Der humanitäre Korridor nach Syrien wurde verlängert – mit Zugeständnissen an Russland

Am Sonntag ist das Mandat für den letzten verbliebenen Grenzübergang für humanitäre Hilfe nach Syrien ausgelaufen. Nachdem Russland am Freitag die Resolution Irlands und Norwegens zur  Offenhaltung des Grenzübergangs für ein weiteres Jahr mit einem Veto verhindert hatte, wurde am Dienstag  ein “Kompromisstext” angenommen. Dieser verlängert die humanitäre Unterstützung über den Grenzübergang für weitere sechs Monate. Nach Annahme der Resolution fielen laut der syrischen Zivilschutzeinheit White Helmets russische Bomben u.a. auf Idlib – die Region, für welche die humanitäre Hilfe dieses Grenzübergangs bestimmt ist. 

Durch den humanitären Korridor Bab al-Hawa, der die Türkei mit der Idlib-Provinz verbindet, können nun also weiterhin internationale Hilfsgüter aus der Türkei nach Syrien transportiert werden. 2014 wurden vier solcher humanitären Grenzübergänge durch den UN-Sicherheitsrat beschlossen, in den letzten Jahren sind jedoch bereits drei von ihnen durch Vetos von Russland und China geschlossen worden. Russland hatte immer wieder damit gedroht, auch den letzten verbleibenden Grenzübergang nicht zu verlängern. Dann könnte humanitäre Unterstützung nur noch über Damaskus erfolgen. Syrische wie internationale Organisationen warnen  immer wieder davor, dass eine solche Entscheidung das Leid der syrischen Zivilbevölkerung weiter verstärken würde. Auch UN-Generalsekretär António Guterres hatte die Mitglieder des Sicherheitsrates dazu aufgerufen, die Laufzeit für den humanitären Korridor zu verlängern.

Warum braucht es diese Grenzübergänge für humanitäre Güter? 

Die Folgen des jahrelangen Krieges, Wirtschaftskrise, COVID-19 Pandemie: Nach UN-Schätzungen sind derzeit 14,6 Millionen Syrer:innen auf humanitäre Hilfe angewiesen. So viele wie nie zuvor. 12 Millionen Menschen in Syrien sind  von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, 90 Prozent leben in Armut. Die Bereitstellung und Verteilung von Grundgütern ist in Syrien jedoch eine komplexe Angelegenheit, wenn sie die gesamte Zivilbevölkerung erreichen soll: Hilfsgüter werden vom Kriegsverbrecher Bashar Al-Assad für seine eigenen politischen Zwecke missbraucht. Verschiedene Gebiete Syriens stehen weiter unter Kontrolle verschiedener Parteien und Gruppen, auch wenn das syrische Regime weite Teile zurückerobert hat. Humanitäre Unterstützung ist insbesondere in Gebieten außerhalb der Regimekontrolle schwierig, da das syrische Regime Hilfsgüter dort oft nicht verteilt oder durchlässt. Daher ist es für die Grundversorgung der Zivilbevölkerung unerlässlich, dass Hilfsgüter auch von außerhalb in das Landesinnere gebracht werden können. Etwa 60% der Menschen im Nordwesten Syriens, davon mehr als die Hälfte Binnenvertriebene, sind auf humanitäre und medizinische Unterstützung über den Grenzübergang angewiesen. 

Stärkung des Regimes durch Hilfsgüter?

In der Studie Rescuing Aid in Syria argumentiert Natasha Hall vom Center for Strategic & International Studies, dass Hilfsgelder an das syrische Regime keine bessere Versorgung der syrischen Zivilbevölkerung, sondern eine Stärkung des syrischen Regimes zur Folge hätten. Humanitäre Unterstützung würde vom Regime abgefangen und insbesondere in vom Regime kontrollierte Gebiete weitergeleitet werden. Syrische zivilgesellschaftliche Organisationen fordern daher seit Jahren von der UN, keine Kooperationen mit dem syrischen Regime einzugehen und humanitäre Versorgung losgelöst davon zu organisieren. Das Syrian Legal Development Programme und Human Rights Watch kritisieren, dass die UN bei ihrer Zusammenarbeit mit Partnern in Syrien nicht hinreichend auf menschenrechtliche Garantien achteten und so riskierten, Akteure zu finanzieren, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind. Bereits 2016 haben über 50 Organisationen den Bericht The United Nations’ Loss Of Impartiality, Independence And Neutrality In Syria unterstützt. In diesem kritisiert the Syria Campaign die UN scharf: Durch Zusammenarbeit mit dem syrischen Regime verstoße die UN in Syrien gegen die drei humanitären Grundsätze der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität.

Was hat das mit uns in Europa zu tun?

Die EU und insbesondere Deutschland sind Hauptgeldgeber für humanitäre Unterstützung in Syrien. Wir müssen uns kritisch mit der momentanen Art der humanitären Unterstützung vor Ort auseinandersetzen und die Kritik der syrischen Zivilbevölkerung ernst nehmen. Denn unsere Gelder dürfen nicht dafür sorgen, die Macht von Bashar Al-Assad zu zementieren. Unsere Verantwortung ist es sicherzustellen, dass die humanitäre und medizinische Unterstützung alle Bedürftigen erreicht und nicht in die Hände des syrischen Regime fällt. Dafür sind Grenzübergänge für humanitäre Güter unerlässlich. Nur so kann humanitäre und medizinische Unterstützung an dem syrischen Regime vorbei ins Landesinnere gebracht werden.

Die Verlängerung des Grenzkorridors Bab al-Hawa für weitere sechs Monate lässt viele zwar für einen Moment aufatmen, jedoch ist die humanitäre Situation in Syrien schon jetzt katastrophal. In einem halben Jahr wird das Bangen um die Offenhaltung des Grenzübergangs von neuem beginnen und Assads Verbündeter Putin wird wieder zeigen, dass er die syrische Zivilbevölkerung eher als geopolitischen Spielball sieht und Menschen und ihr Leid für seinen Machterhalt missbraucht.