Offener Brief an Heiko Maas zu Abschiebungen nach Afghanistan
Die Taliban erobern immer mehr Gebiete, Menschen fliehen und die afghanische Regierung bat um einen Abschiebestopp. Ich habe all diese Ereignisse zum Anlass genommen, um einen Brief an Heiko Maas zu schreiben. Ich bitte ihn darum, die Einschätzung der aktuellen Sicherheitslage im Lagebericht unabhängig von etwaigen innenpolitischen Motiven und entsprechend der neuen Erkenntnisse und Entwicklungen anzupassen.
Sehr geehrter Herr Bundesminister Maas,
die Sicherheitslage in Afghanistan ist dramatisch. Afghanistan ist laut Global Peace Index das unfriedlichste Land der Welt. Seit Beginn der Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban steigt die Zahl ziviler Opfer weiter, Kampfhandlungen nehmen zu. Der hektisch begonnene Abzug der US- und NATO-Truppen birgt schwerwiegende Risiken für die Stabilität des Landes und seine Zivilbevölkerung. Die Taliban kontrollierten Ende Juni bereits 157 Distrikte in Afghanistan, doppelt so viele wie noch Anfang Mai. Damit befinden sich 40% der Distrikte in den Händen der Taliban, ebenso viele sind umkämpft.
Aufgrund der Unsicherheit haben viele Botschaften bereits jetzt ihr Personal abberufen, Australien hat als erstes Land seine Botschaft in Kabul sogar bereits geschlossen. Auch die humanitäre Situation in Afghanistan ist besorgniserregend. 2021 ist etwa die Hälfte der Bevölkerung, 18,4 Million Menschen, auf humanitäre Hilfe angewiesen, Anfang 2020 lag die Zahl noch bei 9,4 Millionen Menschen. Gründe dafür sind neben dem anhaltenden Konflikt auch Naturkatastrophen, chronische Armut, Ernährungsunsicherheit und nicht zuletzt die zusätzliche Belastung durch die COVID-19 Pandemie.
Laut einer aktuellen Studie über die Erfahrungen von aus Deutschland abgeschobenen Afghanen sind diese, ihre Angehörigen und Unterstützer:innen sowohl von den Taliban, als auch durch staatliche Akteure und ihr soziales Umfeld von Gewalt bedroht. Ein Großteil der Befragten erlitt nach Ankunft in Afghanistan aufgrund ihres vorherigen Aufenthalts in Europa und der damit einhergegangenen „Verwestlichung“ Gewalt. Eine Existenzsicherung war aufgrund der wirtschaftlichen Lage und sozialer Ausgrenzung so gut wie unmöglich, weshalb 70% der Interviewten das Land nach kurzer Zeit erneut verlassen mussten. Denjenigen, denen diese Möglichkeit nicht gegeben ist, bleibt oft kaum ein anderer Weg zur Existenzsicherung, als sich Kriegsparteien oder Banden anzuschließen. Durch die Kontrolle zahlreicher Gebiete und Verbindungsstraßen durch die Taliban ist es für Rückkehrende zudem kaum möglich, ihre Herkunftsprovinzen zu erreichen.
Nach neuesten Erkenntnissen soll am 21. Juni ein im Februar aus Deutschland abgeschobener Afghane durch eine Granate gestorben sein. All diese Erkenntnisse legen nahe, dass die momentane Sicherheitslage in Afghanistan und die drohende Gewalt bei Rückführungen einen Abschiebestopp unabdingbar machen. Auch die afghanische Regierung bittet darum, Abschiebungen aufgrund der Sicherheitslage vorübergehend auszusetzen.
Trotzdem finden weiterhin Sammelabschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan wie zuletzt am 06.07.2021 statt, Sie äußerten sich am 05.07.2021 in Madrid wie folgt: „Bisher gab es sicherlich eine Zunahme von Gewalt, die es auch in der Vergangenheit gegeben hat. Sollte sich das weiter dramatisieren, wird sich das auch in unseren Berichten niederschlagen“. „Welche Auswirkungen das dann auf die Frage hat, ob Menschen noch abgeschoben werden können nach Afghanistan, wird man dann sehen. Bei dem was, wir bisher an Informationen haben, halte ich die bisherige Praxis aber nach wie vor für vertretbar.“
Laut dem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand Juni 2020 in der Fassung vom 14.01.2021) seien dem Auswärtigen Amt „keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden“. Darüber hinaus werden einige Gebiete in Afghanistan als sicher bezeichnet, aktuelle Entwicklungen sind nicht berücksichtigt. Aus den grundsätzlichen Anmerkungen des Berichts geht hervor, dass bei plötzlich eintretenden Veränderungen der Lage entweder ein ad-hoc-Bericht erstellt werde oder die Empfänger:innen auf die mangelnde Aktualität des Berichts aufmerksam gemacht werden. Außerdem wird darauf verwiesen, dass korrekte Informationen aus Afghanistan nur außerordentlich schwer zu erhalten seien. Wurde ein solcher ad-hoc-Bericht erstellt oder wird angesichts der sich schnell verändernden Sicherheitslage mit weitreichenden Auswirkungen darauf hingewiesen, dass der Bericht die aktuelle Lage nicht mehr entsprechend darstellt? Ich begrüße, dass der Lagebericht des Auswärtigen Amts derzeit überarbeitet wird. Ich bitte Sie, die Einschätzung der aktuellen Sicherheitslage im Lagebericht unabhängig von etwaigen innenpolitischen Motiven und entsprechend der neuen Erkenntnisse und Entwicklungen anzupassen und mir den aktuellen Bericht zukommen zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Erik Marquardt