Wie es dazu kam, dass Tausende Schutzsuchende in Bosnien frieren müssen

In Lipa befinden sich derzeit hunderte Schutzsuchende und frieren. Die bosnischen Streitkräfte haben in den vergangenen Tagen wenigstens ein paar Winterzelte aufgestellt, die aber bei weitem nicht für alle Menschen ausreichen. Es soll noch mindestens drei Monate dauern, bis das Lager fertig ist. So wie es derzeit aussieht, werden die Menschen bis dahin frieren. 

Die EU-Kommission ermahnt Bosnien-Herzegowina, schweigt aber zu den illegalen Pushbacks des EU-Staates Kroatiens, wegen derer überhaupt so viele Menschen in Bosnien festsitzen. Es ist schon einigermaßen scheinheilig, wenn die EU-Kommission Bosnien-Herzegowina auf europäische Werte aufmerksam macht, während die Lage auf den griechischen Inseln nicht besser aussieht und die Menschen aufgrund der Abschottungspolitik der EU in Bosnien festsitzen müssen.

Ich habe hier eine Übersicht über die aktuelle Lage in Bosnien verfasst: 

Als 2015 und 2016 hunderttausende Menschen über die Balkanroute kamen, war Bosnien-Herzegowina davon wenig betroffen. Die meisten Schutzsuchenden kamen zunächst über Nordmazedonien und Serbien nach Ungarn. Erst durch die Errichtung von Zäunen und rechtswidriger Abschottungspraxis in Südosteuropa wurde Bosnien-Herzegowina ab 2017 als Transitland in Richtung West- und Mitteleuropa relevant.

Bis heute hat es Bosnien-Herzegowina nicht geschafft, eine menschenwürdige Unterbringung für die derzeit rund 7000 Geflüchteten zu schaffen, die sich derzeit im Land befinden. Fast alle befinden sich im Transit, kaum jemand von ihnen möchte in Bosnien-Herzegowina bleiben. Die Hauptherkunftsländer der Menschen sind Pakistan und Afghanistan.

Im regional und ethnisch zerstrittenen politischen Umfeld Bosnien-Herzegowinas kam es aufgrund der Unterbringung der Menschen zu Konflikten zwischen verschiedenen Landesteilen und Kantonen. Die serbisch-bosnisch dominierte Teilentität Republika Srpska umfasst 49 Prozent der Staatsgebiets und lehnt eine Unterbringung von Schutzsuchenden kategorisch ab. Der andere Landesteil, die Föderation, ist auf 10 Kantone unterteilt, in denen meist Bosniak*innen oder bosnische Kroat*innen die Mehrheit stellen. Auch die Kantone weigern sich, Geflüchtete aufzunehmen. Der Konflikt führte letztlich dazu, dass die meisten Schutzsuchenden in der Stadt Bihać und Umgebung im Kanton Una-Sana landeten.

Bosnischer Grenzkanton verweigert Aufnahme von Geflüchteten in fertigem Camp

Der Kanton Una-Sana und die lokalen Behörden sind jedoch nicht bereit, weitere Menschen aufzunehmen. In Bihać befindet sich das Lager Bira, in dem bis zum September 2020 bis zu 1500 Menschen untergebracht werden konnten. Doch die Stadt ließ das Lager schließen und weigert sich seither, weitere Plätze bereit zu stellen. In der Bevölkerung und der Stadtverwaltung hat sich die Meinung durchgesetzt, dass Bihać nach über drei Jahren genug getan habe und nun auch andere Städte, Kantone und Landesteile an der Reihe seien. Hier kommt es immer wieder auch zu Übergriffen von rechten Gruppen auf freiwillige Helfer*innen und die Polizei geht regelmäßig mit äußerster Brutalität gegen Geflüchtete vor.

Weitere Lager in Bosnien-Herzegowina sind Borići (Kapazität 580) und Sedra (430) bei Bihać und Ušivak (800) bei Sarajevo, in denen Familien und unbegleitete Minderjährige untergebracht sind. In Blažuj (2400) bei Sarajevo und Miral (700) bei Bihac sind hauptsächlich alleinstehende Männer untergebracht. Die Lage in den von der Internationalen Organisation für Migration (kurz IOM) betriebenen Camps ist oft mangelhaft. Von sinnvollen Maßnahmen gegen eine Ausbreitung von Corona kann keine Rede sein. Es werden aber zumindest gewisse Grundstandards erfüllt.

Bereits im vergangenen Winter kam es zu einem eskalierenden Streit zwischen der Stadt Bihać und der Zentralverwaltung in Sarajevo. Damals wurden hunderte Menschen auf der ehemaligen Mülldeponie Vučjak bei Bihać abgeladen und drohten dort im Winter zu erfrieren. Damals konnte noch abgewendet werden, dass die Menschen den Winter in diesen absolut unwürdigen Zuständen verbringen müssen. Am 10. Dezember 2019 wurden die meisten von ihnen in eine ehemalige Kaserne in der Nähe von Sarajevo gebracht.

Inakzeptable Lage in Lipa

In diesem Winter gelang das nicht mehr. Die aktuelle Katastrophe in Lipa war absehbar. Bei Lipa handelt es sich um einen Ort 25 Kilometer südlich von Bihać, der seit dem Bosnienkrieg unbewohnt und nur über Feldwege zu erreichen ist. Es gibt weder Strom, fließendes Wasser noch Heizungen, obwohl der Ort auf rund 750 Metern liegt und im Winter sehr kalt werden kann.

Das Lager Lipa wurde am 21. April behelfsmäßig eingerichtet und war als Notlösung gedacht, um bis zu 1000 Menschen während der Coronapandemie unterzubringen. Es sollte eigentlich gar nicht nach dem Herbst weiterbetrieben werden. Der bosnische Ministerrat beschloss am 21. Dezember, dass die Menschen zunächst von Lipa nach Bira in Bihac zurückgebracht werden, bis in Lipa ein Lager für bis zu 1500 Personen errichtet wird. Die IOM beschloss am 23.12., Lipa zu schließen, weil es nicht winterfest sei. Der Kanton Una-Sana lehnte es allerdings ab, Menschen in den Städten unterzubringen und Bira steht weiterhin leer.

Am 23.12. brannte dann ein großer Teil des Lagers Lipa ab und die meisten Menschen mussten in einem großen Sommerzelt zusammengepfercht schlafen und ein offenes Feuer errichten, um nicht zu erfrieren. Verschiedene Medien berichteten, dass Bewohner das Feuer selbst gelegt hätten. Die örtliche Polizei sagt aber, dass sie zwar in dieser Richtung ermitteln, aber dafür noch keine Indizien haben. Aktuell weiß man nicht, wer das Feuer gelegt hat.

Rechte Proteste gegen Aufnahme

Am 29.12. wurden rund 700 Menschen aus Lipa mit Bussen abgeholt, um sie in eine Kaserne nach Bradina, auf halben Wege zwischen Sarajevo und Mostar, zu bringen. Dort kam es allerdings zu Protesten der Bevölkerung, weswegen die zwanzig Busse zurück fuhren und die Schutzsuchenden wieder nach Lipa brachten.

Der Ministerrat beschloss am 31. Dezember, dass Bihac und der Kanton Una-Sana das Lager Bira wieder öffnen sollen, was wiederum zu Protesten von hunderten Menschen in Bihac führte, welche die Straße zum Camp blockierten und von denen manche drohten, das Lager anzuzünden, wenn wieder Geflüchtete dorthin gebracht würden.

So wurden die Schutzsuchenden wieder nach Lipa gebracht. Bei Eiseskälte schliefen sie in selbstgebauten Plastikverschlägen und dünnen Zelten auf dem nackten Boden. Der Leiter der Ausländerbehörde Bosnien-Herzegowinas meint nun, es dauere vier Monate, um Lipa zu einem festen Camp mit Strom und Wasser auszubauen. Inzwischen haben die bosnischen Streitkräfte mir Geld aus dem bosnischen Haushalt ein paar beheizbare Armeezelte aufgestellt, in die passen aber auch nicht alle gleichzeitig rein.

Doppelmoral der EU-Kommission

Die EU-Kommission fordert von Bosnien, Geflüchtete menschenwürdig zu behandeln. Das ist zwar richtig, aber an Doppelmoral schwer zu überbieten: Wer aus den lebensgefährlichen Bedingungen in Bosnien flieht, wird von EU-Mitglied Kroatien misshandelt und abgewiesen. Frontex schaut dabei mit Beamten der anderen Mitgliedstaaten zu. Die EU-Kommission hat trotzdem – oder gerade deswegen – den Schengen-Beitritt Kroatiens auf den Weg gebracht und bislang sowohl Vertragsverletzungsverfahren als auch öffentliche Kritik vermieden.

Die EU-Kommission weigert sich, die Realität anzuerkennen und hat auch auf mehrfache Nachfragen nicht einräumen wollen, dass an der kroatischen EU-Außengrenze systematisch europäisches Recht und grundlegende Menschenrechte gebrochen werden. Die Kommission zieht es also vor, die Wahrheit zu leugnen und den täglichen Rechtsverstoß zu tolerieren, als Menschen Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren in der EU zu gewährleisten.

Zudem hat die EU hat Kroatien Geld zur Verfügung gestellt, um einen Monitoringmechanismus an der Grenze zu etablieren, doch diese Gelder wurden nicht zweckgebunden eingesetzt. Mitarbeiter der Kommission versuchten sogar, dies vor dem Parlament zu verheimlichen, wie Recherchen des Guardian nahelegen. Die deutsche Bundesregierung hält der systematische Rechtsbruch nicht davon ab, weiterhin Material an die kroatische Grenzpolizei zu verschenken.

Die EU hat in den vergangenen Jahren insgesamt mehr als 85 Millionen Euro nach Sarajevo überwiesen, um Geflüchtete zu versorgen. Der Großteil des Geldes ging an die IOM. Nach dem Brand in Lipa sollen weitere 3, 5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden.

Auch dieses Geld wird das Problem nicht nachhaltig lösen. Es handelt sich um ein politisches Problem. Bosnien-Herzegowina will die Menschen nicht menschenwürdig unterbringen. Kroatien betreibt eine brutale und illegale Abschottungspolitik, die zu Misshandlung von Geflüchteten führt und wegen der sie überhaupt erst in Bosnien festsitzen. Die EU-Kommission wiederum weigert sich, diese Realität auch nur anzuerkennen. Das ist alles auch eine Politik der Abschreckung. Deswegen sitzen derzeit Menschen in Bosnien fest und frieren. 

Die Lage der Schutzsuchenden in Bosnien erwächst also auch aus dem Handeln der EU, an deren Grenzen Pushbacks durchgeführt werden und die diese Situation zumindest toleriert. Somit trägt die EU eine Mitverantwortung für die Missstände in Bosnien-Herzegowina.