Anfrage: Errichtung von Mauern um griechische Flüchtlingslager

Die griechische Regierung lässt immer mehr Mauern um die Massenlager herum errichten. Dadurch werden die Geflüchteten von der örtlichen Bevölkerung getrennt und die Camps ähneln immer mehr Gefängnissen. Deswegen habe ich gemeinsam mit anderen Abgeordneten die Kommission gefragt, wie sie zu dem Bau steht und ob dieser mit EU-Mitteln unterstützt wird. Die Kommission antwortet darauf, dass sie den Bau unterstützt, weil dieser die Sicherheit der Bewohner und Mitarbeiter verbessern würde. Die Kommission empfahl zudem eine „gemischte Lösung“ aus Betonmauern und Maschendrahtzäunen. Nach vielen Besuchen in verschiedenen Camps überzeugt mich diese Begründung nicht, weil die meisten Geflüchteten sich durch die Mauern eingesperrt fühlen und nicht besser geschützt. Außerdem sagen griechische Regierungsvertreter auch ganz offen, dass die Mauern dazu dienen die Geflüchteten von der Bevölkerung zu trennen.

Meine Anfrage

Betrifft: Errichtung von Mauern um griechische Flüchtligslager

Als die Bewohner des Flüchtlingslagers Ritsona in Griechenland am 4. Mai 2021 aufwachten, stellten sie fest, dass eine drei Meter hohe Betonmauer, wie sie das Militär verwendet, um ihre Unterkünfte herum errichtet wurde. Dadurch sollen die 3 000 Flüchtlinge dort von der einheimischen Bevölkerung separiert werden, obgleich das Lager von griechischen Ortschaften weit entfernt ist. Laut einer Ausschreibung auf der griechischen Website der Internationalen Organisation für Migration (IOM) soll mit 7 000 Flüchtlingen in drei weiteren Lagern ebenso verfahren werden. Die Mauer wird aus Mitteln des Programms der Kommission zur „Unterstützung der griechischen Behörden bei der Verwaltung des nationalen Systems für die Aufnahme von Asylsuchenden und schutzbedürftigen Migranten“ errichtet. Ziel dieses Programms ist es eigentlich, Bildungsmaßnahmen und Kontakte mit den Einheimischen im Rahmen des Integrationsprozesses zu fördern. Mit Mauern erreicht man genau das Gegenteil, denn Maurern dienen zur Trennung. Die Flüchtlingslager werden dadurch de facto zu Gefängnissen, wodurch sich die psychische Verfassung der Flüchtlinge erheblich verschlechtern wird. Vor diesem Hintergrund wird die Kommission um die Beantwortung der folgenden Fragen gebeten:

Sind der Kommission diese Entwicklungen bekannt? Wenn ja, unterstützt sie die Errichtung von Betonmauern zur Eingrenzung griechischer Flüchtlingslager? Stehen diese Bauarbeiten im Einklang mit den Werten und Zielen der EU und dem oben genannten Programm?

In welcher Höhe werden EU-Mittel für die Errichtung von Betonmauern in Ritsona und anderen griechischen Flüchtlingslagern bereitgestellt?

Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 06.07.2021

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) führt das von der EU finanzierte Soforthilfeprojekt „Unterstützung der griechischen Behörden bei der Verwaltung des nationalen Systems für die Aufnahme von Asylsuchenden und schutzbedürftigen Migranten“ durch, das unter anderem die Errichtung und den operativen Bedarf von Aufnahmezentren auf dem griechischen Festland abdeckt. Das Projekt beinhaltet die von den griechischen Behörden verlangte Errichtung bzw. Instandhaltung von Zäunen an den Standorten Diavata, Ritsona, Malakasa und Nea Kavala, die auf die Verbesserung der Sicherheit der Bewohner und Mitarbeiter abzielt.

Die Kommission und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) wurden vor dem Bau der Zäune zu den technischen Spezifikationen konsultiert. Die Einzäunung muss einer Reihe von Parametern Rechnung tragen, insbesondere dem Brandschutz, dem natürlichen Licht, der Nichtbehinderung der Sicht und einem ausreichenden Abstand zu den Unterbringungseinheiten. Es wird eine gemischte Lösung umgesetzt, bei der Beton und Maschendrahtzäune abwechselnd verwendet werden.

Der für die Durchführung des Gesamtprojekts vertraglich vereinbarte Betrag beläuft sich auf rund 180 Mio. EUR für den Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 30. Juni 2021, wovon etwa 9 Mio. EUR für Arbeiten in den Zentren (u. a. Reinigung, Instandhaltung, Reparaturen und Zäune) bestimmt sind.

An ihrem 70. Geburtstag liegt die Genfer Flüchtlingskonvention im Sterben

Morgen feiern wir den 70.Geburtstag der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Die GFK ist das wichtigste Dokument für den Schutz von Geflüchteten. Insgesamt 149 Staaten sind ihr beigetreten. Doch inzwischen wird immer offensichtlicher, dass Europa sich mit Gewalt abschottet, statt Menschen in Not zu helfen. Das ist geschichtsvergessen und ein Bruch mit den Grundsätzen von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.

An unseren Außengrenzen ertrinken Menschen, obwohl wir sie retten könnten. Menschen werden auf dem offenen Meer ausgesetzt und gefoltert, weil sie einen Asylantrag stellen wollen. Die EU bezahlt islamistische Milizen, um Flüchtende nach Libyen zurück zu schleppen. Pushbacks werden von EU-Staaten durchgeführt. Es wurde aus Griechenland auf Flüchtende geschossen. Es ist heuchlerisch, wenn EU-Regierungen den Geburtstag der Flüchtlingskonvention feiern, denn an den EU-Außengrenzen haben sie sich entschieden, die Flüchtlingsrechte durch eine gewaltvolle Abschottung zu ersetzen.

Die GFK entstand aus den Lehren des zweiten Weltkriegs

Als die Genfer Flüchtlingskonvention vor 70 Jahren verabschiedet wurde, wollte man nach den schrecklichen Erfahrungen im zweiten Weltkrieg Verantwortung für Schutzsuchende übernehmen. Man wollte Menschen in Not helfen und man wollte politische Ziele rechtsstaatlich unter Achtung der Menschenrechte erreichen. An den Europäischen Außengrenzen versucht man sich nun mit aller Macht durch Entrechtung von der Verantwortung für Schutzsuchende zu entledigen. Es ist wieder normal geworden, politische Ziele auch durch die Entwürdigung von Menschen zu erreichen. 

Weltweit sind über 82 Millionen Menschen auf der Flucht. Nur ein sehr kleiner Teil von ihnen flieht nach Europa. Es ist ein Armutszeugnis, dass wir unsere eigenen Rechtsgrundlagen über Bord werfen, nur damit immer weniger Asylanträge in Europa gestellt werden. An ihrem 70. Geburtstag liegt die Genfer Flüchtlingskonvention im Sterben. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten kapitulieren vor den asylpolitischen Herausforderungen. Weil sie sich nicht auf ein funktionierendes Asylsystem einigen können, verschleiern sie dieses Scheitern durch Misshandlung und Entrechtung von Menschen in Not. Menschen müssen leiden, weil die Regierungen ihren Job nicht ordentlich machen.

Wir fordern von der Kommission endlich gegen Kroatiens gewaltvolle Pushbacks vorzugehen

Vor kurzem erschien eine erschütternde Recherche von ARD, Lighthouse Reports, SRF, Spiegel und Novosti. Dieses breite europaweite Netzwerk von Journalist:innen veröffentlichte neue Berichte über Pushbacks durch kroatische Grenzbeamt:innen, in sechs Fällen konkret mit Videos belegt. Ganze Familien und besonders schutzbedürftige Menschen werden durch den Wald zurück über die EU-Grenze gebracht. In einem Fall handelt es sich um eine schwangere Frau im achten Monat mit fünf kleinen Kindern. Die sechs Videos zeigen insgesamt rund 65 Menschen, darunter 20 Kinder, die illegal gepushbackt werden. Darunter sogar ein herzkranker Mann mit Krücken.

Diese Vorfälle ereignen sich dabei teilweise nicht mal mehr in der Nähe der EU-Außengrenze, sondern die Menschen werden weit aus dem Landesinneren nach Bosnien-Herzegowina verschleppt. Die Pushbacks und die Gewalt gegen Geflüchtete sind klare Verstöße gegen europäisches Recht und sie finden seit Jahren statt, ohne dass dies ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht.

Deswegen habe ich mit anderen Europaabgeordneten der Grünen, Linken und Sozialdemokraten diesen Brief an die zuständige Ministerin Ylva Johansson geschrieben und fordere, dass die Kommission endlich tätig wird und gegen die systematischen Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen aktiv zu werden.

Offener Brief an Heiko Maas zu Abschiebungen nach Afghanistan

Die Taliban erobern immer mehr Gebiete, Menschen fliehen und die afghanische Regierung bat um einen Abschiebestopp. Ich habe all diese Ereignisse zum Anlass genommen, um einen Brief an Heiko Maas zu schreiben. Ich bitte ihn darum, die Einschätzung der aktuellen Sicherheitslage im Lagebericht unabhängig von etwaigen innenpolitischen Motiven und entsprechend der neuen Erkenntnisse und Entwicklungen anzupassen.

Sehr geehrter Herr Bundesminister Maas,

die Sicherheitslage in Afghanistan ist dramatisch. Afghanistan ist laut Global Peace Index das unfriedlichste Land der Welt. Seit Beginn der Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban steigt die Zahl ziviler Opfer weiter, Kampfhandlungen nehmen zu. Der hektisch begonnene Abzug der US- und NATO-Truppen birgt schwerwiegende Risiken für die Stabilität des Landes und seine Zivilbevölkerung. Die Taliban kontrollierten Ende Juni bereits 157 Distrikte in Afghanistan, doppelt so viele wie noch Anfang Mai. Damit befinden sich 40% der Distrikte in den Händen der Taliban, ebenso viele sind umkämpft.

Aufgrund der Unsicherheit haben viele Botschaften bereits jetzt ihr Personal abberufen, Australien hat als erstes Land seine Botschaft in Kabul sogar bereits geschlossen. Auch die humanitäre Situation in Afghanistan ist besorgniserregend. 2021 ist etwa die Hälfte der Bevölkerung, 18,4 Million Menschen, auf humanitäre Hilfe angewiesen, Anfang 2020 lag die Zahl noch bei 9,4 Millionen Menschen. Gründe dafür sind neben dem anhaltenden Konflikt auch Naturkatastrophen, chronische Armut, Ernährungsunsicherheit und nicht zuletzt die zusätzliche Belastung durch die COVID-19 Pandemie.

Laut einer aktuellen Studie über die Erfahrungen von aus Deutschland abgeschobenen Afghanen sind diese, ihre Angehörigen und Unterstützer:innen sowohl von den Taliban, als auch durch staatliche Akteure und ihr soziales Umfeld von Gewalt bedroht. Ein Großteil der Befragten erlitt nach Ankunft in Afghanistan aufgrund ihres vorherigen Aufenthalts in Europa und der damit einhergegangenen „Verwestlichung“ Gewalt. Eine Existenzsicherung war aufgrund der wirtschaftlichen Lage und sozialer Ausgrenzung so gut wie unmöglich, weshalb 70% der Interviewten das Land nach kurzer Zeit erneut verlassen mussten. Denjenigen, denen diese Möglichkeit nicht gegeben ist, bleibt oft kaum ein anderer Weg zur Existenzsicherung, als sich Kriegsparteien oder Banden anzuschließen. Durch die Kontrolle zahlreicher Gebiete und Verbindungsstraßen durch die Taliban ist es für Rückkehrende zudem kaum möglich, ihre Herkunftsprovinzen zu erreichen.

Nach neuesten Erkenntnissen soll am 21. Juni ein im Februar aus Deutschland abgeschobener Afghane durch eine Granate gestorben sein. All diese Erkenntnisse legen nahe, dass die momentane Sicherheitslage in Afghanistan und die drohende Gewalt bei Rückführungen einen Abschiebestopp unabdingbar machen. Auch die afghanische Regierung bittet darum, Abschiebungen aufgrund der Sicherheitslage vorübergehend auszusetzen.

Trotzdem finden weiterhin Sammelabschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan wie zuletzt am 06.07.2021 statt, Sie äußerten sich am 05.07.2021 in Madrid wie folgt: „Bisher gab es sicherlich eine Zunahme von Gewalt, die es auch in der Vergangenheit gegeben hat. Sollte sich das weiter dramatisieren, wird sich das auch in unseren Berichten niederschlagen“. „Welche Auswirkungen das dann auf die Frage hat, ob Menschen noch abgeschoben werden können nach Afghanistan, wird man dann sehen. Bei dem was, wir bisher an Informationen haben, halte ich die bisherige Praxis aber nach wie vor für vertretbar.“

Laut dem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand Juni 2020 in der Fassung vom 14.01.2021) seien dem Auswärtigen Amt „keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden“. Darüber hinaus werden einige Gebiete in Afghanistan als sicher bezeichnet, aktuelle Entwicklungen sind nicht berücksichtigt. Aus den grundsätzlichen Anmerkungen des Berichts geht hervor, dass bei plötzlich eintretenden Veränderungen der Lage entweder ein ad-hoc-Bericht erstellt werde oder die Empfänger:innen auf die mangelnde Aktualität des Berichts aufmerksam gemacht werden. Außerdem wird darauf verwiesen, dass korrekte Informationen aus Afghanistan nur außerordentlich schwer zu erhalten seien. Wurde ein solcher ad-hoc-Bericht erstellt oder wird angesichts der sich schnell verändernden Sicherheitslage mit weitreichenden Auswirkungen darauf hingewiesen, dass der Bericht die aktuelle Lage nicht mehr entsprechend darstellt? Ich begrüße, dass der Lagebericht des Auswärtigen Amts derzeit überarbeitet wird. Ich bitte Sie, die Einschätzung der aktuellen Sicherheitslage im Lagebericht unabhängig von etwaigen innenpolitischen Motiven und entsprechend der neuen Erkenntnisse und Entwicklungen anzupassen und mir den aktuellen Bericht zukommen zu lassen.

Mit freundlichen Grüßen

Erik Marquardt

EU-Parlament beschließt Migrationsfonds: Fast 10 Milliarden € für Asyl, Migration und Integration

Der mit 9,88 Milliarden Euro ausgestattete Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) für 2021-2027 soll die gemeinsame europäische Asylpolitik stärken. Wir haben erreicht, dass Mittel direkt von regionalen und lokalen Behörden beantragt werden können, damit EU-Staaten die Finanzierung von engagierten Städten und Regionen nicht mehr so leicht verhindern können.

Als Asylpolitischer Sprecher der Grünen/EFA im Europäischen Parlament sage ich dazu:

„Endlich können Kommunen direkt Geld für die Aufnahme von Geflüchteten bei der EU-Kommission beantragen. Damit können Kommunen nicht mehr so einfach von einem solidarischen Umgang mit Flucht und Migration abgehalten werden. Es ist auch ein großer Erfolg, dass wir in den Verhandlungen erreichen konnten dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, mindestens 15% ihrer Programme für legale Migration und Integration bereitzustellen. So können Länder die Unterstützung von Migrantinnen und Migranten nicht mehr verweigern, wenn sie von EU-Mitteln profitieren wollen. Ein weiterer Erfolg ist, das 20% der Mittel für humanitäre Hilfe, Ressettlement und Relocation ausgegeben werden sollen. Der Fonds löst keinesfalls die großen Probleme der Europäischen Asylpolitik, aber er ist ein guter Schritt, um Solidarität in der Asylpolitik zu belohnen und das Zusammenleben vor Ort zu verbessern.“

Weitere Infos zum AMIF findet ihr auf der Seite des Parlaments und auf hier auf meiner Homepage.

Eine Chronologie der zivilen Seenotrettung

Zehntausende Menschen ertranken auf der Flucht im Mittelmeer. Statt die Menschen zu retten, werden zivile Seenotretter:innen vermehrt blockiert und kriminalisiert. Hier habe ich eine Chronik der zivilen Seenotrettung der vergangenen Jahre aufgeschrieben.

Hintergrund

Silvio Berlusconi und Muammar al-Gaddafi schlossen 2008 einen Freundschaftsvertrag, indem sich Berlusconi im Namen Italiens für Kolonialverbrechen entschuldigte und Gaddafi sich verpflichtete, eine eigene Küstenwache einzusetzen und Boote mit Flüchtenden zurückzuführen. In der Folge trainierte Italien die Libysche Küstenwache und rüstete sie aus. Während einzelne Mitgliedstaaten versuchen die Europäische Migrationspolitik und Flüchtlingsabwehr schon deutlich vor europäischen Grenzen zu organisieren, nutzte Libyen unter Gaddafi seine Bedeutung für die Europäische Grenzpolitik aus, um ökonomische und politische Gegenleistungen zu fordern. In den folgenden Jahren wurden über tausend Menschen auf Booten von italienischen Behörden abgefangen, nach Libyen geschickt und den dortigen Behörden übergeben. 2012 befand der Europäischen Menschengerichtshof diese Praxis für rechtswidrig. In dem Fall Hirsi Jamaa et al. wurde wegweisend entschieden, dass Pushbacks gegen das Verbot von unmenschlicher Behandlung und das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen. 
2011 breiteten sich in mehreren Staaten Proteste aus, die schließlich als Arabischer Frühling in die Geschichte eingingen. In Libyen startete ein brutaler Bürgerkrieg. Viele Menschen begaben sich unter Lebensgefahr auf die Flucht nach Europa. In dieser Zeit kam es trotz eines internationalen Militäreinsatzes zur Errichtung einer Seeblockade und einer Flugverbotszone und NATO-Präsenz zu vielen Toten auf dem Mittelmeer, weil es keine ernsthaften staatlichen Bemühungen zur Seenotrettung gab.

2013

Am 3. Oktober 2013 werden in Deutschland 23 Jahre Wiedervereinigung und damit das gewonnene Recht von Millionen Menschen in der DDR sich frei zu bewegen gefeiert. An dem Tag ertrinken an Europas Außengrenzen vor dem Strand von Lampedusa 368 Menschen. Eine Woche später ertrinken mehr als 200 Menschen, nachdem ein Boot trotz Notrufen über längere Zeit nicht gerettet wird. Als Reaktion auf die vielen Toten und das Sterben lassen startet Italien noch im November die Seenotrettungsoperation ‘Mare Nostrum’, ‘unser Meer’. Sie rettet in einem Jahr 130.000 Menschen auf dem zentralen Mittelmeer aus Seenot.

2014

Andere europäische Mitgliedsstaaten weigern sich, Mittel für die Rettung der Menschen bereit zu stellen und sich auf eine solidarische Verteilung der geretteten Menschen zu einigen, weshalb Italien die Operation einstellt. Auf ‘Mare Nostrum’ folgt ‘Triton’. Aus proaktiver Rettung von Menschen in Not wird Grenzkontrolle. Die von Frontex geführte Operation rettet bedeutend weniger Menschen, was auch so gewollt ist: Der damalige deutsche Innenminister Thomas De Maziére behauptet, ‘Mare Nostrum’ wurde beendet, weil es sich als ‘Brücke nach Europa’ erwiesen habe. Die EU schafft keine sicheren und legalen Fluchtwege und zwingt Menschen somit weiterhin auf lebensgefährliche Routen.

2015

Um dem Sterben im Mittelmeer nicht weiter zuzusehen, gründet sich 2015 die Seenotrettungsorganisation Sea Watch und schickt am 20. Juni 2020, dem World Refugee Day, ihr Schiff aufs Mittelmeer, um Seenotrettungsfälle zu finden und Hilfe zu organisieren. Auch Ärzte ohne Grenzen macht sich auf, um Menschenleben zu retten. Da die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten unwillens sind, eine europäisch koordinierte Seenotrettung zu organisieren, sind es nun privat organisierte und durch Spenden finanzierte Organisationen, die Menschen vor dem Sterben im Mittelmeer bewahren. Das ist nicht als langfristige Lösung gedacht, weil die humanitäre Hilfe auf dem Mittelmeer eigentlich staatlich organisiert sein sollte.

2016

Nun kommen die NGOs SOS Méditerranée, Proactiva Open Arms, Sea-Eye und Jugend Rettet, die Boat Refugee Foundation und Save the Children dazu und schicken Schiffe zur Rettung auf das Mittelmeer. Doch die Libysche Küstenwache – von der EU finanzierte, ausgerüstete und im Rahmen der Operation Sophia trainierte Milizen, die zuvor teils selbst Menschen geschmuggelt hatten und nun ein besseres Geschäft als Küstenwache wittern – gehen gegen die zivile Seenotrettung vor: 

“Bereits am 24. April 2016 hatten bewaffnete Milizionäre die Sea-Watch 2 bedroht und geentert, bevor sie Schiff und Besatzung am 10. Mai 2017 durch ein halsbrecherisches Manöver vor dessen Bug erneut gefährdeten”, erklärt Sea Watch. Auch die Bourbon Argos wird beschossen und geentert; das Sea-Eye-Schnellboot Speedy mit seiner Besatzung nach Libyen entführt.

2017

Davon lassen sich die Organisationen nicht einschüchtern. Stattdessen beobachtet Sea Watch von nun an mit dem Suchflugzeug ‘Moonbird’ Menschenrechtsverletzungen und Notfälle auf dem Mittelmeer.

Der Diskurs ändert sich: Rechtspopulist:innen machen Schlepperei für das Elend auf dem Mittelmeer und europäischen Lagern verantwortlich und verbreiteten die Lüge, die Seenotretter:innen würden mit den Schleppern zusammen arbeiten. Ein Staatsanwalt aus Sizilien behauptet, dafür Beweise zu haben zu haben. Nachweisen konnte er seine Vermutung nie. Nun wurde bekannt, dass die Sizilianische Staatsanwaltschaft seit 2017 Journalist:innen und Aktivist:innen in einem Ausmaß überwachen ließ, das sonst nur gegen die Mafia und Terrorismus angewandt wird. Im Fokus der Behörden liegt die Journalistin Nancy Porsia. Laut Andrea di Pietro, Anwalt des italienischen Journalistenverbands, sei das einer “der schwersten Angriffe auf die Presse in der Geschichte unseres Landes“

Im Juli 2017 versuchen italienische Behörden die Seenotrettungs-NGOs dazu zu zwingen, einen ‘Code of Conduct’ zu unterzeichnen. “Jugend rettet” weigert sich, diesen Verhaltenskodex zu unterschreiben, der verschiedene rechtspopulistische Vorurteile enthielt. Nur zwei Tage später wird ihr Schiff, die Iuventa, beschlagnahmt. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags erklärkt den Code of Conduct für völkerrechtswidrig. In Folge zunehmender Kriminalisierung, Einschüchterung und Einschränkung zogen sich einige NGOs aus dem Mittelmeer zurück. 

Die zentrale Seenotrettungsleitstelle in Rom, das MRCC, beginnt die Zusammenarbeit mit  zivilen Schiffen einzuschränken und stattdessen der ‘Libyschen Küstenwache’ mehr Fälle zuzuweisen. Immer mehr Menschen werden aus Seenot zurück nach Libyen gedrängt, wo ihnen Folter, Sklaverei und Mord drohen. EU-Kommission und Rat machen sich durch ihre Politik mit schuldig und verstoßen durch die Kooperation mit islamistischen Milizen gegen Völkerrecht.

2018

2018 weigert sich die Crew der Open Arms Gerettete den libyschen Behörden zu übergeben. Dem Schiff wird die Einreise nach Italien verboten und es wird kurzzeitig beschlagnahmt. Salvini wird Innenminister und schließt italienische Häfen für zivile Seenotrettungsschiffe. Andere Staaten ziehen nach: Auch Malta schränkt die Einfuhr in seine Häfen ein, die Niederlande entziehen der Lifeline die Flagge. 

Zeitgleich erklären sich hunderttausende Menschen solidarisch mit den Seenotrettungs-NGOs: Das Seebrücken-Bündnis entsteht und spricht sich gegen die Kriminalisierung der Helfenden und für eine solidarische Migrationspolitik aus, die ihren Namen verdient. 
Trotzdem werden weiteren Schiffen die Flaggen entzogen und Verfahren gegen sie eingeleitet. Gegen die Aquarius wird wegen vermeintlich illegaler Müllentsorgung ermittelt. Kleidung und Hygieneprodukte der Geretteten gelten als Giftmüll. Auf den Schiffen, die im Einsatz sein können, warten zahlreiche Menschen darauf, einen sicheren Hafen anlanden zu dürfen. Doch die Mitgliedsländer der EU tun sich schwer damit, ihre Verantwortlichkeiten festzulegen und brauchen beinahe drei Wochen, um sich über die Verteilung von gerade einmal 32 Geretteten der Sea-Watch 3 zu einigen. Ähnliche Prozedere wiederholen sich, sodass die Arbeit der NGOs massiv behindert wurde.

2019

2019 wird die Operation Sophia beendet, weil sie zu viele Menschen aus Seenot gerettet hat. Die Crew des türkischen Tankers El Hiblu 1 rettet 108 Menschen vor Libyen aus Seenot und will sie nach Libyen zurück bringen. Drei afghanischen Jugendlichen gelingt es jedoch, die Crew zu überzeugen und die Geretteten an einen sicheren europäischen Hafen zu bringen. Sie werden als El Hiblu 3 bekannt und für Monate verhaftet. Maltesische Behörden leiten einen Prozess wegen Terrorismusverdacht gegen sie ein. Ihnen droht lebenslängliche Haft, weil sie erfolgreich gegen einen völkerrechtswidrigen Pushback protestierten.

Im Sommer fahren neue Schiffe aufs Mittelmeer und retten in kurzer Zeit hunderte Menschen. Im Juni ruft die Sea Watch 3 den Notstand aus, auf den über 60 Stunden keine Antwort kommt. Es gibt nicht mehr genügend Wasser an Bord und die psychische Belastung für die Menschen an Bord steigt. Kapitänin Carola Rackete widersetzt sich schließlich den Anweisungen und bringt das Schiff an einen Hafen in Lampedusa. Daraufhin wird sie in Italien festgenommen.

Auch die Crew der Alex von der italienischen Seenotrettungsorganisation Mediterranea widersetzt sich wegen unhaltbarer gesundheitlicher und hygienischer Situation den italienischen Behörden. Im September fährt die Mare Jonio nach Italien. Obwohl die Crew beteuert, mit Genehmigung der italienischen Küstenwache in Italien angelegt zu haben, wird das Schiff beschlagnahmt und die Organisation muss 300.000 € Strafe zahlen.

2020

Im Februar 2020 erhalten die beiden Crews von Sea Watch 3 und der Mare Jonio vom Bürgermeister von Palermo die Ehrenbürgerschaften. Sea Watch schickt mit der Seabird ein neues Flugzeug übers Mittelmeer, das ein Gebiet von der größe Brandenburgs abdecken kann. 

Corona erschwert die Situation für zivile Seenotrettung. Um den menschenunwürdigen Zuständen an den Grenzen der EU etwas entgegen zu setzen, rufen viele Menschen, zu denen auch ich gehöre, die Leave no One Behind Kampagne ins Leben. Dieses Solidaritätsnetzwerk setzt sich für den Schutz von Menschen ein, für deren Wohlbefinden und Sicherheit weder Staaten noch die EU sorgen. 

Im April startet die EU-Mission Irini als Nachfolger der Mission Sophia. Ziel ist der Ausbau der sogenannten libyschen Küstenwache und die Überprüfung des Waffenembargos gegen Libyen – Seenotrettung ist kein Teil des Mandates. Auf Druck von Italien wird sogar der Teil des Mittelmeeres umfahren, in dem die meisten Menschen in Seenot geraten, um sie nicht retten zu müssen.  

Die Alan Kurdi muss zehn Tage auf die Zuweisung eines sicheren Hafens warten. 150 Menschen hat die Crew zuvor aus Seenot gerettet. Es kommt zu zwei Selbstmordversuchen. Ein Mensch benötigt dringende medizinische Versorgung. Ähnliche Fälle gibt es auf anderen Schiffen. Währenddessen beobachtet die Moonbird Pushbacks nach Libyen durch die ‘Libysche Küstenwache’.

Seenotrettung wird aktiv behindert

Im August startet ein nach Louise Michel benanntes Schiff eines anarcho-feministischen Kollektivs ins Mittelmeer. Es wurde von Banksy finanziert und besprüht. Zwischenzeitlich befindet sich die Louise Michel selbst in Not, nachdem sie 219 Menschen rettet. 33 von ihnen sind bereits auf einer Rettungsinsel untergebracht. Ein Mensch ist bereits tot, andere leiden unter schweren Treibstoffverbrennungen. Die Hilferufe bleiben unbeantwortet, bis die Sea Watch 4 und die italienische Küstenwache die Menschen nach Lampedusa bringt. Schon im September wird das Schiff in Palma de Mallorca festgesetzt. 

Es kommt zum bislang längsten Stand-off: Ein dänischer Öltanker, die Maersk Etienne, rettet im August 27 Menschen aus Seenot. Ganze 38 Tage müssen die Menschen auf dem Schiff ausharren. Essen und Trinken wird knapp. Aus Verzweiflung springen drei Menschen ins Meer, können aber wieder gerettet werden. 

Im September stellt die Europäische Kommission ihren Vorschlag für einen neuen Migrationspakt vor. Zwar empfiehlt die Kommission, Seenotrettungs-NGOS nicht weiter zu kriminalisieren, sieht jedoch auch keine verbindlichen Maßnahmen zu deren Schutz und zur staatlich organisierten Seenotrettung vor. Insgesamt sind von dem Vorschlag keine Verbesserungen zu erhoffen, im Gegenteil würde er die Situation der Flüchtenden verschlechtern.

2020 sind insgesamt acht Seenotrettungsorganisationen auf dem Mittelmeer, leider meist nur für kurze Zeit, teilweise sind sie wegen der Pandemie und Blockaden gar nicht im Einsatz.

2021

Im März 2021 wird nach 3,5 Jahren Ermittlungen Anklage gegen 21 Seenotretter:innen von Jugend rettet, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children erhoben. Der Vorwurf: Beihilfe zur illegalen Einreise. Diese wird mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft. Auch die Fälle gegen die Aquarius wegen illegaler Müllentsorgung und gegen die Open Arms wegen vermeintlich illegaler Einreise werden wieder aufgenommen. Gegen Mediterranea findet eine Razzia statt. 


Bis zum 2. Juli sind in diesem Jahr bereits mindestens 773 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer ertrunken. Das sind mehr als im gleichen Zeitraum in den vergangenen drei Jahren. Die Sea-Eye 4 hat derweil bei ihrem vergangenen Einsatz über 400 Menschen gerettet. Die Sea-Watch 4 rettete mehr als 450 Menschen und wird nun aus fadenscheinigen Gründen in Italien festgehalten. Ärzte ohne Grenzen setzt den Einsatz zur Seenotrettung im Mittelmeer fort – diesmal mit einem eigenen gecharterten Schiff: Der Geo Barents.

Wir brauchen ein europäisches Seenotrettungsprogramm

Diese Übersicht ist kurz und bei Weitem nicht vollständig. Sie zeigt wichtige Eckpunkte der Entwicklung der zivilen Seenotrettung in den letzten Jahren und wie sich das politische Klima gewandelt hat. Wenn ihr genauer nachlesen oder euch selbst engagieren wollt, schaut gerne auf deren Seiten nach, die wir im Text verlinkt haben. Ich stehe fest an der Seite der Seenotretter:innen. Im Europäischen Parlament setze ich alles daran, sichere Migrationswege zu schaffen, zivile Seenotrettung zu entkriminalisieren und auf solidarische europäische Lösungen zu setzen. Wir brauchen ein europäisch koordiniertes und finanziertes Seenotrettungsprogramm, damit kein Mensch auf dem Weg über das Mittelmeer ertrinken muss.

Zum Weiterlesen

  • 5 Jahre Sea Watch sind kein Grund zum Feiern. Ihren 5-Jahres-Bericht könnt ihr hier nachlesen.
  • Im Airborne Report dokumentiert Sea Watch die Zusammenarbeit der ‘Libyschen Küstenwache’ und europäischen Behörden und deren ausbleibende Hilfe bei Seenotfällen. 
  • Was von 2016-2018 auf dem Mittelmeer passierte, protokollierte SAROBMED.
  • Das Migazin führt eine Chronologie über besonders schlimme Schiffs”unglücke” auf dem Mittelmeer. 
  • Statewatch analysiert die migrationsfeindliche Politik zwischen Libyen und der EU.
  • Max Pichl spricht über die Grenzen des Rechtsstaats an Europas Grenzen.
  • Monitor berichtet über europäische Grenzen mit besonderer Unterstützung durch Deutschland im Niger. 

Geschichte der europäischen Asylpolitik seit 1997

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind wir einer humanen und progressiven Asylpolitik leider kaum näher gekommen. Im Folgenden findet ihr eine Übersicht vom Amsterdamer Vertrag über den Vertrag von Lissabon bis hin zum aktuell vorliegenden Kommissionsvorschlag für ein gemeinsames europäisches Asylsystem (GEAS), an dem Kommission, Rat und Parlament aktuell arbeiten.

Der Amsterdamer Vertrag wird 1997 von den Staats- und Regierungschef:innen der EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet und tritt zwei Jahre später in Kraft. Er stellt die Weichen für eine gemeinsame europäische Asylpolitik: Teile der Asylpolitik werden zu einem gemeinsamen Politikfeld der Europäischen Union erklärt, indem sie in die supranationale erste Säule der Gemeinschaft integriert wurden. Das Ziel ist die Angleichung der Asylpolitik und des Asylrechts in den Mitgliedstaaten. Mit dem Amsterdamer Vertrag tritt auch das erste Dublin-Abkommen in Kraft. Dieses legt fest, dass nur ein EU-Mitgliedstaat pro Asylverfahren zuständig ist. 

Sondergifpfel von Tampere 1999

Der Sondergipfel von Tampere findet im Oktober 1999 in Finnland statt. Der Europäische Rat verabschiedet hier ein Programm zur innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit für die folgenden fünf Jahre. In diesem Rahmen werden die Leitlinien eines gemeinsamen europäischen Asylrechts (GEAS) erarbeitet. Es werden gemeinsame Kriterien für die Erteilung des Flüchtlingsstatus auf Basis der Genfer Flüchtlingskommission beschlossen. Abkommen mit Herkunftsländern von Schutzsuchenden und weitere Maßnahmen sollen eine weitergehende Kontrolle von Migrationsbewegungen ermöglichen.

2003 wird das Dublin-Abkommen überarbeitet. Es wird festgelegt, dass grundsätzlich das Ersteinreiseland das Asylverfahren durchführt und damit auch die Anträge prüfen muss. Dies stellt europäische Grenzstaaten wie Griechenland und Italien vor Herausforderungen, während sich die europäischen Staaten ohne EU-Außengrenze im Rahmen des Abkommens weitgehend aus der Verantwortung ziehen können. Außerdem wird mit Dublin II die EURODAC-Datenbank eingeführt. Mit dieser werden Fingerabdrücke von Schutzsuchenden gesammelt und abgeglichen. Auch Grenzkontrollen werden erweitert. Dublin II hatte das Ziel die europäische Asylpolitik zu harmonisieren, verschärfte aber auch die Situation für Schutzsuchende in Europa. 

Haager Programm 2004

2004 beschließen die Regierungen der EU auf einem Sondergipfel für weitere fünf Jahre das Haager Programm. Grundlage ist das Tampere Programm, als dessen Nachfolger es gilt. Ziel des Programms ist es, Einwanderung weiter einzuschränken. Dies soll mithilfe von Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern realisiert werden. Ein Fokus wird auf die Abschiebung von Menschen mit abgelehnten Anträgen gelegt. Gleichzeitig sollen Maßnahmen für legale Migration und zur Integration von Drittstaatenangehörigen geschaffen werden. 

Darüber hinaus wird die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex ins Leben gerufen. Ein gemeinsames Visainformationssystem (VIS) sammelt und teilt Informationen zu Asylanträgen und biometrische Daten auf EU-Ebene. 2005 verfassen die Staats- und Regierungschef:innen der EU den Gesamtansatz zur Migration, der die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern außerhalb der EU zum Ziel hat, um irreguläre Migration zu verhindern. 

Asylverfahrensrichtlinie 2006 und Vertrag von Lissabon 2009

Ein Jahr später tritt die vom Rat beschlossene Asylverfahrensrichtlinie in Kraft. Sie legt Grundsätze und Mindeststandards von Asylverfahren fest. Damit soll der Zugang zu Asylverfahren in der EU zwischen den Mitgliedsstaaten harmonisiert werden. Die Asylverfahrensrichtlinie definiert, wer als Flüchtling oder als subsidiär schutzbedürftige Person anerkannt wird. Die genauen Beschlüsse sind hier nachzulesen. Praktisch scheitert eine Harmonisierung zwischen den Mitgliedstaaten aber, was schon an den enorm unterschiedlichen Anerkennungraten in den Mitgliedstaaten abzulesen ist. 

Der Vertrag von Lissabon tritt 2009 in Kraft und stärkt die Befugnisse des Europäischen Parlamentes, das nun faktisch als Mitgesetzgeber mit dem Rat der Europäischen Union (Ministerrat) gilt. Trotzdem verfügt das Parlament weiterhin über kein automatisches Initiativrecht. Gleichzeitig werden die Rechte der Mitgliedstaaten strukturell erhalten, die über ein Vetorecht im Europäischen Rat verfügen. Außerdem können sie weiterhin frei entscheiden wie vielen Menschen sie Einreise- und Arbeitserlaubnis erteilen. Mit dem Vertrag werden zentrale Bereiche einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik festgelegt: Die Festlegung von Voraussetzungen für legale Einreise und Aufenthalt und der Rechte von Menschen aus Drittstaaten, sowie die Bekämpfung von Menschenhandel und “irregulärer” Migration.

Stockholmer Programm 2010

Mit dem Stockholmer Programm von 2010-2014, dass das Haager Programm ablöst, folgt der Ausbau von Frontex und die verstärkte Zusammenarbeit von Europol und Eurojust mit der Grenzagentur . Es wird das „Einreise-Ausreise-System“ (EES) geschaffen, das Nicht-EU-Bürger:innen, die sich in der EU aufhalten, registriert. Dies ist ein weiterer Schritt zur Schaffung “intelligenter” Grenzen. Außerdem werden weitere Rücknahmeabkommen mit Herkunftsländern geschlossen. Zeitgleich wird Arbeitsmigration als Teil der Lösung des Fachkräftemangels in Europa wohlwollender betrachtet. 

2011 verabschiedet die Kommission den Gesamtansatz für Migration und Mobilität (GAMM), der den 2005 verfassten Ansatz aktualisiert. Im Vergleich zum GAMM werden Rahmenbedingungen für legale Migration verbessert und das Recht auf Asyl gestärkt. Besonders Arbeitsmigration soll erleichtert werden. Zeitgleich werden die Grenzkontrollen verschärft und restriktivere Maßnahmen eingeführt. Es wird verstärkt auf Rücknahmeabkommen mit Herkunftsstaaten gesetzt. Auch bleiben zentrale Kompetenzen bei der Vergabe von Visa und Asyl bei den Mitgliedstaaten. Der GAMM stellt eine  Strategie mit Wirkung auf die europäische Außenpolitik dar.

Dublin III ab 2014

Dublin III tritt 2014 in Kraft. Neben der Kernfamilie gelten nun auch Onkel, Tanten und Großeltern als Familienangehörige und das Recht auf Familienzusammenführung wird auf Menschen mit subsidiärem Schutzstatus ausgedehnt. Außerdem werden verpflichtende Interviews mit den Antragsteller:innen eingeführt. Einsprüche gegen Ablehnungsbescheide können von nun an Abschiebungen und Zurückweisungen in ein anderes Mitgliedsland aufschieben. Auch ein Vorwarn- und Krisenmanagement wird verabschiedet. Das Dublin-Verfahren wird auf Menschen, die subsidiären Schutz beantragen, ausgedehnt und betrifft nicht mehr nur Menschen, die den Flüchtlingsstatus beantragen. Menschen, von denen “akute Fluchtgefahr” ausgeht, können ab jetzt inhaftiert werden. Dublin III sieht beschleunigte Verfahren für Menschen in Haft vor. 

2013 beginnt die EU unter der Zustimmung des Rates im Rahmen der EU Border Assistance Mission mit libyschen Institutionen zusammenzuarbeiten, vorgeblich um Menschen- und Waffenschmuggel zu bekämpfen und Migration in die EU weiter zu verhindern. Ziel ist es, Menschen in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken. Dafür rüstet die EU die Libysche Küstenwache aus, trainiert diese und schafft so eine paramilitärische Einheit. Dabei handelt es sich teilweise um Warlords, die oft selbst Menschen geschmuggelt haben.

Anfang und Ende von Mare Nostrum und staatlich organisierter Seenotrettung

Im gleichen Jahr ruft die EU mit Unterstützung des Parlaments und des Rates das Überwachungssystem EUROSUR ins Leben, um anhand von Satellitendaten Europas Außengrenzen überwachen zu können. Nationale Behörden müssen ihre Aktionen von nun untereinander und mit Frontex koordinieren. Außerdem startet die italienische Küstenwache die Operation Mare Nostrum, die in nur einem Jahr 130.000 Menschen leben im Mittelmeer rettet.

Die Regierungschef:innen der EU weigern sich jedoch, die Operation mit Umsiedlungen zu unterstützen. Daher bleibt eine europäisch koordinierte Seenotrettung aus. Mare Nostrum wird im Oktober 2014 beendet und von der Frontex-Operation Triton abgelöst. Statt auf die Rettung von Menschen in Seenot wird auf Abschottung gesetzt. In der Folge wurden weniger Menschen auf dem Mittelmeer gerettet. 

Khartoum-Prozess 2014 und die Zusammenarbeit mit brutalen Diktaturen

Der sogenannte Khartoum-Prozess von 2014 sorgt für Aufsehen, da die EU-Staaten hier mit Militärdiktatoren aus Eritrea, dem Sudan und dem Südsudan zusammen arbeiten. Auch Äthiopien, Somalia, Djibouti, Kenia, Libyen, Ägypten und Tunesien sind in den Prozess involviert. Mit der Begründung Fluchtursachen verhindern zu wollen arbeitet die EU-Kommission hier mit repressiven Diktatoren zusammen, vor denen Menschen fliehen und die zum Teil sehr hohe Anerkennungsquoten in EU-Staaten haben.

Nach Katastrophen im Mittelmeer wird 2015 auf einem Sondergipfel Kommission mit den Staats- und Regierungschef:innen der EU ein 10-Punkte-Plan verabschiedet. Mittel zur Seenotrettung durch Frontex werden aufgestockt, um auf die zunehmende Anzahl von Flüchtenden in Seenot zu reagieren. Es werden weitere Maßnahmen gegen Schlepperei verabschiedet und Frontex mit weiteren Kompetenzen ausgestattet. Auch das Einsatzgebiet der Agentur wird vergrößert. Menschen sollen mithilfe von Frontex schneller abgeschoben werden. Auch die Zusammenarbeit der EU-Sicherheitsbehörden wird forciert. 

Europäische Migrationsagenda 2015 und Errichtung von „Hotspots“

Die Europäische Migrationsagenda wird 2015 von der Kommission vorgestellt. Um legale Migration in die EU zu erleichtern, wird in den folgenden Jahren beispielsweise die “Blaue Karte EU” für Hochqualifizierte überarbeitet. Genaueres zu der EU Blue Card und weiteren legalen Migrationsmöglichkeiten in die EU habe ich auf meinem Blog zusammengefasst. Auch die Zusammenarbeit mit Herkunftsländern wird nochmal verstärkt.

Die Überwachung der europäischen Außengrenzen wird voran getrieben; Schlepperboote sollen zerstört werden. Ziel ist auch hier, bei einer Erleichterung legaler Migration irreguläre Migration schneller zu unterbinden und zu bekämpfen. Somit reiht sich die Agenda ein in die im Gesamtansatz für Migration verfasste Politik der EU. Die Externalisierung wird  zunehmend ausgebaut und damit die Grenzpolitik der EU in Drittstaaten verlagert. 

Außerdem wird die Errichtung von “Hotspots”, also geschlossenen Zentren, in denen Schutzsuchende registriert werden und Sicherheitsüberprüfungen stattfinden, beschlossen. Im gleichen Jahr werden innereuropäische Mauern und Zäune, wie in Ungarn, Slowenien und Österreich, errichtet und viele Menschen an der Weiterreise gehindert. Viele Länder schließen ihre Grenzen und gehen mit offensiverer Gewalt gegen Schutzsuchende vor. Flüchtende auf der Balkanroute werden mit Stacheldraht, Hundestaffeln, Pfefferspray, Tränengas und Wasserwerfern an der Weiterreise gehindert. 

Operation Sophia

Seit 2016 bildet die European Union Naval Force Mediterranean (EUNAVOR MED) im Rahmen der Operation Sophia die sogenannte libysche Küstenwache weiter aus. Selbsterklärtes Ziel ist die Bekämpfung von Schleuserei und Menschenhandel. Dies geht auf einen Beschluss des Europäischen Rates zurück. Auch bewaffnete Soldaten aus Deutschland sind daran beteiligt. Vorgesehen ist auch die Rettung von Menschen aus Seenot, die ohnehin verpflichtend ist.

Im gleichen Jahr ändert die Kommission ihre Strategie in Bezug auf Migration und im Umgang mit Drittstaaten: Im Rahmen der Partnership Frameworks wird der Fokus auf Abschiebung gelegt. Bei fehlender Kooperation der Drittstaaten bei der Rücknahme von Migrant:innen droht die Kommission mit Konsequenzen, etwa in Bezug auf Handels- und Entwicklungspolitik. Somit werden entscheidende Hilfeleistungen der EU an Kooperation in der Migrationspolitik geknüpft. 

EU-Türkei Deal 2016

Am 20. März 2016 tritt der EU-Türkei-Deal in Kraft. Seitdem werden Schutzsuchende systematisch auf den Inseln festgehalten und in die Türkei zurückgeschoben. Syrische Schutzsuchende, die “irregulär” die griechischen Inseln erreichen, sollen zurück in die Türkei gebracht werden. Für jede dieser Personen soll eine andere syrische Person aus der Türkei  in die EU umgesiedelt werden. Auch wenn Menschen aus Syrien in die EU umgesiedelt werden, ignoriert das Statement Geflüchtete aus anderen Ländern, wie Iran oder Afghanistan, die in der Türkei oft Not leiden müssen.

Es kommt zu zahlreichen Pushbacks in die Türkei, von wo aus vielen Menschen eine Abschiebung nach Syrien droht. Mehr zu dem Abkommen erfahrt ihr in einem Gespräch mit Gerald Knaus, Maximilian Pichl und mir. Im September desselben Jahres wird ohne Einbeziehung des Parlaments eine Vereinbarung mit Afghanistan zur Rückführung von Geflüchteten getroffen, um Abschiebungen in das seit Jahrzehnten zerrüttete Land in großem Stil zu vollziehen. Mehr zu dem JWF-Abkommen, findet ihr hier

Erklärung von Malta 2017 und Zusammenarbeit mit libyschen Milizen

Die Erklärung von Malta wurde am 03. Februar 2017 von den europäischen Regierungschef:innen unterzeichnet. In der Folge wird mit EU-Geldern die libysche Küstenwache aufgebaut und unterstützt, eine libysche SAR-Zone festgelegt und eine Koordinierungsstelle in Libyen eingerichtet. Damit ist nicht mehr die italienische Seenotrettungsleitstelle für die Koordination von Sennotrettungsaktivitäten in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste verantwortlich. Stattdessen liegt diese Aufgabe jetzt bei der Libyschen Küstenwache. Dies führt u.a. dazu, dass Menschen zurück in das Bürgerkriegsland geschickt werden (sogenannte Pullbacks) anstatt zu einem sicheren Hafen gebracht zu werden.

So werden auch zivile Seenotrettungsschiffe angewiesen, gerettete Menschen zurück nach Libyen zu bringen, wo ihnen Folter, Haft, Zwangsarbeit und Mord drohen. Mitnichten kann ein Hafen in Libyen als sicher für Schutzsuchende bezeichnet werden. Hier macht sich die EU mit für die unmenschliche Behandlung von Menschen verantwortlich. SOS-MEDITERRANEE erklärt dazu: „Mit der Malta-Erklärung hat die Europäische Union den Grundstein für einen massiven Bruch des Völkerrechts gelegt, der mit europäischen Steuergeldern finanziert wird.“ 

Neuer Migrations- und Asylpakt

Derzeit wird an einem neuen Migrations- und Asylpakt gearbeitet: Im September 2020 schlägt die Kommission einen Entwurf vor, der es Mitgliedstaaten ermöglichen soll, Abschiebungen zu unterstützen anstatt Schutzsuchende aufzunehmen: Bevor der Vorschlag für den Pakt veröffentlicht wurde, hat das vorherige Parlament 2019 mit dem Rat eine Reform des Mandats von Frontex beschlossen. Die sogenannte Verordnung über die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache II erweitert das Mandat von Frontex weitgehend: Von 1700 Grenzbeamt:innen im Jahr 2019 soll die Agentur bis 2027 auf 10.000 Grenzbeamte aufgestockt werden. Grenzverfahren, also Asylverfahren unter Haftbedingungen an der Grenze, sollen zur Norm werden.

Wir Grünen haben einen Alternativvorschlag ausgearbeitet, der auf echte und verpflichtende Solidarität setzt. Wir sind für offene Asylverfahren, die die Präferenzen der Schutzsuchenden und die Aufnahmebereitschaft der Kommunen berücksichtigen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass Menschenrechte nicht weiter eingeschränkt werden und Zugang zu fairen Asylverfahren gewährleistet wird. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, wo wir hinwollen, welche Ziele wir mit der europäischen Migrationspolitik verfolgen, wie wir nach außen und innen wirken wollen. Dabei dürfen wir nie vergessen, dass die Zukunft Europas nur auf Menschenwürde und Gleichheit beruhen kann.  

Weitere Quellen:

Dr. P. Bendel, M. Haase: Dritte Phase: Migrationspolitik als Gemeinschaftsaufgabe (seit 1999). In bpb, 29.1.2008. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration-ALT/56531/seit-1999

J. Grosser: Supranationalisierung von Amsterdam bis Lissabon (1997-2007). In: Treffpunkt Europa, 13.06.2020. Online verfügbar unter Supranationalisierung von Amsterdam bis Lissabon (1997-2007) – treffpunkteuropa.de

M. Haase, J.C. Jugl: Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU. In bpb, 27.11.2007. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration-ALT/56551/asyl-fluechtlingspolitik?p=all

Englischsprachige Fachliteratur:

Bialasiewicz, Luiza (2012): Off-shoring and Out-sourcing the Borders of EUrope. Libya and EU Border Work in the Mediterranean. In: Geopolitics 17 (4), S. 843–866.

Crépeau, Francois (2015): Report of the Special Rapporteur on the human rights of migrants. UN Doc. A/HRC/29/36. Report presented at the Human Rights Council, 29th Session. Geneva.

Gaibazzi, Paolo; Dünnwald, Stephan; Bellagamba, Alice (Hg.) (2017): EurAfrican Borders and Migration Management. Political Cultures, Contested Spaces, and Ordinary Lives. New York, s.l.: Palgrave Macmillan US (Palgrave Series in African Borderlands Studies).

Papagianni, Georgia (2013): Forging an External EU Migration Policy. From Externalisation of Border Management to a Comprehensive Policy? In: European Journal of Migration and Law 15 (3), S. 283–299.

Wierich, Andrea (2011): Solving Problems Where They Are Made? The European Neighbour-hood Policy and Its Effects on the Context of Other Migration-Related Policies of the European Union. In: Perspectives on European Politics and Society 12 (3), S. 225–241

Anfrage: Situation der Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln

Am 12. März habe ich der Kommission eine Anfrage gesendet, um zu erfahren, was konkret geplant ist, um die Lage auf den griechischen Inseln zu verbessern. In der Antwort heißt es, die Unterkünfte seien seit dem Brand in Moria besser geworden. Davon merken die Bewohner:innen aber auch acht Monate nach dem Brand nicht viel. Die Situation ist weit davon entfernt menschenwürdig zu sein und EU-Standards zu entsprechen. Die Kommission schreibt: „Die griechischen Behörden haben bestätigt, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des neuen Zentrums in der Lage sein werden das Lager nach Belieben zu betreten und zu verlassen.“ Momentan dürfen die Menschen sich nicht frei bewegen und werden eingesperrt. Die Kommission behauptet hier, dass das in den neuen Lagern anders sein soll, aber die griechische Regierung spricht öffentlich weiterhin von geschlossenen Lagern, die dort gebaut werden sollen. Hier scheint die griechische Regierung der Öffentlichkeit andere Versprechungen zu machen als der Kommission.

Meine gesammelten Anfragen an die Kommission und die Antworten findet ihr hier.

Meine Anfrage

Die Situation der Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln entspricht immer noch nicht den europäischen Mindeststandards. Tausende Menschen wurden in Zelten einem Rekordwinter ausgesetzt. Auf Lesbos gibt es nach wie vor kein fließendes Wasser, und lediglich 23 der Duschen wurden im Januar – bei Minusgraden und Schnee – mit warmem Wasser versorgt. In einem Bericht der EU-Taskforce Lesbos von Anfang Februar spricht die Kommission davon, dass alle Zelte winterfest gemacht worden seien. Außerdem sei das Wetter im Winter über weite Strecken trocken, und die Temperaturen auf der Insel lägen selten unter 10 Grad Celsius. Gleichzeitig treibt die griechische Regierung die Errichtung geschlossener und bewachter Zentren mithilfe von EU-Mitteln weiter voran.

1. Welche Verbesserungen hinsichtlich der erforderlichen humanitären Mindeststandards und der Bewegungsfreiheit gibt es im Verhältnis zum Lager Moria im neuen Lager Kara Tepe?

2. Das Kommunalparlament in Mytilini fasste am 3. Februar 2021 einen Beschluss, der die Errichtung eines EU-finanzierten geschlossenen und bewachten Lagers für insgesamt 3500 Menschen vorsieht. Welche Maßnahmen gedenkt die Kommission zu ergreifen, damit ihr Versprechen gegenüber dem Parlament umgesetzt wird, dass die Lager an den Außengrenzen keine geschlossenen Lager werden?

3. Es gibt vermehrt Anzeichen, dass das unwürdige temporäre Lager auch im nächsten Winter noch bestehen wird. Wie ist der Zeitplan für die Errichtung menschenwürdiger Unterkünfte, und wie stellt die Kommission sicher, dass er eingehalten wird?

Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 19.05.2021

Das Lager Mavrovouni wurde provisorisch errichtet, um den Menschen nach den Bränden in Moria umgehend Unterkünfte bereitzustellen. Die Kommission und die griechischen Behörden arbeiten seitdem an der Verbesserung der Aufnahmebedingungen. Zu diesem Zweck stellt die Kommission Finanzmittel sowie operative und technische Unterstützung bereit. Die Arbeiten an der Wasser- und Stromversorgung, der Abwasserentsorgung sowie an der Schotterung werden Bereich für Bereich fortgeführt. Duschen mit warmem Wasser und Toiletten wurden installiert. Der medizinische Bereich wird ausgebaut und medizinische Versorgung wird bereitgestellt. Die Kommission und die griechischen Behörden werden weiter an zusätzlichen Verbesserungen arbeiten.

Der Schutz und die Verbesserung der Lebensbedingungen für Asylsuchende in Griechenland stellt eine Priorität für die Kommission dar. Die bestehenden Zentren auf den Inseln werden im Einklang mit dem Besitzstand und den Normen der EU durch multifunktionale Aufnahme- und Identifizierungszentren ersetzt. Die Kommission stellt eine erhebliche finanzielle Unterstützung zur Verfügung, unter der Voraussetzung, dass die neuen Zentren dem einschlägigen Besitzstand entsprechen. Die griechischen Behörden haben bestätigt, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des neuen Zentrums in der Lage sein werden, das Lager nach Belieben zu betreten und zu verlassen. Die Einrichtung eines Systems von Zugangsausweisen soll die Sicherheit der Zentren sicherstellen. Die Vereinbarung über das gemeinsame Pilotprojekt auf Lesbos sieht vor, dass die Kommission zu den Verfahren des Zentrums konsultiert wird.

Die Arbeiten auf den Inseln befinden sich in unterschiedlichen Planungs- und Bauphasen. Die griechischen Behörden bekräftigten ihre Entschlossenheit, die Zentren bis Ende 2021 fertigzustellen. Über eine spezielle Taskforce arbeitet die Kommission mit den griechischen Behörden zusammen und überwacht – unter anderem im Rahmen monatlicher Sitzungen des Lenkungsausschusses unter Beteiligung aller einschlägigen Interessenträger – den Fortschritt der Arbeiten.

Brief an die Kommission: Bleibelastung im neuen Moria

Seit das neue Camp Mavrovouni (Kara Tepe) auf Lesbos im September 2020 eröffnet wurde, gab es neben all den anderen katastrophalen Lebensbedingungen auch immer wieder schwerwiegende Bedenken wegen der Bleibelastung des ehemaligen Militärgebiets. Über 6.000 Menschen leben auf nachweislich bleiverseuchtem Boden, was vor allem schwangere Frauen und spielende Kinder gefährdet. Zusammen mit vielen weiteren Europaabgeordneten habe ich deshalb einen offenen Brief an die EU-Kommission unterstützt.

Im Januar dieses Jahres hat die Regierung „Ergebnisse“ einer Untersuchung veröffentlicht, die allerdings bewusst nur sehr lückenhafte Tests einbezog. Doch auch die dort gemessenen Bleiwerte liegen bedenklich hoch. Die griechische Regierung versucht das zu rechtfertigen, indem sie für diese Bedingungen ungeeignete und gefährlich hohe Grenzwerte ansetzt.

Wir fordern von der Europäischen Kommission, bei den griechischen Behörden darauf hinzuwirken, alle Camp-Insassen umgehend in weniger belastete Gebiete zu verlegen. Bis dahin müssen alle Bewohner:innen über die Gefahren einer Bleivergiftung umfassend informiert werden. Außerdem braucht es eine kostenfreie Versorgung mit Bluttests, vorrangig für Kinder unter zwei Jahren, die besonders gefährdet sind. Die Gesundheit und Sicherheit dieser Menschen ist stark bedroht. Man darf sie nicht noch länger, und schon gar nicht einen weiteren Winter lang, unter diesen Bedingungen einsperren.

Den vollständigen Brief an die Kommission und alle Unterzeichnenden findet ihr hier.

Anfrage zum „temporären“ Lager Mavrovouni auf Lesbos

Geflüchtete dürfen das neue Moria auf Lesbos nicht mehr einfach verlassen. Zu den Zuständen habe ich der Kommission Fragen gestellt.

Die Kommissarin schreibt in ihrer Antwort auf meine parlamentarische Anfrage, die sich nach Push-Backs an der griechisch-türkischen Seegrenze und der Rolle der EU-Grenz- und Küstenwache Frontex erkundigt: „Eine effektive und gut funktionierende Agentur für das Außengrenzmanagement, die den Schutz der Grundrechte bei der Ausübung ihrer Funktionen garantiert, gehört zu den Prioritäten der Kommission.
Und dennoch tun die Kommission, Frontex und die EU-Mitgliedstaaten ihr Möglichstes, um jede Verantwortung für die systematischen und schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen zu vermeiden, die Asylsuchende jeden Tag aufs Neue gefährden.

Hier findet ihr die vollständige Anfrage auf der Homepage des Europäischen Parlaments.

Ich habe der EU-Kommission folgende Frage am 1. Februar gestellt:

Betrifft: Lebensbedingungen im „temporären“ Lager Mavrovouni auf Lesbos.

Seit Anfang November dürfen Geflüchtete das neue Lager Kara Tepe (Mavrovouni) auf Lesbos nicht verlassen, außer für besonders wichtige Termine. Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Die Schutzsuchenden sind nun de facto eingesperrt.

Nach einem Besuch am 28.11.2020 hat Minister Mitarakis die Maßnahmen, um das Lager winterfest zu machen, für abgeschlossen erklärt, obwohl die Lebensbedingungen noch völlig unzureichend sind.

Das Lager befindet sich auf einem stillgelegten Schießplatz, weshalb ernsthaft zu vermuten ist, dass das Gelände mit Blei verseucht ist. Die Kommission vertraut hier offenbar den unbestätigten Angaben der griechischen Behörden, die auch drei Monate nach Eröffnung des Lagers keine unabhängigen Laboruntersuchungen des Bodens vorlegen konnten. Zusätzlich spricht die griechische Regierung bei den neuen Lagern von „closed controlled structures“, und Journalistinnen und Journalisten wird seit Monaten der Zugang zum Lager untersagt.

1.    Bewertet die Kommission den Zustand eines Lagers, in dem nur in Ausnahmefällen Ausgangsmöglichkeiten bestehen, als geschlossenes Lager oder als Haft?

2.    Wie begründet die Kommission die Nichteinhaltung der Aufnahmerichtlinie im Lager, und welche Maßnahmen wurden ergriffen, um gesundheitliche Gefahren auf dem Schießplatz auszuschließen?

3.    Wie stellt die Kommission sicher, dass EU-Gelder nicht für geschlossene Lager verwendet werden?

Antwort von Kommissarin Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 19.4.2021:

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie haben die griechischen Behörden restriktive Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit erlassen, die landesweit gelten und die Aufnahmezentren miteinschließen. Die Bewohner der Aufnahme- und Unterbringungseinrichtungen dürfen diese nur aus bestimmten Gründen betreten und verlassen. Zu diesen Gründen zählen die Deckung der Grundbedürfnisse oder laufende Asylverfahren.

Bei den mit Unterstützung der Taskforce der Kommission für das Migrationsmanagement durchgeführten Arbeiten zur Verbesserung der Aufnahmebedingungen im provisorischen Aufnahme- und Identifizierungszentrum (RIC) Mavrovouni werden Fortschritte gemacht. Die Hellenic Survey of Geology and Mineral Exploration entnahm Bodenproben und untersuchte diese auf Bleikontamination, um zu überprüfen, ob die Unterbringung in diesem Aufnahme- und Identifizierungszentrum ungefährlich ist. Die Ergebnisse und Einzelheiten der Untersuchungen sind öffentlich zugänglich. Von den 12 entnommenen Bodenproben lag eine Probe, die in der Nähe eines Verwaltungsbereichs entnommen wurde, über dem Grenzwert. Die griechischen Behörden haben das Gebiet eingezäunt, neue Erde aufgetragen, ein Betonfundament im Verwaltungsbereich gegossen und auf dem gesamten Gebiet einen Meter Erde zusätzlich aufgetragen. Nach Abschluss der Arbeiten wird erneut kontrolliert.

Das neue Zentrum auf Lesbos wird ein multifunktionales Zentrum mit technischen Vorkehrungen, die es den Bewohnern ermöglichen, das Zentrum mit Zugangsausweisen zu betreten und zu verlassen.

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