EU-Staaten kaschieren Entrechtung von Schutzsuchenden mit Mini-Aufnahmeprogramm

Pressemitteilung von Erik Marquardt vom 10.06.2022

Heute treffen sich die Innenminister:innen der EU-Staaten in Luxemburg, um über die Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, Frontex, die Schengen-Reform und Asyl und Migration zu sprechen. Dabei droht eine massive Beschneidung des Asylrechts. Im Windschatten der Ukraine-Krise sollen die Rechte von Schutzsuchenden an den Außengrenzen weiter ausgehöhlt werden. Die fortdauernden massiven Menschenrechtsverbrechen an den EU-Außengrenzen werden erneut nicht deutlich angesprochen. Der im Gegenzug angedachte Solidaritätsmechanismus wird dabei nicht in der Lage sein, der weitgehenden Entrechtung von Schutzsuchenden etwas entgegenzusetzen.

Erik Marquardt, asylpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, kommentiert:

“Die kleinen Erfolge bei den Änderungen im Schengener Grenzkodex hinsichtlich der Binnengrenzkontrollen werden im Rat zu Lasten einer deutlichen Asylrechtsverschärfung erkauft. Die konservativen Hardliner unter den EU-Regierungen setzen sich durch, indem die Praxis von systematischen Menschenrechtsverletzungen durch Gesetzesänderungen normalisieren wollen.

Inzwischen werden auch syrische Geflüchtete oder türkische Oppositionelle an den Außengrenzen entrechtet und allzu oft misshandelt. Durch die angedachten Änderungen im Schengener Grenzkodex wird Mitgliedsstaaten wie Polen, Griechenland oder Kroatien nun eine weitere Rechtfertigung für diese Verbrechen gegeben. Eine “Instrumentalisierung von Migration” soll rechtfertigen, dass Menschen wie an der belarussischen Grenze keinen Zugang mehr zu Asylverfahren haben. Man kann nur hoffen, dass das Europäische Parlament der zunehmenden Rechtlosigkeit an den Außengrenzen einen Riegel vorschiebt.

Koalitionsvertag muss auch auf europäischer Ebene vertreten werden

Vom Kanzleramt und dem Bundesinnenministerium erwarte ich, dass die Inhalte des Koalitionsvertrags auf europäischer Ebene vertreten werden. Im Moment entsteht der Eindruck, dass eine Verstetigung des Leids an den Außengrenzen hingenommen wird, statt Menschenrechtsverletzungen offen zu kritisieren. Eine Koalition der Willigen darf nicht durch eine Entwürdigung von Schutzsuchenden an den Außengrenzen erkauft werden.

Auch wenn man offenbar erreicht hat, dass einige EU-Staaten einem Relocation-Verfahren zustimmen und eine geringe Anzahl von Asylberechtigten umverteilt wird, kann das die vom Rat beabsichtigten Asylrechtsverschärfungen nicht aufwiegen. Durch ein Mini-Aufnahmeprogramm wird die massive Entrechtung von Schutzsuchenden kaschiert. Das gescheiterte Dublin-System wird durch die heutigen Beschlüsse verstetigt – eine ernsthafte Reform wird immer unwahrscheinlicher. Wenn immer weniger Menschen Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren bekommen, hilft auch keine Umverteilung einer kleinen Minderheit der Schutzberechtigten, um das auszugleichen.

Umverteilung bleibt hinter Malta-Mechanismus zurück

Allein im letzten Jahr sind über 30.000 anerkannte Schutzsuchende aus Griechenland nach Deutschland gekommen und mussten erneut Asyl beantragen, weil sie aus Griechenland vertrieben wurden. Deutschland will nun 3.500 Personen geordnet aufnehmen. Das bleibt hinter der Regelung zurück, die unter der Großen Koalition im sogenannten Malta-Mechanismus vereinbart wurde – und das obwohl im Koalitionsvertrag eine Weiterentwicklung des Mechanismus vereinbart wurde.

Im Gegenzug zum Solidaritätsmechanismus sollen nun auch noch Vorprüfungen an den Außengrenzen eingeführt werden, die den Zugang zu Asylverfahren weiter erschweren. Man kann die Tropfen auf den heißen Stein nur loben, wenn parallel kein Feuer unter dem Stein entfacht wird. Heute könnte ein schwarzer Tag für das Europäische Asylrecht sein, hoffentlich kann das Europaparlament die Normalisierung des Unrechts an den Außengrenzen noch verhindern.”

Infos für Geflüchtete aus der Ukraine für die Ankunft in Deutschland

Ich habe hier für Geflüchtete und Helfende viele wichtige Infos und Ansprechpartner:innen zusammengefasst und unten auch nochmal nach Bundesländern sortiert.

Berlin

Allgemeine Infos 

Für schutzbedürftige Flüchtlinge 

Psychologische Hilfe: 1 und 2

Hilfsangebote für Flüchtlinge 

Bereitstellung von Hostels, Pensionen, Hotels, etc. per Email: Immobilienangebote@LAF.berlin.de

Freie Fahrt mit dem VBB 

Hilfe anbieten

Telefonseelsorge Berlin 

Kostenlose Rechtsberatung: 1 und 2

Brandenburg

Allgemeine Infos 

DRK 

Flüchtlingsrat 

Private Angebote für Unterkünfte per E-mail an unterkunftsangebote.ukraine@msgiv.brandenburg.de

Schleswig-Holstein

Afrikanische Journalist:innen zu Gast in Brüssel

Im Zuge eines Programms der taz Panter Stiftung habe ich 16 Journalist:innen aus 15 afrikanischen Staaten für zwei Tage Programm in Brüssel eingeladen, um die Stadt zu erkunden, Fragen zur EU zu stellen, das Europäische Parlament zu besuchen und sich mit verschiedenen NGOs zu vernetzen. Als Teil des Programms der Stiftung haben die Journalist:innen auch ein Magazin produziert, das ihr euch hier anschauen und runterladen könnt.

Auf Wunsch der Teilnehmer:innen war Korruption und Korruptionsbekämpfung in der EU ein zentrales Thema und so begann das Programm auch damit, dass Transparency International ihre Arbeit vorstellte. Im Anschluss brach eine lebendige Diskussion über Korruption in Nigeria, Kenia, Kamerun, Südafrika, Somalia, Ruanda und dem Senegal aus, in der die Teilnehmenden ihre unterschiedlichen Perspektiven und Expertisen einbrachten. Die Teilnehmer:innen tauschten sich über spezifische Probleme in den unterschiedlichen Ländern aus und welche Schwierigkeiten es sowohl auf der Ebene der Gesetzgebung als auch der Durchsetzung von Regeln gibt.

Wie Entwicklungszusammenarbeit näher an der Zivilgesellschaft gestalten?

Daran schloss sich mit Act Alliance und DSW in Vertretung der Dachorganisation CONCORD ein Gespräch über Entwicklungszusammenarbeit und Beziehungen zwischen der EU und der Afrikanischen Union (AU) an. Thema waren hier auch die negativen Effekte, zu denen die Externalisierung europäischer Migrations- und die Abschottungspolitik in Afrika führt. 

Passend dazu tauschten sich die Teilnehmer:innen im Anschluss mit ECRE über europäische Migrations- und Asylpolitik und die Realität an den europäischen Außengrenzen inklusive der zahlreichen Pushbacks in unterschiedlichen EU-Mitgliedsstaaten aus. Thema waren zudem die Pläne, Frontex auch in afrikanischen Staaten wie dem Senegal einzusetzen. Es ging auch um die sogenannte „Partnerschaft für Migration und wirtschaftliche Entwicklung“ zwischen Ruanda und Großbritannien, die durch die Umsiedlung von Asylbewerber:innen aus Großbritannien nach Ruanda einen erheblichen Schritt weiter geht als vorherige Abkommen, europäische Asyl- und Migrationsfragen auf den afrikanischen Kontinent auszulagern. Für mich ist das Abkommen zwischen Großbritannien und Ruanda inakzeptabel, weil damit de facto das individuelle Recht auf Asyl ausgehebelt wird. 

Austausch über meine Arbeit als Abgeordneter

Am Dienstag habe ich der Gruppe eine kurze Einführung in meine Arbeit im Entwicklungs- und Innenausschuss des Europäischen Parlaments gegeben. Dabei sprachen wir wieder über die Verknüpfung von Geldern für Entwicklungszusammenarbeit und Migrationsverhinderung, aber vor allem  die Lage im Mittelmeer. Hier haben wir auch über die Zusammenarbeit von Frontex mit der libyschen Küstenwache gesprochen.

Bei unserem Austausch ging es wieder darum, dass die EU trotz einer sehr überschaubaren Anzahl von Geflüchteten und Migrant:innen aus dem afrikanischen Kontinent eine sehr restriktive Politik fährt, in deren Fokus leider nicht die Wahrung von Menschenrechten steht. Dies führt auch dazu, dass enorm viele Gelder in der EU lediglich in Abschottungspolitik und Rückführungen gesteckt werden, die viel sinnvoller für die Unterstützung von Geflüchteten in Europa eingesetzt werden könnten.

Brain Drain 

Ein weiteres Thema war der immense Brain Drain aus Afrika nach Europa. Hier hat mich insbesondere interessiert, was Lösungsvorschläge der Workshopteilnehmer:innen sind und welche Maßnahmen es in einigen afrikanischen Ländern schon gibt, um Brain Drain zu verhindern. 

Auch mein Kollege Daniel Freund noch einen Vortrag gehalten, in der er über seine Arbeit zur Korruptionsbekämpfung in der EU sprach und im anschließenden Gespräch Erfahrungen aus Afrika und Europa miteinander verglichen wurden, wobei deutlich wurde, dass die zugrunde liegenden Logiken der Korruption kulturell unabhängig sehr ähnlich sind.

Dank der Erfahrungen und Berichte der Journalist:innen aus 15 Staaten Afrikas habe ich viele neue Perspektiven kennengelernt und konnte mich konkret mit Menschen die vor Ort leben, über die Auswirkungen der europäischen Asyl- und Migrationspolitik unterhalten. Es war ein sehr spannendes Treffen und ich hoffe, auch in Zukunft mit einigen der Journalist:innen in Kontakt zu bleiben.

Ein Schritt zur globalen Impfgerechtigkeit oder fauler Kompromiss?

Indien, Südafrika, die USA und die EU haben sich beim TRIPS-Waiver auf einen Kompromissvorschlag geeinigt. Wie der genau aussieht, was das TRIPS-Abkommen überhaupt ist und welche Position die Grüne Fraktion im Europaparlament einnimmt, erfahrt ihr in diesem Beitrag. 

Das TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) wurde 1994 im Rahmen der Uruguay-Runde der GATT-Verhandlungen (General Agreement on Tarifs and Trade) verabschiedet. Das TRIPs-Abkommen wurde damals geschaffen, um die Ausgestaltung geistiger Eigentumsrechte und deren Durchsetzbarkeit in den Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) zu gewährleisten. Das Ziel des Abkommens ist es, das geistige Eigentum zu schützen, ohne dabei Schranken für den legitimen Handel zu setzen. Das Abkommen schafft allerdings kein einheitliches internationales materielles Recht, sondern richtet sich nach dem Territorialitätsprinzip, was bedeutet, dass das TRIPS-Abkommen nur einen Mindestschutzstandard bezüglich dem Gewähren und Durchsetzen von Rechten an geistigem Eigentum schafft, an den die Mitgliedsstaaten sich halten müssen und auch jeweils nur im Mitgliedstaat selbst gilt. Zusätzlich müssen die Regeln aus dem TRIPS-Abkommen in nationale Gesetze implementiert werden, um überhaupt Anwendung zu finden.

Pandemie und der unter Verschluss gehaltene Impfstoff

Ein Impfstoff fällt unter den Anwendungsbereich des TRIPS-Abkommen bzw. des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten, weil es geistiges Eigentum ist und ein Patent ausgestellt wurde. Das sorgt aber auch dafür, dass bestimmte Medikamente unter Verschluss gehalten werden und weniger Menschen zugänglich sind. Aus diesem Grund haben sich Indien und Südafrika schon im Oktober 2020 zusammengeschlossen um einen „waiver“ einzufordern. Mittlerweile haben sich über 100 Staaten angeschlossen, auch das Europäische Parlament unterstützte diese Forderung mit einer im letzten Sommer angenommenen Entschließung. Ziel ist es eine Ausnahmeregelung im TRIPS-Abkommen für den Covid-19-Impfstoff und weitere medizinische Produkte und Technologien zur Pandemiebekämpfung zu erwirken. Momentan ist die Lage so, dass weltweit nur 10 Staaten 75% des hergestellten Impfstoffes für sich behalten haben. 17 Monate nach dem Vorschlag für einen „waiver“, im März 2022 haben sich die EU, USA, Indien und Südafrika (die “Quad”) auf einen möglichen Kompromiss geeinigt, der inzwischen auch veröffentlicht wurde. Der vorläufige Gesetzestext kommt in seiner jetzigen Fassung jedoch dem ursprünglich vorgeschlagenen Waiver nicht mal ansatzweise nahe.

Unsere Kritik und Position

Wir Grünen im Europäischen Parlament begrüßen grundsätzlich, dass es Fortschritte bei der Ausarbeitung eines Waivers gibt, haben aber noch erhebliche Punkte an dem Text auszusetzen. Er ist zu eng gefasst, hat maßgebliche Beschränkungen und wird letztendlich wahrscheinlich für weniger Rechtssicherheit sorgen aufgrund mehrdeutiger Auslegungsmöglichkeiten. Zudem befürchten wir, dass der Text in der jetzigen Fassung einen Negativpräzedenzfall für künftige globale Gesundheitskrisen setzen wird.

Unsere Hauptkritikpunkte an der jetzigen Fassung:

1.     Der Text macht die Auslegung des TRIPS-Abkommens zeitgebunden, nur anwendbar für Covid-19-Impfstoffe und nur für gewisse Mitgliedstaaten der WTO, die sich selbst als “Entwicklungsländer” einstufen

2.     Therapeutika und Diagnostika sind von der Patentaussetzung nicht betroffen

3.     Die problematischen Förderkriterien und die völlige Nichtberücksichtigung der Situation der Importländer können zahlreiche Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen von der Herstellung, Lieferung, Ausfuhr und Einfuhr von Impfstoffen ausschließen und eine Spaltung und Ausgrenzung legitimieren, wodurch die Zugangsmöglichkeiten für alle Menschen eingeschränkt werden

4.     Die bestehenden TRIPS-Flexibilitäten können untergraben und eingeschränkt werden, außerdem können zusätzliche bislang nicht existierende “TRIPS+” Anforderungen eingeführt werden

Neueste Entwicklungen

Am 10. Mai, bei der letzten Sitzung des „General Council“ stimmten die WTO-Mitglieder darin überein, dass der vorläufige Gesetzestext, welcher aus dem informellen Prozess mit dem „Quad“ (USA, EU, Indien und Südafrika) hervorgegangen ist, die Aussicht auf Verhandlungen über eine Antwort zum Thema geistiges Eigentum und COVID-19-Impfstoffe eröffnet. Die Mitglieder begrüßten den Vorschlag als positive Entwicklung. Aus genannten Gründen sehen wir als grüne Fraktion im EU-Parlament die Entwicklungen jedoch skeptisch. Darüber hinaus befürchten wir erneute Schwierigkeiten und Stoff für Verhandlungen, falls neue Varianten von Covid-19 aufkommen. Es ist unklar, welche die weiteren Schritte innerhalb der WTO sein werden, aber der finale Text muss vom WTO-Rat normalerweise mit Konsensus (mindestens jedoch ¾ Mehrheit) verabschiedet werden, bevor er in Kraft treten kann. Als grüne Europaabgeordnete fordern in diesem Zusammenhang, dass die EU die Gewährung einer befristeten Ausnahmeregelung von bestimmten Bestimmungen des TRIPS-Übereinkommens für COVID-19 unterstützt, um den rechtzeitigen weltweiten Zugang zu erschwinglichen COVID-19-Impfstoffen, -Therapeutika und -Diagnostika zu verbessern, indem globale Produktionsbeschränkungen und Versorgungsengpässe angegangen werden.

Krieg in Europa – das könnt ihr jetzt tun

Wir wollen diejenigen, die vor Putin’s Terror fliehen müssen, mit solidarischen Menschen, Organisationen und Initiativen zusammenbringen. Auf der Homepage von LeaveNoOneBehind könnt ihr euch registrieren und erfahren, was ihr tun könnt. 

Es gibt viele Möglichkeiten, je nachdem wie ihr helfen möchtet und wie eure Kapazitäten sind: Ihr könnt spenden, euch als Freiwillige melden, euer Umfeld informieren oder auch direkt eure Hilfsorganisation auf der Homepage anmelden. 

Wir wissen nicht, wie lange der Krieg in der Ukraine dauern wird, aber wir wissen, dass er schon jetzt unvorstellbares Leid anrichtet. LeaveNoOneBehind wird euch selbstverständlich auf dem Laufendem darüber halten, was mit den Spenden passiert. 

In den nächsten Wochen werden tausende Geflüchtete Deutschland und andere europäische Länder erreichen und auch in der Ukraine wird es viel humanitäre Hilfe benötigen. Es gibt viele Möglichkeiten sich aktiv einzubringen: Beim Ankommen, mit Übersetzungen, Behördengängen, Patenschaften oder dem Anbieten von Zimmern und Wohnungen. Damit wir euch einen Überblick der verschiedenen Möglichkeiten bieten können, könnt ihr euch und eure Hilfsangebote auf der Homepage eintragen.

Wir wollen ebenfalls Organisationen und Initiativen unterstützen, die sich im Rahmen der Ukraine-Krise engagieren und mit den Menschen zusammenbringen, die sich solidarisch zeigen. Falls du eine Organisation kennst oder Teil von einer bist, die Hilfe und Unterstützung für die Menschen in der Ukraine anbietet, dann registriere sie doch auf der Homepage.

Delegationsreise des Entwicklungsausschusses in den Libanon

Ende Februar war ich als Leiter einer Delegation von fünf Abgeordneten des Entwicklungsausschusses im Libanon, um mir einen Überblick über die Lage vor Ort zu verschaffen. Die sozioökonomische Krise im Libanon hat sich zugespitzt – viele Menschen haben keinen ausreichenden Zugang zu medizinischer Versorgung, Strom und Wasser. Kinder gehen seit Monaten nicht mehr zur Schule, um ihre Eltern durch Arbeit finanziell unterstützen zu können. 74 % der Menschen sind von Armut betroffen, obwohl der Libanon kein armes Land ist. Von den 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten, die das kleine Land aufgenommen hat, leben 90 % in Armut. Die Bevölkerung im Libanon muss in dieser Krise besser unterstützt werden, es braucht nachhaltige Lösungen. 


Doch auch die Lage der Geflüchteten aus dem syrischen Bürgerkrieg steht auf der Tagesordnung. Die allermeisten Geflüchteten sind nicht in Europa. Diese Menschen haben verdient, dass wir nicht erst an ihr Schicksal denken, wenn sie aus Not und Verzweiflung weiter nach Europa fliehen müssen. Ziel der Reise des Entwicklungsausschusses ist es mit syrischen Geflüchteten zu sprechen und sich ein Bild über ihre aktuelle Situation zu machen. Außerdem sollen Wege diskutiert werden, wie ein Weg aus der sozioökonomischen Krise aussehen kann und welchen Beitrag die EU dazu leisten sollte.

Die Ausschüsse des Europäischen Parlaments organisieren regelmäßige Reisen („missions“) innerhalb und außerhalb der EU, um sich über ein bestimmtes Thema zu informieren oder beispielsweise einer internationalen Konferenz teilzunehmen. Durch die Pandemie lange ausgesetzt, gibt es nun endlich wieder mehr Möglichkeiten, diese wichtige Ebene der parlamentarischen Arbeit wahrzunehmen.

Von der Wirtschaftskrise gebeutelt

Der Libanon ist von einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise betroffen, was sich unter anderem durch den Währungsverfall illustrieren lässt. Innerhalb kürzester Zeit wurden 1.500 libanesischen Pfund für einen Dollar auf 20.000 libanesische Pfund für einen Dollar abgewertet. Das führte zu einem enormen Kaufkraftverlust für die Bevölkerung und zu erheblichen Problemen für den Staat bei der Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen. Die Stromversorgung, die die Regierung nur für eine Stunde pro Tag gewährleisten kann (der Rest hängt von einzelnen Dieselgeneratoren ab), ist besonders problematisch, da sie sich auf alle Bereiche der Gesellschaft auswirkt.

Gesundheits- und Bildungswesen besonders betroffen

Das Gesundheits- und das Bildungswesen sind zwei der am stärksten von der Krise betroffenen Sektoren. Viele Menschen müssen aufgrund der Krise von privaten zu öffentlichen Angeboten wechseln, gleichzeitig gibt es keine Kapazitäten für diese gestiegene Nachfrage: Kein Strom, Mangel an Medikamenten und Ausrüstung, demotiviertes Personal aufgrund von Gehaltseinbußen. So ist beispielsweise das Gehalt einer Krankenschwester von 600 USD auf 40 USD gesunken, während sich die Kosten für den Grundbedarf verzehnfacht haben. Auswanderung wird mehr und mehr als einzige Lösung für junge Berufstätige angesehen.

Treffen mit verschiedenen Hilfsorganisationen und weiteren Akteuren

Wir trafen uns mit einer Vielzahl von Akteuren, angefangen bei der EU und den Mitgliedstaaten, die die libanesische Bevölkerung und die syrischen Flüchtlinge im Land unterstützen. Wir trafen auch mit Organisationen zusammen, die diese Hilfe umsetzen, sowohl mit UN-Agenturen als auch Organisationen der Zivilgesellschaft. Ihre Botschaft war besorgniserregend: Die Krise in Syrien dauert an, und der Libanon steht vor seiner eigenen schweren Krise. Es besteht ein eindeutiger Bedarf an fortgesetzter Unterstützung, aber auch an der Harmonisierung und Koordinierung der zahlreichen Hilfsmaßnahmen, die im Zuge der Verschlechterung der Lage unternommen wurden. Derzeit wird eine sektorübergreifende Bedarfsermittlung durchgeführt, um ein möglichst vollständiges und aktuelles Bild des bestehenden Bedarfs zu erhalten. Sie dürfte bald abgeschlossen sein und ihre Ergebnisse zu besser koordinierten Maßnahmen führen.

Besuch von Projekten für syrische Geflüchtete

Die Delegation besuchte auch konkrete Projekte, die syrischen Geflüchteten und bedürftigen Libanes:innen diese dringend benötigte Hilfe leisten. Wir reisten nach Marj, Zahle und Ghazze im Bekaa-Tal, einer Region, in der eine große Zahl syrischer Geflüchteter lebt. Dort besuchten wir EU-finanzierte Projekte (sowohl von ECHO als auch vom Madad Trust Fund), die von lokalen und internationalen NROs durchgeführt werden. Dazu gehörte ein Zentrum für soziale Entwicklung, in dem die Nichtregierungsorganisation Medair Gesundheitsdienste für syrische und libanesische Menschen anbietet. Wir besuchten auch Projekte, in denen der Dänische Flüchtlingsrat und lokale Partner verschiedene Dienstleistungen und Unterstützung für syrische Geflüchtete (informelle Zeltsiedlung, Rechtsberatung) und Einheimische anbieten, die beispielsweise an einem Projekt zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Syrer:innen und Libanes:innen teilnehmen können. Wir besuchten ebenso ein Zentrum für nicht-formale Bildung, in dem die NGO AVSI und eine lokale NGO die Bedürfnisse syrischer Kinder unterstützen.

Treffen mit libanesischen Gesprächspartner:innen

Wir trafen auch mit den Ministern für Gesundheit, Bildung und Soziales sowie mit Mitgliedern der Nationalversammlung, dem Gouverneur und den Gemeindebehörden im Bekaa-Tal zusammen. Bei unseren Treffen mit libanesischen Gesprächspartner:innen und internationalen Akteur:innen bekräftigten wir unsere Wertschätzung für die Solidarität der libanesischen Bevölkerung, die seit über einem Jahrzehnt rund 1,5 Millionen Geflüchtete aus Syrien beherbergt, was einem Viertel der libanesischen Bevölkerung entspricht. Dies hat eine enorme Belastung für die Infrastruktur und die Ressourcen des Landes mit sich gebracht. Wir haben die Zusage der EU unterstrichen, die Syrer:innen und die libanesischen Aufnahmegemeinschaften weiterhin zu unterstützen.Doch das reicht nicht aus, die Notwendigkeit nachhaltiger Lösungsansätze liegt auf der Hand.

Tiefgreifende Reformen sind notwendig

Diese können für die vertriebenen Syrer:innen erst dann gefunden werden, wenn die Situation eine sichere und freiwillige Rückkehr nach Syrien zulässt – eine Bedingung, die weiterhin nicht erfüllt ist. Für die libanesische Bevölkerung erfordert die Lösung der derzeitigen Krise nicht humanitäre Hilfe, sondern tiefgreifende Reformen, die eine nachhaltige Entwicklung des Landes fördern können. Die EU ist bereit, diese zu begleiten und zu unterstützen, aber der erste Schritt muss von der libanesischen Führung kommen, die sich verpflichtet, mit der internationalen Gemeinschaft ein umfassendes Reformpaket zu vereinbaren und dieses umzusetzen.

Wahlen im Mai

Es war nicht der Schwerpunkt unserer Reise – da eine spezielle Wahlbeobachtungsmission entsandt werden wird -, aber bei unserem Austausch wurde deutlich, dass die bevorstehenden Parlaments- (im Mai) und Präsidentschaftswahlen (im Oktober) ein solches Engagement für Reformen erfordern, um die Bedürfnisse einer Bevölkerung zu lindern, die sich mit ihren Nachbarn solidarisch gezeigt hat und unter der derzeitigen Krise sehr leidet.

Mein Debriefing zur Reise könnt ihr auch hier nachhören (ab 14:49:00), es wird außerdem noch einen offiziellen Parlamentsbericht geben.

So ist die aktuelle Lage auf den griechischen Inseln

Stand: Jahreswechsel 2021/22

Momentan befinden sich auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros offiziell 3.544 Asylsuchende. Hier bekommt ihr einen Überblick über die aktuelle Lage auf den Inseln. Alle Zahlen kommen aus der offiziellen Statistik des griechischen Ministeriums für Migration, die ihr hier einsehen könnt. Unter „National Situation: Migrant and Refugee Issue“ findet ihr die tagesaktuellen Zahlen. 

Sinkende Zahlen auf den Inseln

Viele Menschen wurden in den vergangenen sechs Monaten auf das Festland gebracht. Die meisten davon sind anerkannte Flüchtlinge, die dann jedoch oft in prekären Lebensverhältnissen oder in der Obdachlosigkeit landen. Der WDR hat die Situation schon im Mai aus der Perspektive der betroffenen Kinder festgehalten

Ein weiterer Grund für die stetig sinkenden Zahlen ist die Beschleunigung der Asylverfahren auf den Inseln, die mit einer hohen Rechtsunsicherheit hergeht. Zunächst hat die griechische Regierung die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt. Nicht weil die Türkei ein sicherer Drittstaat ist, sondern weil die meisten Schutzsuchenden über die Türkei einreisen. Somit geschieht keine inhaltliche Prüfung mehr von Anträgen von Menschen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia. 

Gleichzeitig berichten NGOs von eklatanten Mängeln bei den Asylinterviews: ungeschultes Personal, schlechte Übersetzung, kaum Nachfragen. Am Ende kommen so sehr viele negative Bescheide in kurzer Zeit zusammen. Während in den letzten Jahren die Situation auf Lesbos immer mit einem riesigen Rückstau erklärt wurde, und Menschen zum Teil zwei Jahre auf ihr erstes Gespräch mit den Behörden warten mussten, ist es heute üblich, dass die zweite (finale) Entscheidung nach 6-8 Wochen getroffen wird. Wenn möglich, kommen die Menschen dann in sogenannte “Pre-Removal Detention Centers”, auf deutsch Abschiebeknäste, in denen die Zustände desaströs sind. Die meisten wissen nicht einmal, wann sie abgeschoben werden, da durch die Pandemie Abschiebeflüge meist ausgesetzt sind. 

Pushbacks zwischen Griechenland und Türkei

Ein weiterer Grund für die sinkenden Zahlen sind die sinkenden Ankünfte auf den griechischen Inseln. Das liegt an den Pushbacks, die auf See und an Land von der griechischen Polizei durchgeführt werden. 

Das türkische Innenministerium, dessen Kommando auch die Seenotrettung in der Ägäis untersteht, hat mittlerweile eine eigene Website eingerichtet (Pushback Incidents), auf denen die Fälle detailliert und zum Teil mit Videos und Fotos verzeichnet sind. Noch nie wurden in der Ägäis eine solche Zahl an manövrierunfähigen Booten oder Rettungsinseln verzeichnet. Es ist dabei klar, dass die Menschen weder in Booten ohne Motor, noch in Rettungsinseln auf der türkischen Seite losfahren. Die NGO Aegan Boat Report, hat hier in dem Archiv detailliert die Pushbacks zusammengerechnet und archiviert. Hinter jeder Zahl steht eine Person, die ihrem Recht, einen Asylantrag zu stellen, beraubt wurde – und in eine lebensgefährliche Situation auf See gebracht wurde. 

MPCRIS offen

Eine zentrale Entwicklung der Europäischen Migrationspolitik in Griechenland ist die Eröffnung der “Multi-Purpose-Reception and Identification Centers” (MPRICS), die auf den Ägäischen Inseln mit EU-Mitteln gebaut wurden. Die Idee dahinter ist, dass Schutzsuchende abgeschottet von Städten und ungesehen von der Öffentlichkeit hinter Mauern und Stacheldraht untergebracht werden. Um hineinzugelangen, muss man eine Chipkarte und auch Fingerabdrücke abgeben, nachts sind die Menschen dort eingeschlossen. Die Presse kommt nur in Ausnahmefällen rein.  Auf Samos und Kos wurden diese Lager nun eröffnet, auf den anderen Inseln sind die Planungen zum Teil ins Stocken geraten und sollen im nächsten Jahr fertiggestellt werden. Einen weiteren Punkt habe ich in einem Brief mit meiner Fraktionskollegin Alexandra Geese im November thematisiert: Die Lager sind vollkommen mit Videoüberwachung ausgestattet. Teilweise können Mitarbeiter:innen des Ministeriums aus Athen in die privaten Räume der Schutzsuchenden mit Kamera einsehen. Bezahlt wurde dies auch mit Geld aus den EU-Corona-Wiederaufbaufonds, obwohl die Gelder dafür überhaupt nicht vorgesehen sind. 

Das neue Lager auf Lesbos ist noch nicht fertig gestellt, was bedeutet, dass die Menschen im provisorischen Camp Mavrovouni, entgegen aller Versprechungen, noch einen Winter verbringen müssen. Zwar sind mittlerweile einige Container aufgestellt worden und es leben nicht mehr alle Menschen in Zelten. Etliche tun es aber immer noch. Die Situation auf Lesbos wird in dem monatlichen “Lesvos Bulletin” von Oxfam und dem griechischen Flüchtlingsrat zusammengefasst, in dem auch erklärt wird, warum Haft für Schutzsuchende mittlerweile in Griechenland eine ganz gewöhnliche Praxis ist. 

Kriminalisierung 

Die Kriminalisierung von Hilfe und Einschränkung der Pressefreiheit auf den Inseln ist erschreckend. Es gab und gibt mehrere Verfahren gegen Helfende und NGOs, gegen die absurde Vorwürfe erhoben werden. Im November wurde auf Lesbos ein Verfahren gegen 24 Aktivist:innen eröffnet, denen vorgeworfen wird, Schutzsuchende illegal ins Land gebracht zu haben. Dabei haben sie einfach Menschen aus Seenot gerettet. Als zentrales Beweisstück sollen die Weitergabe von Informationen über aktive Seenotrettungsfälle via Messengerdiensten wie WhatsApp dienen. Koordiniert wurde hier Hilfe in einer vom UNHCR dafür eingerichteten Gruppe, in der die beschuldigten Personen Mitglied waren. Der Guardian hat die Geschichte hier aufgeschrieben. 

Auch die Presse wird in Griechenland massiv eingeschränkt. Auf den griechischen Inseln kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Vor ein paar Wochen wurde der Fotojournalist Tim Lüddemann beim Fotografieren eines Lagers von außerhalb festgenommen und über mehrere Stunden hinweg verhört. Danach machte Stavros Maliuchidis öffentlich, dass sein Telefon nachweislich von den Geheimdiensten abgehört wurde. Stavros ist Mitglied im Journalistenkollektiv “We Are Solomon”, dass in Griechenland vor allem zu Migration und Asyl recherchiert. 

Studie: Mangelhafte Ausbildung bei Grenzbeamt:innen

„Ich arbeite bei der Grenzpolizeistation [Name redigiert] und bin seit langem im Grenzschutz. Einige von uns haben nicht mehr den Willen und die Kraft zuzusehen, was mit diesen Menschen gemacht wird. Wir schicken sie jeden Tag nach Bosnien-Herzegowina zurück, ohne Papiere, ohne Bearbeitung, egal wer es ist, Frauen, Kinder, alles egal. Es gibt kein Asyl, es existiert nicht – außer in Ausnahmesituationen, wenn Journalisten da sind.“

Ein kroatischer Grenzschutzbeamter

Unsere grüne Fraktion im europäischen Parlament hat eine Studie über die Aus- und Weiterbildungsprogramme von Grenzbeamt:innen erstellt. Untersucht wurden die Programme in Italien, Griechenland, Ungarn und Kroatien sowie von Frontex und CEPOL (European Union Agency for Law Enforcement Training). Autorin der Studie ist die Sozialpsychologin Helena Bakic. Ziel der Studie war es, herauszufinden, ob die Ausbildungen ausreichend Wissen über Menschenrechte und ihre Bedeutung für die Arbeit an den Grenzen vermitteln und wie die Ausbildungen verbessert werden können.

Es kommt leider regelmäßig zu massiven Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen der EU: Die Berichte über Pushbacks und Rückführungen von Menschen an Orte, an denen ihnen Folter, Gewalt und Tod drohen, reißen nicht ab. Dies widerspricht internationalem Recht. Doch wissen alle Grenzbeamt:innen überhaupt, welche Befehle sie ausführen dürfen und wann Menschenrechte verletzt werden?

Damit Menschenrechte an den Grenzen eingehalten werden können, müssen Grenzpolizist:innen mit dem Recht und ihrer besonderen Verantwortung vertraut sein. Sie sind täglich mit schutzbedürftigen Menschen in Kontakt und häufig der erste Kontakt von Schutzsuchenden mit der EU überhaupt. Das Wissen über die eigene Arbeit und deren rechtliche Grundlagen sind die Voraussetzung für die Erfüllung ihrer Aufgaben. Die Beamt:innen müssen wissen, ob Befehle oder ihr Handeln rechtswidrig sind. Um Menschen vor Gewalt zu schützen, braucht es klare Aufgaben und ein fundiertes Wissen über Menschenrechte. Dies gilt besonders für den Bereich Asyl und Migration, der direkt mit Menschenrechten zu tun hat. 

Are we teaching them right? – Ergebnisse der Studie

Kurze Ausbildungszeiträume der Grenzbeamt:innen von sechs oder weniger Monatenerschweren eine angemessene Ausbildung. Einige Staaten rekrutieren auch Freiwillige ohne besondere Qualifikationen. Andere setzen die Bereitschaftspolizei an der Grenze ein. Auch von Ausbildenden werden keine Kenntnisse über Menschenrechte vorausgesetzt. 

Das Thema wird oft trocken und theoretisch vermittelt. Dabei ist Pädagogik wichtig für eine gute Ausbildung. Inhalte müssen so vermittelt werden, dass sie umgesetzt und angewandt werden können. Sechs Monate Waffentraining bei minimaler Schulung über den rechtlichen Rahmen, in dem sich diese Arbeit bewegt, sind nicht genug. 

Menschenrechte werden nur marginal in den Bildungsprogrammen der Grenzbeamt:innen thematisiert: Der Anteil variiert zwischen 0,4 und 2,5 % der gesamten Ausbildung. In einigen Mitgliedstaaten sind Menschenrechte gar kein Bestandteil der Ausbildung. Obwohl es zu über 50,000 Pushbacks und zahlreichen Berichten von unmenschlicher Behandlung von Schutzsuchenden kam, sind Menschenrechtsverletzungen wie Massenzurückschiebungen an den Außengrenzen bisher kaum Thema in den Ausbildungen. Auch Rassismus und Diversität sowie Kommunikation an den Grenzen werden kaum oder gar nicht thematisiert. 

NGOs werden nur sporadisch bis gar nicht involviert. Dabei könnten auch diese zu einer wirksamen und menschenrechtsorientierten Migrationspolitik an den Grenzen beitragen. Sie verfügen über wichtiges Wissen und könnten neue Ansätze einbringen.

Trotz dieser bitteren Bilanz haben sich viele Ausbildungsprogramme in den letzten Jahren verbessert. Das gemeinsame Kerncurriculum für die Grundausbildung der Grenz- und Küstenwache in der EU (Common Core Curriculum, CCC) wurde 2003 von Frontex entwickelt und zuletzt 2017 überarbeitet. Es setzt Mindeststandards für die Ausbildung von Grenzbeamt:innen. Darüber hinaus gibt es gute Richtlinien und Handbücher für deren Ausbildung wie das UN-Handbuch von 1997 und das Schutzschulungshandbuch des UNHCRs für europäische Grenzbeamt:innen. Letzteres wurde insbesondere mit Blick auf den Schutz der Rechte von Schutzsuchenden im Kontext gemischter Migrationsbewegungen entwickelt. Außerdem wurde eine umfangreiche grundrechtsbasierte Polizeiausbildung entworfen. 

Leider werden diese Programme kaum angewandt und nur ein geringer Anteil der Grenzbeamt:innen nimmt daran teil. Der jährlich stattfindenden Kurs von CEPOL für Strafverfolgungsbeamt:innen über Polizeiethik und Diversity Management etwa hat das Ziel, die Achtung der Grundrechte in der Strafverfolgungsarbeit zu verbessern. An diesem Kurs nahmen in den letzten vier Jahren zwei [!] Grenzbeamt:innen teil.

Wie weiter?

Existierende Programme müssen evaluiert und überarbeitet werden. EU-Mitgliedstaaten, Frontex und CEPOL sollten Menschenrechten einen größeren Platz in ihren Ausbildungsprogrammen zukommen lassen. Ein Schwerpunkt sollte auf die Antidiskriminierung, Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen und auf den Schutz der Grundrechte  gelegt werden. Die Ausbildung sollte durch Expert:innen erfolgen. 

Auch die Lehrmethoden sollten überarbeitet werden und das Fachwissen und die Perspektiven von NGOs in die Ausbildung einbezogen werden. Eine Verbesserung der Menschenrechtsbildung in der Ausbildung schützt die Beamt:innen davor in rechtlichen Grauzonen Straftaten zu begehen und selbst zum Ziel von Strafverfolgung zu werden. 

Wie wichtig das ist, belegt die Studie anhand zahlreicher Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Grenzbeamt:innen. Es liegt der Verdacht nahe, dass diese systematisch stattfinden. Dass Frontex Menschenrechtsexpert:innen nicht einstellt, obwohl die Agentur dazu verpflichtet ist, veranschaulicht, welche Bedeutung dem zugesprochen wird. Frontex ist die größte Agentur der EU und wird beständig ausgebaut. In einer Union, die sich als demokratische Gemeinschaft versteht und die vorgibt, Menschenrechte zu verteidigen, muss sichergestellt werden, dass dies auch in der Praxis geschieht. 

Ausblick

Die genaue Analyse der verschiedenen Programme der Mitgliedstaaten und Agenturen bietet spezifische Verbesserungsmöglichkeiten, angepasst an die jeweilige Situation und auf Grundlage des CCC. Da Grenzpolitik zunehmend europäisch koordiniert wird, müssen wir diese im Parlament genauer untersuchen. Die Diskussion um Grenzpolitik und die Wahrung der Menschenrechte muss verstärkt geführt werden, um weitere Pushbackskandale und weiteres rechtswidriges Verhalten an den Grenzen zu unterbinden und vorzubeugen.

Exkurs nach Deutschland: Rassismus bleibt strukturelles Problem

Nicht nur bei Grenzpolizist:innen ist fehlendes Bewusstsein über Diskriminierung und diskriminierungsarme Praxis zu verzeichnen. Viele Polizeischüler:innen berichten über eine dominante rechte und autoritäre Kultur innerhalb der Ausbildungsstrukturen. Es gibt zahlreiche „Einzelfälle“ faschistischer Chatgruppen bei der deutschen Polizei, unzählige Fälle von Racial Profiling, rechte Terrornetzwerke in deutschen Sicherheitsbehörden, unaufgeklärte Todesfälle in deutschen Zellen und mehr. Der Innenminister weigert sich, eine Studie über Rassismus in der Polizei durchzuführen. Weil er Angst vor dem Ergebnis hat und weil er weiß, dass Rassismus ein strukturelles Problem ist. 

Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften der Akademie der Polizei in Hamburg, plädiert für mehr politische Bildung in der Polizei und eine aufmerksamere Umgebung. Auch Polizeiforscher Hans-Gert Jaschke fordert eine offene Kultur mit mehr Fortbildungsmöglichkeiten innerhalb der Polizei. 

Eine schlechte Ausbildung kann nicht durch erweitertes Monitoring kompensiert werden. Monitoring ist wichtig, um von Grundrechtsverletzungen zu erfahren. Im ersten Schritt muss aber dafür gesorgt werden, dass es zu keinen Missachtungen der Grundrechte kommt. Daher sollte man  an der Ausbildung ansetzen. Gegen vorurteilsbehaftetes Agieren hilft die aktive Auseinandersetzung damit, besonders innerhalb der Aus- und Weiterbildungsprogramme. 

Die ganze Studie könnt ihr hier auf Deutsch und Englisch nachlesen. Die Zusammenfassung und die wichtigsten Kapitel der Studie sind auch auf Französisch verfügbar.

Weiterführende Links gibt es hier:

Keine weiteren EU-Fördermittel für Zwangsarbeit in Eritrea

Mit dem sogenannten „Notfalltreuhandfonds für Afrika“ hat die EU 2015 ein Instrument geschaffen, um „die Ursachen von Instabilität, Vertreibung und irregulärer Migration zu beseitigen und zu einem besseren Migrationsmanagement beizutragen“. Dieser Fond, der außerhalb des EU-Budgets angesiedelt ist und deswegen kaum einer parlamentarischen Kontrolle unterliegt, wurde vom Europäischen Parlament wiederholt kritisiert – auch wegen der Verwendung von Mitteln zur Finanzierung der libyschen Küstenwache.

EU-finanzierter Straßenbau setzt Zwangsarbeiter*innen ein

Die New York Times berichtete in einem Artikel vom Januar 2020, wie 20 Millionen Euro aus dem Fond für ein mit Zwangsarbeit in Verbindung gebrachtes Straßenbauprojekt in Eritrea ausgegeben wurden. Zwar dienten die Mittel ausschließlich der Beschaffung von Material und Ausrüstung für den Wiederaufbau von Straßen, doch für die Bauarbeiten im Zusammenhang mit dem Projekt wurden von der Regierung Eritreas Arbeiter*innen über den Nationaldienst einberufen. Der verpflichtende, unbefristete Nationaldienst (Wehrdienst), zu dem alle Eritreer*innen einberufen werden können, kann als Zwangsarbeit oder moderne Form der Sklaverei eingestuft werden. Direkt nach Veröffentlichung des Artikels stellte ich eine schriftliche Anfrage an die Kommission mit Bitte um Kommentar zu dem Sachverhalt, dass mit Fördermitteln der EU mittelbar Zwangsarbeit finanziert wird.

Ausflüchte durch die Kommission

Wie so oft, war die Antwort sehr ausweichend. So wurde einerseits auf strenge Überwachungs- und Bewertungsverfahren verwiesen und angegeben, dass die EU-Delegation und UNOPS (Büro für Projektdienste der Vereinten Nationen, welches mit der Durchführung beauftragt war), regelmäßig Besuche vor Ort durchführten um „die gelieferten Materialien zu überprüfen, sich beim Bauunternehmen über die Durchführung des Projekts zu informieren und ähnliche relevante Fragen zu erörtern.“ Gleichzeitig wurde Verantwortung weggeschoben, mit der Aussage, dass das von der EU finanzierte Projekt lediglich für die Beschaffung und Lieferung von Material und Ausrüstung aufkomme; die EU aber nicht für Arbeitskräfte bezahle – was ironischerweise genau das Problem darstellt.

Umwidmung der für weitere Projekte vorgesehenen Gelder

Auch bei verschiedenen Ausschusssitzungen machte ich danach weiter auf das Thema aufmerksam, während Kommissionsvertreter*innen Ausflüchte lieferten. Aus diesem Grund schlugen wir Grünen Abgeordneten aus dem Entwicklungsausschuss auch eine Ausschussreise nach Eritrea vor, u.a. um uns vor Ort selbst ein Bild von der Lage zu machen. Wegen der Coronapandemie wurde die Reise leider abgesagt. Umso überraschter war ich, als die Kommissarin für internationale Partnerschaften, Jutta Urpilainen, den Ausschuss im April dieses Jahrs informierte, dass die Gelder, die für die zweite Tranche des Projekts vorgesehen waren, sowie alle weiteren für Eritrea vorgesehenen Fonds für andere Prioritäten im Horn von Afrika umgewidmet werden sollen. Dies wurde offiziell mit dem mangelnden Interesse der eritreischen Regierung an den Förderprojekten begründet.

Fehlende Informationsrechte des Europäischen Parlaments

Die Entscheidung wurde im Mai 2021 durch den operativen Ausschuss bestätigt. Da das Europäische Parlament keinen Sitz in dem Ausschuss hat und auch nicht über dessen Entscheidungen informiert wird – was wir Abgeordneten auch kürzlich noch einmal im Implementierungsbericht zu den Treuhandsfonds und der Türkeifazilität kritisiert haben – konnte ich diese Bestätigung erst einige Monate später in Erfahrung bringen. Ich begrüße die Entwicklung jedoch ausdrücklich.

Anfrage: Kriminalisierung von Schutzsuchenden in Griechenland

Um abzuschrecken, verurteilt Griechenland Schutzsuchende zu langen Haftstrafen – gedeckt von der Kommission, die sich weigert einzuschreiten und sich nicht für zuständig erklärt. So wurde Hanad Abdi Mohammad zu einer Haftstrafe von insgesamt 142 Jahren verurteilt, weil er das Steuer eines Bootes übernahm und dabei 31 Menschen rettete. Mit anderen Abgeordneten habe ich gefragt, ob die EU-Kommission sicherstellen wird, dass Griechenland das Völkerrecht einhält und hier eingreifen wird. Diese Frage wurde von der Kommission nicht beantwortet, weiß bedeutet, dass die Kommission nichts zu tun gedenkt.

Meine komplette Anfrage zur Situation in Griechenland und die Antwort der Kommission findet ihr hier:

Meine Anfrage

Betrifft: Kriminalisierung von Migrant:innen in Griechenland

Am 25. Juni 2021 veröffentlichte die New York Times einen Artikel mit dem Titel „He Saved 31 People at Sea. Then Got a 142-Year Prison Sentence“ (Er rettete 31 Menschen das Leben und wurde dann zu 142 Jahren Gefängnis verurteilt). Darin wird geschildert, wie Hanad Abdi Mohammad das Steuer eines Bootes mit 33 Personen übernahm, die aus der Türkei nach Griechenland gelangen wollten, und es in Sicherheit brachte. Daraufhin wurde er wegen Menschenschmuggels zu einer Freiheitsstrafe von 142 Jahren verurteilt, von der er 20 Jahre, die nach griechischem Strafgesetzbuch zulässige Höchststrafe, zu verbüßen hat.

In dem Zeitungsartikel wird darauf hingewiesen, dass Asylsuchende, die das Steuer übernehmen, nachdem Schleuser ein Boot verlassen haben, immer häufiger zum Zweck der Abschreckung und Einschüchterung von einem Gericht schuldig gesprochen und verurteilt werden. Die nichtstaatliche Organisation „Border Monitoring“ hat mindestens 48 Fälle dieser Art allein in Chios und Lesbos festgestellt. Hinzu kommt die Kriminalisierung der irregulären Einreise im Jahr 2020, als Dutzende von Migranten an der griechisch-türkischen Landgrenze zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, anstatt zur Feststellung ihrer Personalien in Aufnahmezentren gebracht zu werden. Schuldsprüche gegen Flüchtlinge als Schleuser verstößt gegen die Asylvorschriften der EU, denen zufolge Flüchtlinge das Recht eingeräumt wird, Asyl zu beantragen.

Wie wird die Kommission sicherstellen, dass Griechenland das EU-Recht und das Völkerrecht in solchen Fällen einhält?

Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 18.10.2021:

Die Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt fällt unter die Schleuser-Richtlinie[1]. Gemäß den Verträgen sind die nationalen Behörden und nicht die Kommission dafür zuständig, Fälle von Menschenschleusung zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen.

In den Leitlinien der Kommission zur Umsetzung der Schleuser-Richtlinie[2] wird klargestellt, dass die Mitgliedstaaten auf Sanktionen verzichten können, wenn der Zweck der Tätigkeit darin besteht, humanitäre Hilfe zu leisten. Ferner wird in den Leitlinien klargestellt, dass gesetzlich vorgeschriebene humanitäre Hilfe niemals unter Strafe gestellt werden darf. Die Kommission wird weiterhin in engem Kontakt mit den Behörden der Mitgliedstaaten stehen, um Informationen über die Umsetzung des Schleuser-Pakets einzuholen und gegebenenfalls bei Verstößen gegen EU-Recht Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten[3] Darüber hinaus wird sie im Zusammenhang mit der Umsetzung des neuen EU-Aktionsplans zur Bekämpfung des Schmuggels (2021-2025) über die Umsetzung des Schleuser-Pakets einschließlich der oben genannten Leitlinien Bericht erstatten.

Die Asylverfahrensrichtlinie[4] sieht vor, dass die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen dürfen, weil sie internationalen Schutz beantragt hat. Inhaftierte Personen sollten über die Möglichkeit, internationalen Schutz zu beantragen, informiert werden. Außerdem müssen die Mitgliedstaaten den Häftlingen gemäß Artikel 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zeitnah Zugang zum Asylverfahren gewähren.


[1] Richtlinie 2002/90/EG (ABl. L 328 vom 5.12.2002, S. 17).

[2] C(2020)6470 vom 23. September 2020.

[3] Mitteilung der Kommission „EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung“ (C(2016) 8600, ABl. C 18 vom 19.1.2017, S. 10).

[4] Richtlinie 2013/32/EU (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 60).

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