaten, wobei die Situation von Grenzgänger:innen und EU-Bürger:innen, die schon länger in Großbritannien leben und andersherum durch das Withdrawal Agreement geschützt sind. Dieses garantiert EU-Bürger:innen, die sich rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufhalten und britischen Staatsbürger:innen, die sich am Ende der Übergangszeit rechtmäßig in einem der 27 EU-Mitgliedstaaten aufhalten, sowie ihren Familienmitgliedern weitgehend die gleichen Rechte, die sie vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hatten: Sie können weiterhin frei zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU leben, studieren, arbeiten und reisen. 

Grenzgänger:innen, die aus der EU, der Schweiz, Norwegen, Island oder Liechtenstein kommen, außerhalb Großbritanniens leben, bis zum 31.12.20 in Großbritannien arbeiteten und mindestens einmal jährlich in Großbritannien arbeiten, können online eine kostenlose Grenzarbeitserlaubnis (Frontier Worker Permit) beantragen.  Familienmitglieder werden hier nicht mit abgedeckt. 

Um offene Fragen zu Reise- und Arbeitsregelungen zu beantworten, hat die britische Regierung einen Brexit-Checker eingerichtet.

Die Situation für Geflüchtete

Das neue System bezieht sich jedoch nicht auf Schutzsuchende und klammert wichtige Fragen aus. Für Unsicherheit sorgt besonders das Ausscheiden Großbritanniens aus dem Dublin-System und das Fehlen eines Post-Dublin-Abkommens, da sich das Vereinigte Königreich weiterhin weigert, die bisherigen Punkte zu übernehmen. UK und Frankreich einigten sich bereits im November 2020 auf Maßnahmen, um unkontrollierte Überquerungen des Ärmelkanals zu verhindern. Falls es zu keinen Einigungen zwischen der EU und UK kommen sollte, werden weitere bilaterale Abkommen erwartet, insbesondere bezüglich Familienzusammenführungen und der Verhinderung illegalisierter Migration.

Das wird besonders für Asylsuchende und ihre Familien in der EU und in Großbritannien problematisch: Die aktuell herrschende Unklarheit wegen fehlender Abmachungen zwischen der EU und UK würde durch bilaterale Abkommen noch vergrößert. Auch wenn wir das Dublin-System und die damit einhergehende Verantwortung des Ersteinreiselandes ablehnen und stattdessen ein faires europäisches Asylsystem fordern: Ohne Dublin wäre ein Großteil der Familienzusammenführungen im Vereinigten Königreich unmöglich gewesen.  Laut Infomigrants sind diese ab jetzt nur noch möglich, wenn der Flüchtlingsstatus oder subsidiärer Schutz bereits gewährt wurde. Die Zusammenführung für unbegleitete Minderjährige sind nur noch mit ihren Eltern möglich. Um Großbritannien zu erreichen, bleibt für viele Schutzsuchende höchstwahrscheinlich kein anderer Weg als der über Menschenhändler und gefährliche Versuche, das Meer zu überqueren, wo bereits jetzt zahlreiche Menschen ertrinken. 

Parlament muss auf legale Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende drängen

Daher muss das Parlament darauf drängen, dass umgehend Abmachungen getroffen werden, die legale Möglichkeiten für Schutzsuchende und ihre Angehörigen bieten, Großbritannien zu erreichen. Offene Fragen zum Familiennachzug müssen umgehend und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Betroffenen beantwortet werden. Zusätzlich muss Klarheit zu noch offenen Dublin-Verfahren geschaffen werden. 

Außerdem muss die Situation von Schutzsuchenden in Großbritannien weiter verfolgt werden. Schon zuvor wurden Klagen über ineffiziente Asylverfahren im Vereinigten Königreich laut. Nun wird befürchtet, dass es zu weiteren Verzögerungen in den Verfahre  sowiezu Inhaftierungen und Ablehnungen der Anträge von Asylsuchenden in UK kommen wird. Ziel der Regierung ist es, durch Abschreckungen Migration nach Großbritannien zu verhindern: So soll der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Arbeit und sogar Unterkünften begrenzt werden. Der Integration von Schutzsuchenden wird keine Bedeutung zugemessen, um ‚freiwillige Rückkehr‘ zu befördern. Hierbei setzt die Regierung auf die Implementierung eines eigenen, von der EU weitgehend unabhängigen Programms. Statt faire Einreisebedingungen für Schutzsuchende zu gestalten, liegt der Fokus auf der fachlichen Spezialisierung der Menschen und ihrem Nutzen für den britischen Arbeitsmarkt. Eine zunehmende Verletzbarkeit von Betroffenen und die Missachtung fundamentaler Menschenrechte wird befürchtet.

Wie es dazu kam, dass Tausende Schutzsuchende in Bosnien frieren müssen

In Lipa befinden sich derzeit hunderte Schutzsuchende und frieren. Die bosnischen Streitkräfte haben in den vergangenen Tagen wenigstens ein paar Winterzelte aufgestellt, die aber bei weitem nicht für alle Menschen ausreichen. Es soll noch mindestens drei Monate dauern, bis das Lager fertig ist. So wie es derzeit aussieht, werden die Menschen bis dahin frieren. 

Die EU-Kommission ermahnt Bosnien-Herzegowina, schweigt aber zu den illegalen Pushbacks des EU-Staates Kroatiens, wegen derer überhaupt so viele Menschen in Bosnien festsitzen. Es ist schon einigermaßen scheinheilig, wenn die EU-Kommission Bosnien-Herzegowina auf europäische Werte aufmerksam macht, während die Lage auf den griechischen Inseln nicht besser aussieht und die Menschen aufgrund der Abschottungspolitik der EU in Bosnien festsitzen müssen.

Ich habe hier eine Übersicht über die aktuelle Lage in Bosnien verfasst: 

Als 2015 und 2016 hunderttausende Menschen über die Balkanroute kamen, war Bosnien-Herzegowina davon wenig betroffen. Die meisten Schutzsuchenden kamen zunächst über Nordmazedonien und Serbien nach Ungarn. Erst durch die Errichtung von Zäunen und rechtswidriger Abschottungspraxis in Südosteuropa wurde Bosnien-Herzegowina ab 2017 als Transitland in Richtung West- und Mitteleuropa relevant.

Bis heute hat es Bosnien-Herzegowina nicht geschafft, eine menschenwürdige Unterbringung für die derzeit rund 7000 Geflüchteten zu schaffen, die sich derzeit im Land befinden. Fast alle befinden sich im Transit, kaum jemand von ihnen möchte in Bosnien-Herzegowina bleiben. Die Hauptherkunftsländer der Menschen sind Pakistan und Afghanistan.

Im regional und ethnisch zerstrittenen politischen Umfeld Bosnien-Herzegowinas kam es aufgrund der Unterbringung der Menschen zu Konflikten zwischen verschiedenen Landesteilen und Kantonen. Die serbisch-bosnisch dominierte Teilentität Republika Srpska umfasst 49 Prozent der Staatsgebiets und lehnt eine Unterbringung von Schutzsuchenden kategorisch ab. Der andere Landesteil, die Föderation, ist auf 10 Kantone unterteilt, in denen meist Bosniak*innen oder bosnische Kroat*innen die Mehrheit stellen. Auch die Kantone weigern sich, Geflüchtete aufzunehmen. Der Konflikt führte letztlich dazu, dass die meisten Schutzsuchenden in der Stadt Bihać und Umgebung im Kanton Una-Sana landeten.

Bosnischer Grenzkanton verweigert Aufnahme von Geflüchteten in fertigem Camp

Der Kanton Una-Sana und die lokalen Behörden sind jedoch nicht bereit, weitere Menschen aufzunehmen. In Bihać befindet sich das Lager Bira, in dem bis zum September 2020 bis zu 1500 Menschen untergebracht werden konnten. Doch die Stadt ließ das Lager schließen und weigert sich seither, weitere Plätze bereit zu stellen. In der Bevölkerung und der Stadtverwaltung hat sich die Meinung durchgesetzt, dass Bihać nach über drei Jahren genug getan habe und nun auch andere Städte, Kantone und Landesteile an der Reihe seien. Hier kommt es immer wieder auch zu Übergriffen von rechten Gruppen auf freiwillige Helfer*innen und die Polizei geht regelmäßig mit äußerster Brutalität gegen Geflüchtete vor.

Weitere Lager in Bosnien-Herzegowina sind Borići (Kapazität 580) und Sedra (430) bei Bihać und Ušivak (800) bei Sarajevo, in denen Familien und unbegleitete Minderjährige untergebracht sind. In Blažuj (2400) bei Sarajevo und Miral (700) bei Bihac sind hauptsächlich alleinstehende Männer untergebracht. Die Lage in den von der Internationalen Organisation für Migration (kurz IOM) betriebenen Camps ist oft mangelhaft. Von sinnvollen Maßnahmen gegen eine Ausbreitung von Corona kann keine Rede sein. Es werden aber zumindest gewisse Grundstandards erfüllt.

Bereits im vergangenen Winter kam es zu einem eskalierenden Streit zwischen der Stadt Bihać und der Zentralverwaltung in Sarajevo. Damals wurden hunderte Menschen auf der ehemaligen Mülldeponie Vučjak bei Bihać abgeladen und drohten dort im Winter zu erfrieren. Damals konnte noch abgewendet werden, dass die Menschen den Winter in diesen absolut unwürdigen Zuständen verbringen müssen. Am 10. Dezember 2019 wurden die meisten von ihnen in eine ehemalige Kaserne in der Nähe von Sarajevo gebracht.

Inakzeptable Lage in Lipa

In diesem Winter gelang das nicht mehr. Die aktuelle Katastrophe in Lipa war absehbar. Bei Lipa handelt es sich um einen Ort 25 Kilometer südlich von Bihać, der seit dem Bosnienkrieg unbewohnt und nur über Feldwege zu erreichen ist. Es gibt weder Strom, fließendes Wasser noch Heizungen, obwohl der Ort auf rund 750 Metern liegt und im Winter sehr kalt werden kann.

Das Lager Lipa wurde am 21. April behelfsmäßig eingerichtet und war als Notlösung gedacht, um bis zu 1000 Menschen während der Coronapandemie unterzubringen. Es sollte eigentlich gar nicht nach dem Herbst weiterbetrieben werden. Der bosnische Ministerrat beschloss am 21. Dezember, dass die Menschen zunächst von Lipa nach Bira in Bihac zurückgebracht werden, bis in Lipa ein Lager für bis zu 1500 Personen errichtet wird. Die IOM beschloss am 23.12., Lipa zu schließen, weil es nicht winterfest sei. Der Kanton Una-Sana lehnte es allerdings ab, Menschen in den Städten unterzubringen und Bira steht weiterhin leer.

Am 23.12. brannte dann ein großer Teil des Lagers Lipa ab und die meisten Menschen mussten in einem großen Sommerzelt zusammengepfercht schlafen und ein offenes Feuer errichten, um nicht zu erfrieren. Verschiedene Medien berichteten, dass Bewohner das Feuer selbst gelegt hätten. Die örtliche Polizei sagt aber, dass sie zwar in dieser Richtung ermitteln, aber dafür noch keine Indizien haben. Aktuell weiß man nicht, wer das Feuer gelegt hat.

Rechte Proteste gegen Aufnahme

Am 29.12. wurden rund 700 Menschen aus Lipa mit Bussen abgeholt, um sie in eine Kaserne nach Bradina, auf halben Wege zwischen Sarajevo und Mostar, zu bringen. Dort kam es allerdings zu Protesten der Bevölkerung, weswegen die zwanzig Busse zurück fuhren und die Schutzsuchenden wieder nach Lipa brachten.

Der Ministerrat beschloss am 31. Dezember, dass Bihac und der Kanton Una-Sana das Lager Bira wieder öffnen sollen, was wiederum zu Protesten von hunderten Menschen in Bihac führte, welche die Straße zum Camp blockierten und von denen manche drohten, das Lager anzuzünden, wenn wieder Geflüchtete dorthin gebracht würden.

So wurden die Schutzsuchenden wieder nach Lipa gebracht. Bei Eiseskälte schliefen sie in selbstgebauten Plastikverschlägen und dünnen Zelten auf dem nackten Boden. Der Leiter der Ausländerbehörde Bosnien-Herzegowinas meint nun, es dauere vier Monate, um Lipa zu einem festen Camp mit Strom und Wasser auszubauen. Inzwischen haben die bosnischen Streitkräfte mir Geld aus dem bosnischen Haushalt ein paar beheizbare Armeezelte aufgestellt, in die passen aber auch nicht alle gleichzeitig rein.

Doppelmoral der EU-Kommission

Die EU-Kommission fordert von Bosnien, Geflüchtete menschenwürdig zu behandeln. Das ist zwar richtig, aber an Doppelmoral schwer zu überbieten: Wer aus den lebensgefährlichen Bedingungen in Bosnien flieht, wird von EU-Mitglied Kroatien misshandelt und abgewiesen. Frontex schaut dabei mit Beamten der anderen Mitgliedstaaten zu. Die EU-Kommission hat trotzdem – oder gerade deswegen – den Schengen-Beitritt Kroatiens auf den Weg gebracht und bislang sowohl Vertragsverletzungsverfahren als auch öffentliche Kritik vermieden.

Die EU-Kommission weigert sich, die Realität anzuerkennen und hat auch auf mehrfache Nachfragen nicht einräumen wollen, dass an der kroatischen EU-Außengrenze systematisch europäisches Recht und grundlegende Menschenrechte gebrochen werden. Die Kommission zieht es also vor, die Wahrheit zu leugnen und den täglichen Rechtsverstoß zu tolerieren, als Menschen Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren in der EU zu gewährleisten.

Zudem hat die EU hat Kroatien Geld zur Verfügung gestellt, um einen Monitoringmechanismus an der Grenze zu etablieren, doch diese Gelder wurden nicht zweckgebunden eingesetzt. Mitarbeiter der Kommission versuchten sogar, dies vor dem Parlament zu verheimlichen, wie Recherchen des Guardian nahelegen. Die deutsche Bundesregierung hält der systematische Rechtsbruch nicht davon ab, weiterhin Material an die kroatische Grenzpolizei zu verschenken.

Die EU hat in den vergangenen Jahren insgesamt mehr als 85 Millionen Euro nach Sarajevo überwiesen, um Geflüchtete zu versorgen. Der Großteil des Geldes ging an die IOM. Nach dem Brand in Lipa sollen weitere 3, 5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden.

Auch dieses Geld wird das Problem nicht nachhaltig lösen. Es handelt sich um ein politisches Problem. Bosnien-Herzegowina will die Menschen nicht menschenwürdig unterbringen. Kroatien betreibt eine brutale und illegale Abschottungspolitik, die zu Misshandlung von Geflüchteten führt und wegen der sie überhaupt erst in Bosnien festsitzen. Die EU-Kommission wiederum weigert sich, diese Realität auch nur anzuerkennen. Das ist alles auch eine Politik der Abschreckung. Deswegen sitzen derzeit Menschen in Bosnien fest und frieren. 

Die Lage der Schutzsuchenden in Bosnien erwächst also auch aus dem Handeln der EU, an deren Grenzen Pushbacks durchgeführt werden und die diese Situation zumindest toleriert. Somit trägt die EU eine Mitverantwortung für die Missstände in Bosnien-Herzegowina. 

Die Strategie der deutschen Ratspräsidentschaft ist gescheitert

Pressemitteilung zum EU-Innenministertreffen zu Asyl
am 14.12. 2020

Bei der heutigen EU-Innenministerkonferenz beraten die europäischen Innenminister*innen unter anderem über den Vorschlag zum europäischen Migrations- und Asylpakt.

Mein Kommentar dazu:

“Die Strategie der deutschen Ratspräsidentschaft ist gescheitert. Sie wollte eine europäische Lösung erzwingen, indem sie forderte das Leid an den Außengrenzen nur im europäischen Konsens zu beseitigen. Nun haben wir weiter Leid, Chaos und Gewalt gegen Schutzsuchende, aber immer noch keine Lösung. Wenn man irgendwann die Ziellinie erreichen will, darf man nicht immer auf die warten, die sich am Startpunkt anketten. Besonders, wenn man schon über 5 Jahre wartet.

Alles, was Horst Seehofer in der EU-Asylpolitik vorzuweisen hat, ist ein Fortschrittsbericht ohne Fortschritte. Die Mitgliedstaaten sind sich in zentralen Punkten weiterhin uneinig. Die deutsche Ratspräsidentschaft ist einem gemeinsamen europäischen Asylsystem keinen Schritt nähergekommen. Stattdessen steht uns ein weiterer Winter mit unbeheizten Zelten und illegaler Gewalt der Behörden gegen Schutzsuchende bevor. Um diese unwürdigen Zustände zu beenden, braucht es keinen neuen Pakt, sondern die Durchsetzung von EU-Recht. Es braucht Mitgliedstaaten, die vorangehen und zeigen, dass wir Schutzsuchende in Europa nicht erfrieren lassen oder niederschlagen, weil wir in warmen Büros noch keinen Konsens gefunden haben.”

DE