An der lettischen EU-Außengrenze werden Flüchtende ihrer Rechte beraubt

Am 10. August 2021 erklärte Lettland aufgrund steigender Geflüchtetenzahlen den Ausnahmezustand in vier Grenzregion zu Belarus. Diese Verordnung hat zur Folge, dass das Militär zur Grenze geschickt wird, das Asylrecht in diesen Gebieten ausgesetzt wird und folglich die meisten Geflüchteten gewaltsam wieder nach Belarus gepushbackt werden. Außerdem wird Presse und NGOs der Zugang zu jenen Regionen verboten, was eine unabhängige Überwachung der Situation und humanitäre Hilfe sowie den Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren verhindert. Amnesty International hat nun über ein Jahr die Situation an der Grenze beobachtet, Interviews mit Grenzbeamten und Geflüchteten geführt und die Ergebnisse in ihrem Report hier veröffentlicht. 

Im Sommer 2021 hat die lettische Regierung die Grenzregionen zu einem Ausnahmegebiet erklärt. Die lettische Regierung legitimierte dieses Vorgehen damit, dass Geflüchtete von Belarus gegen Lettland instrumentalisiert würden. Die Erklärung eines Ausnahmezustandes erlaubt es einem Staat, bestimmte Menschenrechte unter extremen Umständen einzuschränken, wenn eine „Bedrohung für das Leben der Nation“ besteht. Obwohl sich die Zahlen der Personen, welche es versuchen, über die Grenze nach Lettland zu kommen, massiv verringert haben, bis hin zu verschwindend gering, hat die lettische Regierung ihre Maßnahmen immer wieder verlängert. Sie greifen aktuell immer noch, obwohl im August gerade einmal 35 offizielle Asylanträge in Lettland gestellt wurden. Dass diese Anzahl keine “Bedrohung für das Leben der Nation” darstellt, ist offensichtlich.

Schutzsuchende stecken fest 

Aus den Aussagen der interviewten Personen geht hervor, dass Lettland massiv gegen Menschenrechte an seinen Grenzen verstößt und die Menschen teilweise Monate in dem Grenzgebiet feststecken. Dort werden sie abwechselnd von den belarussischen und lettischen Grenzbeamten mit Gewalt über die Grenze in beide Richtungen hin und her geprügelt. Ein Geflüchteter berichtet, dass er über 3 Monate in der Grenzregion festgesteckt hat und insgesamt mehr als 150 Mal über die Grenze geschoben wurde, mit einer Höchstzahl von bis zu acht Pushbacks an einem einzigen Tag. Eine typische Horrorreise im Limbo der Grenzregion schaut wie folgt aus: Die Asylsuchenden versuchen über die grüne Grenze durch den Wald lettisches Gebiet zu erreichen um dort einen Asylantrag zu stellen. Auf lettischem Territorium werden sie von Grenzbeamten aufgegriffen und irgendwo im Wald, weit ab von der Zivilgesellschaft, Presse und NGOs in nicht registrierte Zelt Camps gebracht. Hier werden die Grenzbeamten in offiziellen Uniformen von sogenannten Kommandos abgelöst. Männer, mit Schnellschusswaffen, vermummten Gesichtern und komplett in schwarz gekleidet, ohne jegliche Erkennungsmerkmale auf Zugehörigkeit zu einer offiziellen Behörde. Diese Kommandos schikanieren die Geflüchteten, schlagen und misshandeln sie. Es werden Schlagstöcke und Elektroschocker benutzt – teilweise sogar an Genitalien. Ihnen werden die Handys und Wertsachen abgenommen. Die Schutzsuchenden müssen über Nacht in einem Zelt mitten im Wald schlafen, teilweise im Freien, bei bis zu -20 Grad. Auch nehmen die Kommandos ihnen die Feuerzeuge ab, die einzige Möglichkeit ein Feuer zu machen um sich gegen die kalten Temperaturen zu wärmen und gegen Wölfe und Bären abzusichern. Oftmals werden die Geflüchteten in den frühen Morgenstunden in Bussen wieder an die Grenze nach Belarus gefahren und müssen den Rest des Weges durch den Wald zurückgehen. 

In Belarus

In belarussischen Gebiet werden die Menschen von den Grenzbeamten mit angehaltener Waffe dazu gezwungen, sich wieder durch den Wald Richtung Lettland aufzumachen. So werden die Flüchtenden über Wochen und Monate zwischen den zwei Ländern hin und her gepusht. In den Zeltcamps, irgendwo im Wald, gibt es keine sanitären Anlagen. Der Wald in den Grenzgebieten ist voller Kameras, wodurch die Grenzbeamten die Flüchtenden fast immer aufgreifen können, bevor sie es weiter ins Land hinein schaffen. In diesem Limbo, zwischen den Grenzen, sind die Menschen schutzlos Gewalt und Kälte ausgesetzt, ohne jeglichen Zugang zu einem Asylverfahren, welches ihnen laut EU-Recht und der Genfer Flüchtlingskonvention zustehen würde.

Zwang zur Rückreise 

Um dieser Hölle zu entgehen, werden die Menschen auf der Flucht dazu genötigt, sogenannte Rückreiseverträge zu unterschreiben, um anschließend in ihre Herkunftsstaaten abgeschoben werden zu können.  In Lettland organisiert die Internationale Organisation für Migration (IOM) diese Rückführungen. In mindestens zwei dokumentierten Fällen haben Geflüchtete die IOM-Beamten darauf aufmerksam gemacht, dass sie dies nicht freiwillig tun und nicht in ihre Heimatländer zurück wollen – sie wurden jedoch ignoriert. Amnesty International sucht nach über 30 Menschen, die vermisst werden. 

Lettland verstößt gegen EU-Recht 

Die lettische Regierung behauptete gegenüber dem EU-Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, dass alle Menschen, welche die Grenzbeamten in den Grenzgebieten aufgreifen in Geflüchtetenunterkünfte gebracht werden, in welchen sie einen Asylantrag stellen können. Dass dies jedoch nur selten der Fall ist, belegt der Bericht von Amnesty. Die Situationen an der polnisch-belarussichen Grenze, sowie an der litauischen-belarussischen Grenze sind ähnlich. Im Juni 2022 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union, dass das litauische Asyl- und Migrationsgesetz, welches die Möglichkeiten der Menschen, während des Ausnahmezustands Asylanträge zu stellen, einschränkt und die automatische Inhaftierung von Asylbewerbern vorsieht, nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Jedoch hat sich in der Praxis nichts verändert. 

Anfrage: Fälle von „Drift-backs“ in der Ägäis

Ich habe eine Anfrage an die Kommission zu den dokumentierten „Drift-Backs“ in der Ägäis gestellt. Auf meine Frage, ob die Kommission endlich diese Menschrechtsverletzungen an der griechischen Grenze einräumt erhalte ich mal wieder keine Antwort. Die Kommission bleibt schwammig in ihren Aussagen und weist nur darauf hin, dass sie die griechischen Behörden aufgefordert hat alle Vorwürfe zu untersuchen. Das dabei jedoch nicht viel rauskommt, wenn eine Behörde, die Menschenrechtsverletzungen selbst begeht, ihre eigenes Fehlverhalten untersuchen soll, ist selbsterklärend. Nachdem dies der Fall ist, sollte die Kommission als Hüterin der Verträge ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einleiten um die vielfach dokumentierten Verletzungen der Rechtstaatlichkeit und der Menschenrechte aufzuklären. Denn unsere Grenzen sind nur geschützt, wenn auch unsere Grundrechte an ihnen geschützt werden.

Die Anfrage mit Antworten in mehreren Sprachen findet ihr hier.

Meine Anfrage

Die Rechercheagentur „Forensic Architecture“ hat vor kurzem gemeldet, dass die griechische Küstenwache teilweise mit der Unterstützung von Frontex in 1.018 Fällen Flüchtlinge auf Rettungsinseln ausgesetzt hat, damit sie so aus griechischen Gewässern zurück an die türkische Küste treiben, was auch als „Drift-back“ bezeichnet wird. Obwohl es immer mehr Belege für diese Praxis gibt, ist die Reaktion der Kommission darauf bislang sehr verhalten und zweideutig gewesen, was den Eindruck erweckt, dass sie die griechischen staatlichen Stellen decken will, anstatt als Hüterin der Verträge aufzutreten.

  • Gedenkt die Kommission, gemeinsam mit Frontex Maßnahmen im Hinblick auf die genannten Fälle zu ergreifen, oder geht sie davon aus, dass die griechische Transparenzbehörde diese Vorkommnisse zum Gegenstand einer unabhängigen Untersuchung machen wird?
  • Berücksichtigt die Kommission bei der Behandlung der systematischen Menschenrechtsverletzungen, die der griechischen Regierung zur Last gelegt werden, den Interessenkonflikt angesichts der Parteizugehörigkeit von Vizepräsident Margaritis Schinas, der im Kollegium der Kommissionsmitglieder für die Förderung unserer europäischen Lebensweise zuständig ist?
  • Räumt die Kommission die häufigen und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen an den griechischen Grenzen endlich ein, nachdem eine Vielzahl etablierter Akteure eine lange Liste von Beweisen veröffentlicht hat?

Die Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 13.10.2022

  1. Die Zuständigkeit für die Untersuchung mutmaßlicher Zurückweisungen liegt bei den nationalen Behörden. In diesem Zusammenhang informierten die griechischen Behörden die Kommission über Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die Einhaltung der Grundrechte zu gewährleisten. Dazu gehören interne Kontrollverfahren, Untersuchungen durch unabhängige Behörden und die Möglichkeit von Staatsanwälten, Vorwürfe zu untersuchen*. Die Kommission wird weiterhin mit den griechischen Behörden zusammenarbeiten, um die erzielten Fortschritte zu überwachen.
  2. Vizepräsident Schinas hat keinen Interessenkonflikt. Gemäß dem Verhaltenskodex für die Mitglieder der Kommission liegt ein Interessenkonflikt vor, wenn ein persönliches Interesse die unabhängige Wahrnehmung der Aufgaben eines Kommissionsmitglieds beeinflussen kann. Persönliche Interessen umfassen unter anderem, jedoch nicht ausschließlich, potenzielle
    Vergünstigungen oder Vorteile für die Mitglieder selbst, ihre (Ehe-)Partner oder direkte Familienangehörige. Ein Interessenkonflikt liegt nicht vor, wenn ein Kommissionsmitglied lediglich als Teil der allgemeinen Öffentlichkeit oder einer breiten Bevölkerungsschicht betroffen ist. Folglich schaffen die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei ebenso wie politische Überzeugungen keinen Interessenkonflikt.
  3. Die Mitgliedstaaten sind nach dem EU-Recht verpflichtet, unbefugtes Überschreiten der EU-Außengrenzen im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, einschließlich des Rechts auf Asyl und des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, zu verhindern und abzuwenden. Die Achtung der Grundrechte ist ein nicht verhandelbarer Bestandteil der Umsetzung des integrierten europäischen Grenzmanagements, und die Kommission hat die zuständigen nationalen Behörden wiederholt aufgefordert, Vorwürfe gründlich zu untersuchen und die Verantwortlichen gegebenenfalls vor Gericht zu bringen.

*Den neuen Vorschlägen zufolge werden die griechischen Behörden weiter an einer dreistufigen Struktur arbeiten und sich dabei auf Folgendes stützen: a) interne Kontrollverfahren, mit denen Straftaten im Zusammenhang mit Einsätzen der griechischen Polizei oder der griechischen Küstenwache untersucht und
verfolgt werden sollen, b) Untersuchungen durch unabhängige Behörden wie den griechischen Bürgerbeauftragten und die nationale Transparenzbehörde, und c) die Möglichkeit von Staatsanwälten, Vorwürfe nach einer entsprechenden Beschwerde bzw. Presse- und NRO-Berichten zu untersuchen. Zuletzt haben die
griechischen Behörden im Anschluss an Gespräche zwischen Kommissarin Johansson und den zuständigen Ministern in Griechenland am 30. Juni 2022 Rechtsvorschriften erlassen, die unter anderem die Einsetzung eines Grundrechtsbeauftragten und eines spezifischen Überwachungsausschusses für Grundrechte innerhalb des Ministeriums für Migration und Asyl umfassen. Der Grundrechtsbeauftragte und der Ausschuss werden sich sowohl mit Beschwerden im Zusammenhang mit Grenzeinsätzen als auch im Zusammenhang mit Asylverfahren befassen.

Grüne Delegationsreise zur griechischen Grenze

Ich war vom 19 bis 21. September als Teil einer Delegation meiner Fraktion im Europaparlament gemeinsam mit den Abgeordneten Tineke Strik aus den Niederlanden, Saskia Bricmont aus Belgien und Gwendoline Delbos-Corfield aus Frankreich nach Griechenland gereist. Ziel der Reise ist es, uns ein Bild zur aktuellen Lage der Geflüchteten in Griechenland zu machen – aber auch zur Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Pressefreiheit insgesamt. Die griechische Regierung hat führende Oppositionspolitiker und Journalist:innen durch Spähsoftware überwachen lassen und bei der Pressefreiheit liegt das Land, laut Reporter ohne Grenzen, aktuell auf Rang 108 von 180 Staaten – nur Russland und Belarus schneiden in Europa noch schlechter ab. 

RIC Fylakio – Zustände in den Camps

Der Fokus unserer Reise lag auf einem Besuch am Evros, dem Grenzfluss zur Türkei. Hier wurden immer wieder besonders schwere Menschenrechtsverletzungen – gewaltvolle und systematische Pushbacks – dokumentiert. Darüber hinaus haben wir auch Fragen zur biometrischen Massenüberwachung von Schutzsuchenden in sogenannten RIC (Reception and Identification Center) befasst. Wir haben das RIC in Fylakio zu besucht, wo Menschen eigentlich höchstens bis zu 25 Tage eingesperrt werden dürfen. In der Praxis werden selbst Kinder dort monatelang eingesperrt und haben weder Zugang zu Bildung noch zu medizinischer Versorgung. Das Lager selbst ist klein, aber voller verschlossener Türen und Stacheldraht, ohne Schatten und Farbe. Die Menschen leben in Containerhäusern mit Blöcken für Familien, Männer und unbegleitete Minderjährige. Die NGOs vor Ort sind so stark von der Regierung eingeschüchtert, dass sie sich nicht trauen, mit uns Abgeordneten zu sprechen, weil sie fürchten müssen, dann den Zugang zum Camp oder Gelder zu verlieren.

Tote am Evros 

Der Zugang zur Grenzregion wurde uns verwehrt, obwohl wir Europaabgeordnete sind und ich im Parlament für die Außengrenzen zuständig bin. Die griechischen Behörden verhindern hier leider konkret, dass ich meiner Arbeit als Abgeordneter nachgehen kann. Wir standen vor zwei Containern, in denen die Leichen von 20 Menschen lagen, die am Evros gefunden wurden. Allein in diesem Jahr sind die Leichen von 51 Menschen in der griechischen Grenzregion gefunden worden. Wir haben uns mit Dr. Pavlidis unterhalten; er kümmert sich ehrenamtlich um diese Fälle, versucht für die Angehörigen Gewissheit zu schaffen, ob ihre vermissten Söhne, Töchter oder Eltern noch am Leben sind. Oft werden die Leichen erst nach Monaten gefunden – auch weil NGOs der Zugang zur Grenzregion verweigert wird.

Treffen mit Frontex

Alle Aktivitäten der Agentur basieren auf den selbst erklärten Bedürfnissen der nationalen Behörden und stehen unter jener Aufsicht. Die griechischen Behörden versuchen Frontex von ihren illegalen Aktivitäten und den Pushbacks fernzuhalten, weil Frontex diese eigentlich melden müsste – was sie nachweislich in vielen Fällen nicht getan haben. Die Grenzschutzbeamten und Aufsichtspersonen, mit denen wir gesprochen haben, behaupten alle Aktivitäten zu melden, aber noch nie einen Pushback mitbekommen zu haben. Auf unsere Frage, was sie eigentlich den ganzen Tag machen, haben wir keine nachvollziehbare Antwort erhalten.

Treffen mit Notis Mitarachi 

Am Dienstag hatten wir ein Treffen mit dem griechischen Migrationsminister Notis Mitarachi, der uns Abgeordneten und auch renommierten internationalen Medien mehrfach vorgeworfen hat Fake News und türkische Propaganda zu verbreiten, als wir über die offensichtlichen Pushbacks, Gewalt und Verschleppungen auf See gesprochen haben. Die griechische Regierung baut nicht nur Zäune an der Grenze, sondern auch eine Mauer aus Lügen. In seiner Rede sprach Mitarachi von deutlich besseren Aufnahmebedingungen und einem minimalen Rückstand bei den Asylverfahren im Land, ging aber nicht auf die von glaubwürdigen Akteuren erhobenen Vorwürfe der Pushbacks und weiterer Menschenrechtsverletzungen ein. Ich habe Herr Mitarachi mit mehreren aktuellen Fällen konfrontiert, einschließlich der Fälle von Menschen die auf einer Insel am Evros gestrandet sind. Doch Herr Mitarachi behauptete einfach, dass alle diese Fälle erlogen und erfunden seien. 

Pressefreiheit in Griechenland 

Wir trafen Journalisten, die an der Berichterstattung über den Predator-Fall beteiligt waren, bei dem Griechenland illegal Journalist:innen und Oppositionspolitiker:innen abhörte. Ihre Schilderungen zeichneten ein Bild von Einschüchterung, nationalen Medien, die zum Sprachrohr der Regierung geworden sind, und einem gravierenden Mangel an Mitteln für investigativen Journalismus.

Lesbos 

Nach dem Ende der grünen Mission bin ich noch nach Lesbos gereist, um mir die Lage im Lager Mavrouvoni anzuschauen, dass nach dem Brand in Moria errichtet wurde und als kurzfristige Notlösung gedacht war. Die Lage im Camp ist noch nicht gut, aber es ist auch durch die vielen NGOs und den internationalen Druck deutlich besser als vor einem Jahr. Wie die Lage vor einem Jahr war, habe ich hier aufgeschrieben. Derzeit wird ein neues Camp errichtet, das noch abgelegener ist, als Mavrouvoni und im kommenden Frühjahr fertig werden soll. Man fürchtet, dass die Menschen dort eingesperrt werden und NGOs keinen Zugang haben.

Allgemeine Lage in Griechenland 

Am Dienstag trafen wir uns in Athen mit Expert:innen, die sich mit den gefährlichen Auswirkungen der biometrischen Massenüberwachung, der Korruption bei der Vergabe öffentlicher Gelder, den Angriffen auf die Pressefreiheit und dem Abhörskandal befassen. Die vielen Gespräche hinterließen das Bild von einem Staat, in dem grundlegende demokratische Standards und Menschenrechte nicht mehr eingehalten werden. Die EU, insbesondere die Kommission, muss schnell handeln und Druck aufbauen, um einer weiteren Verschlechterung entgegenzuwirken. Die Zivilgesellschaft, unabhängige Journalist:innen und Geflüchtete brauchen aktive Unterstützung, um sich gegen die Angriffe durch den Staat und die Regierung zu wehren. 

Griechische Regierung lügt

Mein Besuch am Evros und in Athen hat mir nochmal vor Augen geführt, dass die griechische Regierung systematisch lügt, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen und auch nicht davor zurückschreckt Menschen auf der Flucht zu misshandeln, NGOs einzuschüchtern und Journalist:innen anzugreifen und zu bespitzeln. Es gibt aber auch noch eine intakte Zivilgesellschaft, die jetzt unsere Unterstützung braucht, um weiter für die Rechte von Schutzsuchenden und für den Erhalt der Demokratie und des Rechtsstaats zu kämpfen. 

Anfrage: Zurückweisungen trotz einstweiliger Maßnahmen des EGMR

Ich habe ein Anfrage zu Pushbacks an der Landesgrenze zwischen Griechenland und der Türkei an die Kommission gestellt. Die Kommission gibt sich schockiert und besorgt über die Berichte und antwortet, dass sie die aktuellen Kontrollmechanismen zur Wahrung der Grundrechte überprüfen wird.

Die Anfrage mit Antworten in mehreren Sprachen findet ihr hier.

Meine Anfrage

Wie vom Griechischen Flüchtlingsrat gemeldet, waren 94 Syrer:innen, darunter Minderjährige mit Gesundheitsbeschwerden und junge Mütter mit ihren Säuglingen, vor Kurzem an einem Eiland vor der Küste des griechischen Regionalbezirks Evros gestrandet und mussten dort mehrere Tage ohne Wasser und Nahrung ausharren. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 24. Mai 2022 einstweilige Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass diese Menschen unverzüglich humanitäre und medizinische Hilfe erhalten und die gesetzlich vorgesehenen Aufnahme- und Identifizierungsverfahren auf sie angewandt werden, wurden sie laut Berichten ihrer Familienangehörigen in der Türkei am letzten Wochenende gegen ihren Willen in die Türkei zurückgebracht.

  • Sind die oben geschilderten Handlungen Griechenlands nach Ansicht der Kommission mit dem EU-Recht, einschließlich der Charta der Grundrechte, vereinbar?
  • Welche Schritte wird die Kommission unternehmen, um der möglichen Zurückweisung von 94 Syrern nachzugehen?
  • Liegen ihr Informationen über andere illegale Zurückweisungen durch Griechenland oder über die Zahl mutmaßlich rechtswidriger Verhaltensweisen an der griechischen Grenze vor?

Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 08.08.2022

Die Kommission ist zutiefst besorgt über alle Berichte und Vorwürfe von Zurückweisungen und Misshandlungen. Jede Form von Gewalt oder Zurückweisung ist rechtswidrig und muss von den nationalen Behörden untersucht werden, die für die Feststellung des Sachverhalts und das Ergreifen von Folgemaßnahmen zuständig sind. Die Kommission ist sich der zunehmenden Migrationsströme an der Landgrenze zur Türkei in den letzten Monaten sowie der Bedrohung durch Schleuser bewusst, die Migrantinnen und Migranten auf kleinen Inseln im Fluss Evros aussetzen.

Im Einklang mit der Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen müssen die Mitgliedstaaten wirksame Mechanismen zur Einhaltung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (grundlegende Voraussetzungen) einrichten. Die Kommission bewertet derzeit die Mechanismen, die im Zusammenhang mit den griechischen Programmen im Rahmen der Fonds im Bereich Inneres eingerichtet worden sind, einschließlich des unabhängigen Mechanismus zur Überwachung und Verhinderung von Zurückweisungen. Ist die Kommission der Auffassung, dass eine grundlegende Voraussetzung nicht erfüllt ist, können die im Rahmen der betreffenden Maßnahmen getätigten Ausgaben zwar in den Zahlungsanträgen angeführt werden, eine Erstattung erfolgt jedoch erst, wenn die Kommission den betreffenden Mitgliedstaat über die Erfüllung der grundlegenden Voraussetzung unterrichtet hat.

Die Kommission prüft alle ihr zur Verfügung stehenden sachdienlichen Informationen und kooperiert mit den griechischen Behörden, die für die Kontrollmechanismen und die konkrete Untersuchung von Vorwürfen zuständig sind. Die Kommission arbeitet auch im Rahmen der Task Force „Migrationsmanagement“ mit Griechenland zusammen und liefert Feedback in diesem Bereich, um die Wirksamkeit der von den griechischen Behörden eingeführten Überwachungs‐ und Follow-up-Modalitäten zu erhöhen, mit denen die Verpflichtungen aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem EU-Recht, einschließlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, vollständig umgesetzt werden sollen.

Anfrage: Finanzierung geschlossener Migrationszentren durch die EU

Die EU finanziert mehrere geschlossene Migrationszentren mit haftähnlichen Bedingungen in Griechenland. Trotz vorliegender Beweise eines griechischen Gerichtes und mehrerer Nichtregierungsorganisationen, leugnet die Kommission, dass es haftähnliche Bedingungen gibt und behauptet darüber hinaus, dass die Rechte der Schutzsuchenden nicht gebrochen werden.

Die Anfrage mit Antworten in mehreren Sprachen findet ihr hier.

Meine Anfrage

Die EU finanziert mehrere geschlossene Migrationszentren in Griechenland. Dazu gehört u. a. das geschlossene Zentrum mit kontrolliertem Zugang auf Samos, das im September 2021 eröffnet wurde und im Rahmen des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) Finanzmittel in Höhe von 43 Mio. EUR erhielt. Urteilen eines griechischen Gerichts und Nachweisen verschiedener regierungsunabhängiger Organisationen zufolge sind in diesem Zentrum viele Asylsuchende de facto mit Inhaftierung und umfassender Überwachung konfrontiert.

  • Hält die Kommission die Finanzierung dieses geschlossenen Zentrums für mit den besonderen Bestimmungen zur Regelung der Inhaftierung von Asylsuchenden im internationalen und europäischen Asylrecht (z. B. der Richtlinie über Aufnahmebedingungen und der Dublin-III-Verordnung) vereinbar?
  • Könnte die Kommission eine ausführliche Auflistung aller Ausgaben im Rahmen des AMIF für das Lager auf Samos seit September 2021 bereitstellen, aufgeschlüsselt nach Ausgabenkategorie (insbesondere Überwachung einschließlich Verfahren und Wachpersonal)?
  • Gibt es einen konkreten Überblick über Finanzmittel im Rahmen des AMIF für vergleichbare Zentren auf den Ägäischen Inseln, einschließlich ihrer Kapazität und Gesamtpersonalzahl je Lager, und wie überwacht die Kommission diese Ausgaben?

Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 08.09.2022

Die Kommission hat 276 Millionen € aus dem Migrations‐ und Integrationsfonds (AMIF) für den Bau von fünf Mehrzweck-Aufnahme‐ und Identifizierungszentren auf den Inseln Samos, Kos, Leros, Chios und Lesbos bereitgestellt. Diese Zentren umfassen verschiedene Bereiche, darunter Aufnahme‐ und Identifizierungsstrukturen für Neuankömmlinge, Unterkunftsmöglichkeiten, sichere Bereiche für unbegleitete Kinder und Jugendliche, Freizeitbereiche und Abschiebezonen. Wie durch die Rückführungsrichtlinie garantiert, handelt es sich nur bei den Abschiebezonen um geschlossene Bereiche. Dass das Asyl‐ und Rückkehrrecht der EU vollumfänglich geachtet wird, ist Bedingung dafür, dass die Zentren mit EU-Mitteln unterstützt werden können.

Die von den griechischen Behörden für den Bau der Zentren veröffentlichten Ausschreibungsunterlagen können online abgerufen werden. Sie beziehen sich auf die Gesamtkosten der Bauarbeiten und nicht auf die Kosten pro Zentrum. Die Verträge, die Informationen über die laufenden Kosten des neuen Zentrums auf Samos enthalten, stammen vom griechischen Ministerium für Migration und Asyl, weswegen der Kommission die gewünschten Angaben nicht zur Verfügung stehen. Die Damen und Herren Abgeordneten werden gebeten, sich dazu an die zuständigen Dienststellen des Ministeriums zu wenden.

Die Kommission hat Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Ägäischen Inseln entsandt und beobachtet die Arbeit der neuen Zentren genau, um die Konformität mit geltendem EU-Recht sicherzustellen. Dies geschieht über die obligatorische Berichterstattung der Empfänger von EU-Mitteln und Besuche von Kommissionsmitarbeiterinnen und ‐mitarbeitern vor Ort. Für den Bau der neuen Mehrzweck-Aufnahme‐ und Identifizierungszentren wurde ein zusätzlicher Überwachungsrahmen geschaffen, der während des Projekts unter anderem regelmäßige Finanzkontrollen durch ein externes Wirtschaftsprüfungsunternehmen beinhaltet.

Meine Anfrage zu EU-Mitteln für die ägyptische Küstenwache

Die Kommission hat hier erklärt wie sie in den kommenden beiden Jahren die ägyptische Küstenwache mit 80 Millionen € finanzieren will, damit sie Menschen ins Land zurückschleppt, obwohl die Menschenrechtslage katastrophal ist. Die Kommission bezeichnet dies beschönigend als „Verhinderung irregulärer Migration auf dem Seeweg“.

Die Anfrage mit Antworten in mehreren Sprachen findet ihr hier.

Meine Anfrage

Kommissionsmitglied Várhelyi hat kürzlich bestätigt, dass die Kommission Ägypten langfristige und kurzfristige finanzielle Unterstützung in Höhe von fast 300 Mio. EUR zugesagt hat. Laut Nachrichtenberichten sind 80 Mio. EUR der Mittel für die ägyptische Küstenwache für den „Grenzschutz“ und für die Verhinderung der Flucht von Ägyptern vorgesehen. Das Parlament hat mehrfach seine Besorgnis über die katastrophale Menschenrechtslage in Ägypten zum Ausdruck gebracht, und seit Januar 2021 sind 3 500 Ägypter aus dem Land per Boot nach Italien geflohen, was sie zur zweitgrößten Gruppe der dort ankommenden Menschen aus den Mittelmeerländern macht.

  • Kann die Kommission einen Überblick über alle an die ägyptischen Behörden und die Küstenwache, insbesondere für den Grenzschutz, gelieferten Ausrüstungsgegenstände oder Dienstleistungen geben, und wie sieht der Zeitplan für die künftige Verteilung aus?
  • Anhand welcher Indikatoren wird die Kommission sicherstellen, dass die migrationspolitische Zusammenarbeit zwischen der EU und Ägypten im Einklang mit Artikel 3 Absatz 5 des Vertrags über die Europäische Union steht, d. h. dass die Menschenrechte gewahrt und gefördert werden, z. B. durch die Gewährleistung der Rechenschaftspflicht bei möglichen Menschenrechtsverletzungen?
  • Welche Folgen- oder Risikobewertung in Bezug auf Menschenrechte wurde (oder wird) bei dieser finanziellen Unterstützung durchgeführt, um sicherzustellen, dass die entsprechenden Leistungen Menschenrechtsverletzungen nicht erleichtern oder für solche genutzt werden?

Antwort von Olivér Várhelyi im Namen der Europäischen Kommission am 25.08.2022

Die Kommission ist bereit, Ägypten bei der Aufrechterhaltung seiner Kapazitäten zur Verhinderung irregulärer Migration auf dem Seeweg und bei der verstärkten Kontrolle seiner Grenze zu Libyen und Sudan zu unterstützen. Angesichts der Tatsache, dass die irregulären Einreisen ägyptischer Staatsangehöriger in die EU (über 90 % nach Italien, hauptsächlich über Libyen) sich im Jahr 2021 (auf 9219) versechsfacht haben, ist dies von besonderer Bedeutung.

Vor diesem Hintergrund entwickelt die Kommission derzeit in enger Abstimmung mit den ägyptischen Behörden eine Maßnahme zur Unterstützung des Grenzmanagements (Such‐ und Rettungsmaßnahmen sowie Grenzüberwachung an Land‐ und Seegrenzen). Insgesamt sind Mittel in Höhe von 80 Mio. EUR vorgesehen, die in zwei Phasen umgesetzt werden sollen: 23 Mio. EUR im Jahr 2022 und 57 Mio. EUR im Jahr 2023. Da die Maßnahme noch nicht angenommen wurde, liegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Überblick über die Ausrüstungsgegenstände oder Dienstleistungen vor, die den ägyptischen Behörden in diesem Rahmen zur Verfügung gestellt werden.

Zu der Maßnahme wird eine Ex-ante-Risikobewertung durchgeführt, und während der gesamten Laufzeit sind Monitoringmaßnahmen vorgesehen, um sicherzustellen, dass durch die Maßnahme die Einhaltung der internationalen Menschenrechtsnormen und der Schutz von Flüchtlingen und Migranten nicht gefährdet wird.

Anfrage: EU-Aktionsplan als Reaktion auf die Ereignisse in Afghanistan

Nach der Übernahme Afghanistans durch die Taliban im August 2021 setzte die Kommission die meisten ihrer Abkommen mit dem Land aus und stellte die Zusammenarbeit mit Afghanistan weitgehend ein. Seitdem hat sie als Reaktion auf die Ereignisse in Afghanistan einen Aktionsplan ausgearbeitet, der den Medien zugespielt wurde. Dazu habe ich folgende Fragen gestellt:

Die gesamte Anfrage mit Antworten in mehreren Sprachen findet ihr auch hier.

Meine Fragen

  • Wurde der Aktionsplan bereits angenommen? Wenn ja, wird es Berichte über die Umsetzung geben und werden die Maßnahmen öffentlich zugänglich gemacht?
  • Wird das Parlament über die Umsetzung des Aktionsplans informiert?
  • Wird die Kommission ihre Zusage, 38 000 besonders schutzbedürftige Afghanen aufzunehmen nach Mitgliedstaaten und Programmen (Neuansiedlung, humanitäre Aufnahme usw.) aufschlüsseln und mitteilen sowie bekannt geben, wie viele Afghanen derzeit sowohl über die offiziellen Evakuierungsrouten als auch über die Programme für gefährdete Afghanen nach Europa kommen?

Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 17.08.2022

1. Die Aktionspläne zur Stärkung umfassender Migrationspartnerschaften mit vorrangigen Herkunfts‐ und Transitländern, einschließlich des als Reaktion auf die Ereignisse in Afghanistan angenommenen Aktionsplans, wurden gemeinsam von der Kommission und vom Europäischen Auswärtigen Dienst gemäß den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Juni 2021 entwickelt und anschließend den Mitgliedstaaten auf den Sitzungen der Arbeitsgruppe „Externe Aspekte der Asyl‐ und Migrationspolitik“ des Rates vorgestellt. Bei diesen Aktionsplänen handelt es sich um dynamische Dokumente, die mit der Zeit weiterentwickelt werden. Sie sind für den internen Gebrauch der EU und ihrer Mitgliedstaaten gedacht und sollen zur Entwicklung eines gemeinsamen strategischen Ansatzes für die Zusammenarbeit mit den Partnerländern beitragen. Mit diesem spezifischen Aktionsplan wird das Ziel verfolgt, die Maßnahmen zu verstärken, die zur Unterstützung der afghanischen Bevölkerung bzw. gemeinsam mit den Nachbarländern Afghanistans ergriffen werden sollen. In Afghanistan besteht großer Bedarf an humanitärer Hilfe, und die eigenen Ressourcen des Landes sind begrenzt. Die humanitäre Hilfe der EU in Afghanistan läuft bereits und wird im Einklang mit den Grundsätzen der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit geleistet.

2. Die Kommission ist entschlossen, das Europäische Parlament auch weiterhin umfassend über alle Aspekte der Migrationspolitik zu informieren, auch in Bezug auf ihre Maßnahmen in Afghanistan und der Region. Die Kommission wird das Parlament weiterhin über die Entwicklung der humanitären Lage vor Ort und die Anpassung der humanitären Maßnahmen der EU unterrichten.

3. Die Zusagen, die die Mitgliedstaaten bezüglich gefährdeter Afghanen für den Zeitraum 2021-2022 gemacht haben, sind dem Anhang zu entnehmen. Die Mitgliedstaaten haben der Kommission gemeldet, dass bis April 2022 fast 28 700 Personen aus humanitären Gründen aufgenommen wurden, die Neuansiedlung jedoch noch nicht begonnen hat.

Anfrage: Bericht der griechischen Transparenzbehörde

Ich habe die EU-Kommission am 25.05.2022 gefragt, wie sie dazu steht, dass die griechischen Behörden ankommende Schutzsuchende sofort in Abschiebehaft nimmt und in ein Gefängnis sperrt, dass sie nicht verlassen dürfen. Die Kommission antwortet, dass ihr diese Praxis bekannt ist und diese rechtlich auch zu rechtfertigen sei, wenn weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirken. Diese „weniger einschneidenden Maßnahmen“ werden aber nicht angewandt und müssten auch einer Einzefallprüfung unterliegen – was sie derzeit nicht tun.

Die gesamte Anfrage mit Antworten in mehreren Sprachen findet ihr auch hier.

Meine Anfrage

Die nationale Transparenzbehörde Griechenlands veröffentlichte am 10. Mai 2022 einen Untersuchungsbericht zu mutmaßlichen Zurückweisungen, in dem unter anderem das Verfahren für die Bewältigung des Stroms von Asylsuchenden beschrieben wird, die das griechische Hoheitsgebiet auf dem Land- oder Seeweg erreichen.

  • Wie beurteilt die Kommission – unter Berücksichtigung von Artikel 6 der EU-Grundrechtecharta und Artikel 8 und 9 der Richtlinie über Aufnahmebedingungen – das Vorgehen Griechenlands, Neuankömmlinge bis zu ihrer Überstellung in ein Aufnahme- und Identifizierungszentrum in der Region Evros in Abschiebehaft zu nehmen (S. 23/24)?
  • Wie beurteilt sie – unter Berücksichtigung von Artikel 6 der EU-Grundrechtecharta und Artikel 8 und 9 der Richtlinie über Aufnahmebedingungen – die Praxis, dass Antragsteller während der Aufnahme- und Identifizierungsverfahren ab der Registrierung bis zu 25 Tage lang in der Einrichtung untergebracht sind, diese jedoch nicht verlassen dürfen, da sie sich in Gewahrsam befinden (S. 29)?
  • Wie werden Statistiken zur „Prävention“ (S. 56) erhoben und wie viele Fälle von Prävention wurden 2021 von den griechischen Behörden verzeichnet? Bitte geben Sie eine Aufschlüsselung nach Polizeidirektion (Alexandroúpoli, Orestiada, nördliche Ägäis und Dodekanes) an.

Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 3.08.2022

Der Kommission ist bekannt, dass Personen, die irregulär über die Landgrenze mit der Türkei bei Evros ankommen, in das Aufnahme‐ und Identifizierungszentrum in Fylakio überstellt werden, wo sie dem Aufnahme‐ und Identifizierungsverfahren unterliegen und sich einer ärztlichen Untersuchung, der Registrierung personenbezogener Daten, der Abnahme von Fingerabdrücken und einer Befragung unterziehen müssen; anschließend werden sie in die Folgeverfahren (Asyl für Personen, die internationalen Schutz beantragen, oder Rückführung von Personen, die auf einen solchen Antrag verzichten), geleitet werden.

In Bezug auf die Verwaltungshaft während des Aufnahme‐ und Identifizierungsverfahrens enthält Artikel 8 Absatz 3 der Richtlinie über Aufnahmebedingungen[1] im Einklang mit Artikel 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[2] eine erschöpfende Liste der Gründe, aus denen ein Antragsteller in Haft genommen werden kann, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Zu den dort aufgeführten Haftgründen zählt die Notwendigkeit, die Identität oder Staatsangehörigkeit der Person festzustellen oder zu überprüfen. Solche Entscheidungen müssen jedoch auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung getroffen werden. Die Kommission verfolgt die Lage vor Ort aufmerksam und steht im Dialog mit den griechischen Behörden. Sie erhebt jedoch keine Statistiken über „Präventionen“ und verfügt nicht über die vom Herrn Abgeordneten angeforderten Informationen.

Anfrage: Schutz für staatenlose Geflüchtete aus Ukraine

Gemeinsam mit neun anderen Abgeordneten aus vier Fraktionen habe ich eine Anfrage zur Anwendung der Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes auf staatenlose Flüchtlinge aus der Ukraine gestellt. Die Anfrage und die Antwort findet ihr in mehreren Sprachen auch hier.

Unsere Anfrage vom 20. Mai 2022

Die Mitgliedstaaten der EU sind nicht verpflichtet, die Gewährung vorübergehenden Schutzes auf die meisten staatenlosen Flüchtlinge aus der Ukraine auszudehnen. Die Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes gilt nur für Staatenlose, die in der Ukraine internationalen Schutz (oder einen gleichwertigen Status) genießen. Staatenlose, die nachweisen können, dass sie sich vor dem 24. Februar 2022 dauerhaft in der Ukraine aufgehalten haben und nicht sicher in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können, haben ebenfalls Anspruch auf Schutz, aber die Mitgliedstaaten können entscheiden, ob sie die Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes anwenden oder einen „angemessenen Schutz nach nationalem Recht“ gewähren wollen. Die Mitgliedstaaten können den Schutz auf andere Personen einschließlich Staatenlose, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufhielten, ausdehnen.

  • Wie gedenkt die Kommission sicherzustellen, dass die Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Einklang mit den im Völkerrecht und im Unionsrecht verankerten Grundsätzen des Diskriminierungsverbots und der Wahrung der Rechte Staatenloser durch die Mitgliedstaaten in allen Bereichen umgesetzt wird?
  • Gedenkt die Kommission, erstens die operativen Leitlinien für die Umsetzung der Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes so zu ändern, dass sie auch für Staatenlose mit Wohnsitz in der Ukraine, die keine Belege für ihre Bindung zu diesem Land haben, gelten, zweitens klarzustellen, dass der gleichwertige nationale Schutz auch den Schutz als Staatenloser im Sinne des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 umfasst, und drittens Flexibilität bei den Beleganforderungen einzuführen, um den inhärenten Schwierigkeiten beim Nachweis der Staatenlosigkeit durch Dokumente Rechnung zu tragen?
  • Gedenkt die Kommission, in den Vorsorge- und Krisenplan der EU für Migration Informationen über Staatenlosigkeit aufzunehmen?

Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission vom 3. August 2022

1. Der Schutz all jener, die staatenlos oder von Staatenlosigkeit bedroht sind, ist ein Anliegen der Kommission. Der einschlägige Ratsbeschluss vom 4. März 2022[1] zur Einführung des vorübergehenden Schutzes im Rahmen der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz[2] erstreckt sich auch auf bestimmte Gruppen Staatenloser, die unter jene Kategorien fallen, die nach nationalem Recht Anspruch auf vorübergehenden Schutz oder einen anderen angemessenen Schutz haben. Die Mitgliedstaaten können den Schutz auf alle anderen Staatenlosen ausdehnen. Die Mitgliedstaaten mussten die Mindestnormen und Rechte der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz bis zum 31. Dezember 2002[3] oder anlässlich des Beitritts zur EU in innerstaatliches Recht umsetzen. Diese Bestimmungen wurden durch den Beschluss des Rates vom 4. März 2022 aktiviert. Die Kommission hat die Mitgliedstaaten auf verschiedene Weise (operative Leitlinien, eigene Tagesordnungspunkte, Missionen usw.) und in vielen Gremien (Solidaritätsplattform, Blaupause, Arbeitsgruppen des Rates usw.) aufgefordert, diese Vorschriften angemessen auf alle unter die Richtlinie fallenden Personen anzuwenden, einschließlich Staatenloser, die insbesondere mit besonderen Herausforderungen in Bezug auf Nachweise und Statusfeststellung konfrontiert sind.

2. Die operativen Leitlinien der Kommission für die Umsetzung des Ratsbeschlusses[4], die bereits Kapitel über Nachweise und Statusfeststellungen enthalten, werden aktualisiert, um der Lage vor Ort und dem sich wandelnden Bedarf gebührend Rechnung zu tragen.

3. Die Kommission aktualisiert die im Rahmen des Vorsorge‐ und Krisenplans der EU erhobenen Informationen regelmäßig und passt sie entsprechend den Entwicklungen und der Verfügbarkeit von Daten an. Darüber hinaus war Staatenlosigkeit ein spezieller Tagesordnungspunkt für die Solidaritätsplattform, die zur Umsetzung des vorübergehenden Schutzes eingerichtet wurde.

  • [1] Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (ABl. L 71 vom 4.3.2022, S. 1).
  • [2] Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. L 212 vom 7.8.2001, S. 12).
  • [3] Artikel 32 der Richtlinie 2001/55/EG.
  • [4] Mitteilung der Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (ABl. C 126I vom 21.3.2022, S. 1).

Wie viele EU-Gelder sind nach Griechenland für den Bereich Migration geflossen?

Seit dem Jahr 2015 hat die Europäische Union Griechenland insgesamt 3,38€ Milliarden für die Bewältigung von Migrations- und Grenzaufgaben zur Verfügung gestellt. 2,53€ Milliarden wurden bisher von Griechenland abgerufen. 

Die Unterstützung Griechenlands durch die Europäische Union erfolgt durch drei Töpfe: den Asylum, Migration and Integration Fund (AMIF), der Internal Security Fund (ISF) und das  Emergency Support Instrument (ESI). Der größte Topf ist der AMIF über den insgesamt 328,3€ Milliarden zur Verfügung gestellt wurden. Über diesen Haushaltsposten werden EU-Mitgliedstaaten unterstützt zum Zweck des effizienten Managements von Migration und der Implementierung und Stärkung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Der ISF stellt Geld für das Management von Visum und Einreise, Kontrolle der Außengrenzen, aber auch Rückführungen, beispielsweise durch Frontex, bereit. Hier wurde Griechenland 320€ Millionen bereitgestellt. Das ESI dient der Unterstützung für Notlagen und gibt Geld für humanitäre Hilfe, der Anteil betrug 668,9€ Millionen. Der Großteil der regulären Gelder aus AMIF, ISF und ESI fließt an die nationalen Behörden, also an die griechischen Behörden, die sich mit Migration und Asyl befassen, so beispielsweise das griechische Ministerium für Migration und Asyl. 


Neben den regulär vorgesehenen Bedarfen können zusätzlich für weitere kurzfristige Notfallbedarfe (“Emergency Assistance”) Gelder aus AMIF und ISF mobilisiert werden. Die geflossenen Gelder aus der Emergency Assistance stellen im Fall von Griechenland die größte Summe alle geflossenen Gelder, insgesamt 1,54€ Milliarden. Zwei Drittel aller Gelder der Emergency Assistance sind an internationale Organisationen geflossen, das letzte Drittel an die griechischen Behörden. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass insgesamt 2,06€ Milliarden bereitgestellt worden, Griechenland aber nicht alles abgerufen hat.

Politischer Wille für eine gute Versorgung fehlt

Tatsächlich erhielten die griechischen Behörden 2,53€ Milliarden, um die erhöhten Ankunftszahlen der letzten Jahre zu bewältigen. Dabei ist es besonders wichtig, anzumerken, dass 3,38€ Milliarden zugesprochen wurden, aber ein Großteil davon nicht ausgegeben wurde. Dies zeigt deutlich, dass die Gelder vorhanden sind, um die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln und auf dem Festland angemessen und würdig zu versorgen, jedoch der politische Wille fehlt, dies auch so umzusetzen. 

Noch werden in Griechenland grundlegende Anforderungen der EU-Aufnahmerichtlinie nicht eingehalten wie zum Beispiel das Recht auf Bildung der Kinder. Auch die Essensversorgung ist nach wie vor problematisch und ungenügend. Genug Geld wäre tatsächlich da, um die Probleme nachhaltig zu lösen. Selbst der Europäische Rechnungshof als EU-eigene Behörde kam in seinem Jahresbericht 2019 zu ähnlichen Schlussfolgerungen, ohne sie explizit so zu benennen. Es kam nicht zu expliziten Veruntreuungen der Gelder, jedoch wurden einige Gelder aus der Emergency Assistance für längerfristige Projekte und Strukturen zweckentfremdet, obwohl diese nur flexibel für kurzfristige Notfallbedarfe eingesetzt werden dürfen. Außerdem bemängelte der Rechnungshof die ineffiziente Nutzung der Gelder und somit die Diskrepanz zwischen den EU-Zielen und den tatsächlichen Ergebnissen – sprich das Fehlen des politischen Willens. Nun fließen die Gelder aber nicht nur an die griechischen Behörden, sondern auch an internationale Organisationen. Aber auch mehr Gelder an internationale Organisationen sind nicht zwingend hilfreich, wenn die griechische Regierung deren Arbeit blockiert und kriminalisiert, wie es vor allem auf den griechischen Inseln der Fall ist. 

Wer sich genauer mit den veranschlagten und geflossenen Geldern befassen möchte, findet hier eine Übersicht von der Europäischen Kommission. Sie stellt auch dar, wie viele Gelder an die unterschiedlichen internationalen Organisation sowie an welche griechischen Behörden sie geflossen sind. 

Eine Betrachtung der Zahlen macht eines nochmal sehr deutlich. Die staatlichen Behörden und Organisationen haben eigentlich genügend Mittel, um Menschen würdig zu behandeln. Aber es scheint politisch nicht gewünscht zu sein.

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