So ist die aktuelle Lage auf Lesbos

Ich bin im Juli nach Lesbos gereist, um mir anzuschauen, wie nach dem Brand in Moria die aktuelle Situation im neuen Lager Mavrovouni ist. Außerdem traf ich die Frontex-Einsatzkräfte vor Ort, um mit ihnen über die aktuelle Lage und die Pushbacks durch die griechische Küstenwache zu sprechen. Und ich besuchte verschiedene NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure, die dafür kämpfen die Lage politisch zu verändern, aber auch Angebote machen, damit Geflüchtete die Möglichkeit haben etwas besser durch ihren schwierigen Alltag zu kommen.

In der Nacht vom 8. auf den 9. September brannte das Lager Moria vollständig ab. Damals lebten dort 12.600 Menschen auf engem Raum in unwürdigen Verhältnissen. Das Lager ist ein Symbol des Scheiterns der europäischen Flüchtlingspolitik, die es nicht schafft, Menschen faire Asylverfahren zu gewährleisten und ihre Menschenwürde zu achten. Neun Monate nach dem Feuer im Flüchtlingslager Moria werden sechs junge Afghanen wegen Brandstiftung zu langen Haftstrafen verurteilt. Und das, obwohl kein:e anwesende:r Zeug:in diese in der vermeintlichen Tatnacht gesehen hat. Der Prozess und das Urteil stehen in der Kritik.

Das neue Moria 

Das neue Lager Mavrovouni wurde auf dem Gelände eines ehemaligen Übungsplatzes des Militärs errichtet. Hier leben derzeit rund 4350 Menschen in Containern und Zelten, ohne fließend Wasser und Strom. Sie können das von Stacheldraht und Mauern begrenzte Lager nur eingeschränkt verlassen.

Mit Tareq Alaows besuchte ich das neue Lager Ende Juli. Tareq war das letzte mal im Jahr 2015 auf Lesbos. Als syrischer Flüchtender schlief er damals auf der Straße und versuchte von hier aus weiterzukommen. Heute lebt er in Deutschland und ist aktiv bei der Seebrücke und den Grünen. 

Foto: Janka Schubart

Manos Logothetis führte uns durch das Camp – der Generalsekretär des Ministeriums für Migration und damit quasi der Verantwortliche für die Camps in Griechenland. Mit dabei waren auch der lokale Vertreter der europäischen Kommission und der Leiter des Camps, der auch schon für das ehemalige Moria verantwortlich war. Auf Fragen nach der Bleiverseuchung des Bodens, dem Zugang von NGOs zu dem Camp und die massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit antworteten sie ausweichend. Griechenland hätte – im Gegensatz zu Deutschland – kein Problem mit Mauern, meinte Logothetis auf die Frage, warum ein Flüchtlingslager eingemauert wird. Seiner Auffassung nach müsse man auch die lokale Bevölkerung vor den Geflüchteten schützen. 

Zustände in Mavrovouni 

Die Sommer auf Lesbos sind sehr heiß und die Temperaturen steigen teilweise auf 40°C. In Mavrovouni gibt es kaum Schatten. Die Zelte stehen in der vollen Sonne und es ist staubtrocken. Der Staub legt sich auf alles und ist überall. Im Camp besuchte ich eine Familie in einem Zelt, um mit ihnen über die Lage zu sprechen. Darin war es noch viel heißer als draußen. Ich fand es schon nach wenigen Minuten kaum auszuhalten. Die Menschen dort müssen ihr Leben in solchen Zelten verbringen, wo es im Sommer zu heiß ist und wo sie im Winter frieren. Mit der Lage direkt an der Küste schützen die Zelte auch nicht ausreichend vor Wind und Wasser. Die medizinische Versorgung ist schlecht. Kurz bevor wir das Camp besuchten starb ein drei Monate alter Säugling. Laut lokalen Nachrichten soll das Kind schon in der Nacht vor seinem Tod erbrochen haben, wurde aber nicht rechtzeitig zu einem Arzt gebracht

Große Baustelle 

Das Camp ist derzeit eine große Baustelle, da Wasser- und Stromleitungen gelegt werden und Wohncontainer aufgestellt werden sollen. Die Kommission und die griechische Regierung haben zugesagt, dass diesen Winter niemand mehr in Zelten frieren soll. Ich hoffe sehr, dass sie dieses Versprechen auch einhalten. Seit 2015 mussten auf der Insel bislang jedes Jahr Menschen im Winter in Zelten frieren. 

Obwohl Mavrovouni nur als temporäre Notlösung nach dem Brand in Moria gedacht war und es bereits Pläne für die Errichtung eines neuen Lagers gibt, wird das Camp ausgebaut. Dies hat den Hintergrund, dass sich die Errichtung des neuen Lagers noch hinziehen wird und die Menschen bis dahin nicht weiter ohne fließend Wasser und Strom leben können. Außerdem wird das derzeitige Lager bestehen bleiben und als erneute Notlösung dienen, falls wieder mehr Menschen auf der Insel ankommen. Es ist unklar, ob das neue Camp wirklich errichtet wird und ob dort jemals Geflüchtete untergebracht werden. Auf Lesbos gibt es bei dem Thema Streit zwischen zwei Kommunen und nur eine sehr knappe Mehrheit für die Errichtung eines neuen Lagers. Im September hat die Kommission noch versprochen, dass es sich bei Mavrovouni um ein vorläufiges Lager handeln würde. Daher finde ich es merkwürdig, dass nun überall dort gebaut wird und es wohl noch eine lange Zeit betrieben werden wird. 

Perspektivlosigkeit

Ein Großteil der Menschen im Lager kommt aus Afghanistan – laut Global Peace Index das unfriedlichste Land der Welt. Mit dem aktuellen Vormarsch der Taliban verschlimmert sich die Lage vor Ort jeden Tag. Trotzdem haben viele Bewohner:innen eine zweite Ablehnung ihres Asylantrags erhalten und verharren in Angst vor Abschiebungen und ohne Perspektiven und Unterstützung im Lager. Bei den Anträgen wird gar nicht mehr geprüft, ob die Menschen in Afghanistan oder Syrien sicher waren, sondern nur ob sie in der Türkei sicher waren. Damit schrumpfen auch ihre rechtlichen Perspektiven. Die Stimmung im Lager ist extrem angespannt und die Situation hat starke Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Geflüchteten.

Foto: Johanna Feiler

Viele Menschen leiden auch unter körperlichen Beeinträchtigungen, einige sitzen im Rollstuhl. Sie können sich nur schlecht im Camp fortbewegen und erhalten kaum Unterstützung. Und bei manchen Sachen fragt man sich auch, wie das so passieren konnte. So befindet sich eine Toilette für Menschen mit Behinderung oben im Lager, die mit einem Rollstuhl kaum zu erreichen ist.

Jahrelang ohne Bildung 

Rund 40% der Menschen im Camp sind Kinder. Viele von ihnen haben noch nie eine Schule besucht. In meinem Gespräch mit der Leiterin des UNHCR auf Lesbos, Astrid Castelein, hat sich herausgestellt, dass sich das so schnell auch nicht so schnell ändern wird. Zwar wird versucht, informelle Bildung für die Kinder zu organisieren, doch selbst das ist nicht gewährleistet. Das Ziel sollte sein, formelle Bildung und zuverlässige Strukturen für die Kinder zu schaffen. 

Darüber hinaus äußerte das UNHCR Bedenken über den eingeschränkten Zugang zum Lager, die Unterbringung der Menschen in Zelten im Winter und die Pushbacks. Weder das UNHCR, noch NGOs oder Journalist:innen können sich ankommenden Menschen nähern, wenn die griechische Küstenwache vor Ort ist. 

Die Lage auf Lesbos ist erschreckend. Nicht weil zu viele Menschen im Lager auf der Insel sind, sondern weil kaum noch jemand die Überfahrt schafft. Derzeit erreichen kaum Schlauchboote die Insel. Das ist eine Folge der Pushbacks durch die griechische Küstenwache. Die allermeisten Schutzsuchenden werden durch die griechische Küstenwache abgefangen und misshandelt. Sie dürfen keine Asylanträge stellen, ihre Bootsmotoren werden zerstört, maskierte Männer ziehen sie in türkische Gewässer und lassen sie dort zurück. Das ist zwar hochgradig kriminell, aber der menschenverachtende Umgang mit Menschen in Not ist jetzt so alltäglich, dass es gar nicht mehr auffällt. Ein 17-Jähriger erzählte mir, er sei aus dem Krieg in Syrien geflohen und das Erste, was er in Europa machen musste, war rennen. Die Polizei hat ihn mit Hunden gejagt, wollte auch ihn auf dem Meer aussetzen, aber er konnte sich verstecken. 

Hundertfach sind diese Verbrechen belegt, hundertfach verhindern EU-Kommission und Bundesregierung, dass sie Konsequenzen haben. Man kann an den EU-Außengrenzen im Zeitraffer sehen, wie sich demokratische Grundsätze auflösen und die Willkür regiert. Wer nicht weiß ist, hat an den Europäischen Außengrenzen allzu oft keine Rechte. Wer nicht weiß ist, ist der staatlichen Gewalt schutzlos ausgeliefert.

Besuch bei Frontex-Kräften vor Ort 

Auch die Einsatzkräfte von Frontex vor Ort wissen von den Pushbacks, aber sie schauen systematisch weg, damit diese weitergeführt werden können. Die Luftaufklärung von Frontex vor Ort wurde eingestellt, weil diese wohl zu viele der offensichtlichen Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren würde und Frontex diese dann auch beanstanden müsste. 

Viele Menschen werden aus griechischen Gewässern in der Ägäis gedrängt. Die Motoren der Boote werden abmontiert und die Menschen manövrierunfähig treibend in der Ägäis zurückgelassen. Die Rolle von Frontex in diesen völkerrechtswidrigen Pushbacks haben wir erst kürzlich in der Frontex-Untersuchungsgruppe des europäischen Parlaments untersucht. Die Menschen, die die Insel trotzdem erreichen können, werden in einem Quarantänelager weit abgelegen im Norden untergebracht. 

Mit Frontex habe ich mich über die Umstrukturierung der Agentur und die Arbeit der Beschäftigten vor Ort ausgetauscht. Die selbsterklärte Rolle von Frontex ist die Unterstützung der Mitgliedstaaten beim Grenzmanagement. Zwar streitet Frontex die Beteiligung an Pushbacks ab, doch dass diese stattfinden, ist auch für Frontex schwer zu leugnen. Auch wenn sie es offiziell nicht sagen dürfen, wird in informellen Gesprächen deutlich, dass zumindest manche Frontex-Beamt:innen natürlich wissen, dass es zu Pushbacks kommt. Die griechische Polizei bezeichnet die Kooperation mit der Agentur als exzellent, Details über die Arbeitsabläufe wollen sie aber nicht verraten. Bei der Besichtigung eines Schiffes der italienischen Finanzwache, das Italien Frontex gesendet hat, konnte ich mich davon überzeugen, wie gut diese Schiffe ausgerüstet sind. Das Schiff kann eine Geschwindigkeit von bis zu 120 km/h erreichen. Trotzdem glänzt Frontex durch Abwesenheit bei Seenotfällen in der Ägäis. Viele der Frontexbeamt:innen bleiben nur für wenige Monate vor Ort und haben daher kaum die Möglichkeit sich richtig einzuarbeiten.

Polizeiliche Willkür und eingeschränkte Pressefreiheit 

Es gibt zahlreiche Berichte über Polizeigewalt auf der Insel. So versuchten Schutzsuchende auf einem Schlauchboot, die Insel zu erreichen. An der Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei erzeugten die jeweiligen Küstenwachen Wellen, was eine gängige Praxis ist. Das ist nur ein Beispiel für die fehlende Rechtsstaatlichkeit in dem Land. Auch ich werde immer wieder Zeuge davon, etwa wenn griechische Polizist:innen drohen, mich einzusperren, weil ich vor dem Lager ein Interview aufnehmen will. Die Pressefreiheit wird massiv eingeschränkt. Viele Pressevertreter:innen erhalten keinen Zugang zum neuen Camp. 

Mein Besuch bei Nichtregierungsorganisationen

Doch es gibt auch viele Projekte und Organisationen auf der Insel, die diese Situation nicht hinnehmen und die Lage auf der Insel kontinuierlich verbessern möchten. Ein Beispiel ist das Community Center von One Happy Family, nicht weit vom neuen Lager entfernt. Hier gibt es Sportangebote, ein Cybercafé, eine Bibliothek, eine Werkstatt, einen Safer Space für Frauen* und Mädchen, psychosoziale Beratung, einen Garten, ein Café, einen Spielraum für Kinder und mehr. Das Zentrum wird von Geflüchteten und internationalen Freiwilligen verwaltet. Das Haus befindet sich fußläufig vom Camp erreichbar und bietet viele Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten. Außerdem ist es dort viel gemütlicher als in den Camps. Ein Problem ist aber, dass viele Bewohner:innen des Camps das Angebot nicht oder nur wenig nutzen können. Das liegt daran, dass sie nicht immer raus dürfen, wenn sie wollen oder dass sie sich im Camp für alles Mögliche, vor allem Essen, sehr lange anstellen müssen und damit Zeit verlieren. Wenn sie das Camp dann mal verlassen dürfen, dann nutzen viele die Zeit und ihr weniges Geld, um weitere Lebensmittel und Dinge zu kaufen, die man im Alltag braucht. 

Foto: Johanna Feiler

Darüber hinaus gibt es eine Permakulturfarm, zahlreiche Warenhäuser, Rechtsberatung im Legal Center Lesvos und vieles mehr. In der Schule von Wave of Hope finden Malkurse statt und die Bilder der Geflüchteten werden ausgestellt. Auf Lesbos ist die Konzentration von NGOs recht hoch, auf anderen Inseln wie Chios und Samos sieht die Lage anders aus. 

Das Elend ist politisch gewollt 

Die Lage vor Ort ist absurd: Es stehen beispielsweise zahlreiche Wasser- und Seifenspender in einem spendengefüllten Warenhaus neben Mavrovouni, die nur darauf warten, im Lager angeschlossen und aufgestellt zu werden. Doch die Campleitung untersagt, dass die Spender in das Camp transferiert werden.

Es gibt viel Solidarität mit den Geflüchteten an Europas Außengrenzen. Das zeigen die vielen Spenden, die NGOs und auch die vielen solidarischen Städte und Kommunen, die sich freiwillig bereit erklären, mehr Geflüchtete von den Außengrenzen aufzunehmen. Doch sie dürfen es nicht. 

Die Menschen auf Lesbos müssten nicht auf staubtrockenem Boden ohne Wasser und Strom abgeschottet in Zelten ohne medizinische Versorgung hausen. Es besteht vielmehr der politische Wille, dass die Menschen in Elend leben. Diese unwürdige Situation an unseren Außengrenzen wird geschaffen, um abzuschrecken. Die Lage vor Ort wird absichtlich so schlimm gehalten, damit andere keinen Asylantrag in der EU stellen, weil sie Angst davor haben, dass sie dann in diesen Lagern landen. Es ist eine Schande, dass wir an unseren Außengrenzen so mit Menschen umgehen, die unsere Hilfe brauchen. Dabei sollten wir doch eigentlich stolz darauf sein, Menschen zu helfen und Geflüchtete aufzunehmen.