Darum ist es so schwierig zu klagen, wenn Menschenrechte verletzt werden

Oft wird mir die Frage gestellt, warum Menschen auf der Flucht nicht einfach vor einem Gericht klagen, wenn ihre elementaren Menschenrechte von EU-Staaten oder Frontex verletzt werden. Diese Frage ist sehr berechtigt, aber nicht leicht zu beantworten. In diesem Text werde ich einige Eckpunkte aufgreifen, die es für Menschen auf der Flucht so schwierig machen, ihre Rechte einzufordern. 

Menschenrechte sind Rechte, die der Staat jedem Individuum auf seinem Staatsgebiet oder unter seiner Gerichtsbarkeit garantiert. Die Zuständigkeit der jeweiligen Gerichtsbarkeit ist immer gegeben, wenn staatliche Akteure wie Polizei, Grenzschutz oder Armee in Ausübung ihrer Verpflichtungen auf Menschen treffen. Staatliche Verantwortung ist dagegen schwieriger zu beweisen und geltend zu machen, wenn EU-Akteure wie Frontex oder die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (EBCGA) handeln.

Beweispflicht liegt bei den Klagenden 

Wer eine Verletzung seiner Menschenrechte behauptet, muss zunächst seine eigene Betroffenheit beweisen. Im Fall von Pushbacks ist es aufgrund der Art dieser Handlungen schwierig, die eigene Anwesenheit am Ort des Geschehens zu beweisen, denn Zeugen, die nicht gleichzeitig auch Täter oder Opfer sind, gibt es in der Regel nicht. Flüchtende, die sich auf einem Boot auf hoher See befinden und zurückgedrängt werden, haben im Nachhinein oft keine Möglichkeit, Beweise für ihre Anwesenheit auf dem Boot zu erbringen, weil z.B. Handys der Menschen eingesammelt oder zerstört oder zumindest Handyvideos gelöscht werden. Ohne Beweise ist es unwahrscheinlich, dass ein individueller Fall, der sich darauf beruft rechtswidrig „kollektiv ausgewiesen“ oder „zurückgeschoben“ worden zu sein, Erfolg hat.

Mangelnder Zugang zu Gerichten 

Der Zugang zu Gerichten ist eine weitere frühe Hürde auf dem Klageweg. Wenn sich eine Person auf dem Staatsgebiet des Staates befindet, dem diese Person auch die Rechtsverletzung vorwirft, kann die betroffene Person solche Verstöße vor dem nationalen Gericht der ersten/untersten Instanz geltend machen. Die Rechtsordnung der EU ermöglicht es Individuen, einen Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu führen, sobald alle nationalen Rechtsmittel in dem betreffenden Land ausgeschöpft sind, d. h. alle Instanzen des nationalen Rechtssystems. Wenn also eine Person vom Grenzschutz eines dem EGMR unterworfenen Staates auf See, auf territorialem oder extraterritorialem Gebiet angetroffen wird, gelten die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergebenden Rechte und Pflichten. Solche Klagen sind aber faktisch nur dann zu führen, wenn die betroffene Person sich in dem rechtsverletzenden Staat befindet. Dies ist bei Pushbacks nie der Fall oder zumindest erst wenn ein Versuch der Überwindung der Grenze geklappt hat.

Alle EU-Mitgliedsstaaten und auch die assoziierten Staaten sind Vertragsparteien der EMRK. Als solche können sie vor dem EGMR verklagt werden. 

Flüchtende können nicht einfach gegen Frontex klagen

Etwas komplexer werden die Dinge, wenn z.B. Frontex die Behörde ist, die potentiell die Rechtsverletzung begangen hat. Denn als EU-Agentur kann eine Klage gegen sie nicht vor dem EGMR sondern nur vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), verhandelt werden. Der EuGH wiederum verhandelt keine Individualrechtsbeschwerden sondern Organstreitverfahren. Also z.B. EU-Mitgliedstaat gegen Frontex als EU-Behörde. Es ist für die Personen, deren Rechte durch den illegalen Pushback verletzt werden, außerdem nicht ganz einfach zu erkennen, wer eigentlich im konkreten Fall unter der EU-Flagge gerade rechtswidrig handelt. Das Kommando der Operation kann bei einem EU-Mitgliedstaat, einem Drittland mit einem Statusabkommen mit der EBCGA oder bei Frontex selbst liegen.

Die EU und die einzelnen Mitgliedstaaten an die EMRK und die Grundrechtecharta sowie das EU-Recht, also Verordnungen und Richtlinien gebunden. Fälle, die vor dem EuGH verhandelt werden, müssen von den Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission, der so genannten Hüterin der Verträge und Exekutive der EU, dem EuGH vorgelegt werden. Der EuGH kann nicht selbst auf Grundlage eigener Ermittlungen tätig werden. Da die EU-Mitgliedstaaten aktuell kein großes Interesse daran haben, dass das europäische Grenzregime permanent vom EuGH kritisiert wird, finden Vorlagen an den EuGH auf Grundlage eigener staatlicher Ermittlungen gegen Frontex nicht statt. Im Falle von Kroatien oder Griechenland geben die Regierungen ja noch nicht einmal zu, dass systematische oder auch nur einzelne Pushbacks überhaupt stattfinden.

Damit ein möglicher Pushback von Frontex gegen Einzelpersonen, die sich auf einem Boot in Richtung EU-Territorium befinden, in Luxemburg – dem Sitz des EuGH – verhandelt werden kann, muss also zunächst die betroffene Person ihre Anwesenheit auf dem fraglichen Boot nachweisen können. Zweitens muss geklärt werden, auf welchem Hoheitsgebiet der Pushback stattgefunden hat (in der Regel nicht das größte Problem) und drittens muss dieser Staat den Fall an den EuGH weiterleiten. 

Unklarheit darüber, wer eigentlich verantwortlich ist 

Fand der Pushback auf hoher See statt, also nicht im Hoheitsgewässer eines Staates, dann muss zusätzlich geklärt werden, auf welcher Grundlage Frontex zum Grenzschutz dort aktiv war. Frontex kann nicht ohne Absprache mit dem EU-Mitgliedstaat, dessen Grenzen es sichert, aktiv sein, ein Verfahren vor dem EuGH muss dann der Mitgliedstaat einleiten, für den Frontex hier aktiv war.

Es gibt die Möglichkeit, dass die betroffene Person die Beschwerde bei Frontex selbst einreicht. Aber auch hier müssen die oben geschilderten Nachweise zum Standort, zur Zuständigkeit der Agentur usw. erbracht werden. Außerdem ist Frontex bei der Bearbeitung von Beschwerden mindestens ineffektiv.

Unabhängig von den oben beschriebenen Möglichkeiten und Schwierigkeiten ist es noch sehr viel komplizierter eine Klage nach einem Pushback von einem Drittland aus einzureichen.

Lange und wenig realistische Klagewege 

Es gibt Richtlinien und Verordnungen, die die EU-Mitgliedstaaten auch in der Asylpolitik an bestimmte hohe Standards binden. Wenn Regeln, wie z.B. die Aufnahmebedingungen, von den EU-Mitgliedstaaten verletzt werden, leitet entweder die Europäische Kommission ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren gegen das Land ein, um sicherzustellen, dass das EU-Recht ordnungsgemäß umgesetzt wird, oder eine Person, die unter den schrecklichen Bedingungen leidet, kann ein Verfahren wegen des durch die Bedingungen verursachten Leids gegen das entsprechende Land einleiten. Sie muss aber auch hier wieder den Instanzenzug durchlaufen, müsste also in Deutschland bei dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht klagen, bei einer Klageabweisung dann weiter vor das zuständige Oberverwaltungsgericht, dann vor das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesverfassungsgericht. Erst danach kann der EGMR angerufen werden, der den Fall aus der Menschenrechtsperspektive betrachtet und prüft, ob ein Land bestimmte EMRK-Rechte der klagenden Person verletzt..

In einem solchen individuellen Verfahren könnten die unmenschlichen, erniedrigenden Bedingungen vor Ort angegriffen werden, denen Kläger*innen z. B. in einem Aufnahmezentrum ausgesetzt sind. Obwohl der EuGH Urteile des EGMR als Präzedenzfälle berücksichtigt, ist die EU nicht Vertragspartei der EMRK, so dass Menschenrechtsverletzungen durch EU-Akteure nicht vom EGMR verhandelt werden können.

Warum auch Dritte kaum eine Chance haben erfolgreich zu klagen

Wenn es um Dritte geht, die von einer Menschenrechtsverletzung wissen, ist ihre Chance als Menschenrechtsverteidiger:innen, zivilgesellschaftliche Organisationen oder interessierte Einzelpersonen, im Namen des Opfers zu klagen, ebenfalls sehr gering. In erster Linie haben die Mitgliedstaaten oder die Europäische Kommission Zugang zum Gerichtshof der EU, während der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erst zugänglich ist, wenn alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Der Zugang für Dritte, die nicht der gewählte gesetzliche Vertreter der Personen sind, die Menschenrechtsverletzungen geltend machen, ist ohne die aktive Beteiligung der betroffenen Person nicht zulässig.

Trotz offensichtlicher Rechtsverstöße haben die Betroffenen kaum eine Chance zu klagen

In der Realität führen diese komplexen rechtlichen Konstruktionen dazu, dass Menschen auf der Flucht kaum eine Chance haben die Verantwortlichen anzuklagen, wenn ihre elementaren Menschenrechte verletzt worden sind. Gerade weil die Flüchtenden nicht Staatsbürger:innen eines EU-Staates sind und ihre Grundrechte auch nicht von ihren Herkunftsstaaten geschützt werden, weswegen die meisten ja überhaupt erst fliehen müssen, sind sie Pushbacks, Gewalt und unwürdiger Behandlung meist schutzlos ausgeliefert. Die in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten Grundrechte der Vereinten Nationen gelten für diese Menschen in der Realität nicht. Ihre Würde wird tagtäglich angetastet und doch haben sie kaum eine Möglichkeit, sich juristisch dagegen zu wehren. 

Foto: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte © BY-SA 3.0, CherryX