Am 16. Juli 2023 hat die Europäische Kommission – ohne Rücksprache mit dem Rat und dem Europäischen Parlament – ein Migrationsabkommen (“Memorandum of Understanding”) mit Tunesien unterzeichnet. Was daran falsch ist und warum Menschenrechte bei diesem Deal nicht im Vordergrund stehen, habe ich unter anderem im NDR erklärt und möchte ich in diesem Artikel noch einmal detailliert darlegen.
Aktuelle Lage in Tunesien
Unter dem amtierenden Präsidenten Kais Saied findet ein massiver Demokratieabbau in Tunesien statt. Saied verbreitet rassistische Parolen, macht Schwarze zu Sündenböcken der wirtschaftlichen Probleme in seinem Land und verbreitet die rechte Verschwörungstheorie vom “großen Austausch”, in dem er behauptet, es sei ein Komplott in Gange, „um die demografische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern“. Diese Hetze gipfelte in Hetzjagden und pogromähnlichen Ausschreitungen gegenüber Schwarzen Menschen in Tunesien.
Inzwischen sind die tunesischen Behörden offenbar zunehmend systematisch dazu übergegangen, Menschen in der Wüste auszusetzen und sich selbst zu überlassen. So wurde zuletzt erst eine Gruppe von über 80 Menschen von libyschen Grenzbeamten gerettet, die zuvor von Tunesien in der Wüste ausgesetzt wurden. In der Wüste Nordafrikas sterben womöglich mehr Menschen als auf dem Mittelmeer, es wird allerdings deutlich weniger dokumentiert – koordinierte Rettungsmissionen in der Wüste gibt es nicht.
Nach Zahlen des UNHCR hat Tunesien Libyen als größtes Transitland seit letztem Jahr abgelöst. Seit Anfang 2023 sind insgesamt 104.808 Schutzsuchende in Italien über den Seeweg angekommen. Nach Angaben der tunesischen Nationalgarde wurden von Januar bis Ende Juni 2023 34.290 Menschen daran gehindert, aus Tunesien zu fliehen, fast viermal mehr als im selben Zeitraum 2022.
Gleichzeitig ist die Situation für Geflüchtete in Tunesien sehr schlecht. Es gibt kein funktionierendes Asylsystem und auch sonst keinen Rechtsrahmen, um Asylsuchende zu schützen oder Aufenthaltstitel zu vergeben.
Bisherige Migrationszusammenarbeit mit Tunesien
Es besteht eine langanhaltende Zusammenarbeit zwischen Tunesien und der EU im Migrationsbereich. 2012 wurde eine Privilegierte Partnerschaft geschlossen und ein Aktionsplan für den Zeitraum 2013 bis 2017 verabschiedet. Der Aktionsplan befasste sich mit dem Schutz von Asylsuchenden und Flüchtlingen sowie der Zusammenarbeit in den Bereichen Migration, Mobilität und Sicherheit. Parallel dazu wurde 2014 eine Mobilitätspartnerschaft eingerichtet. Diese sollte zum Abschluss von zwei Abkommen führen: das erste über die Rückübernahme und ein zweites über die Erleichterung der Visaformalitäten.
Verhandlungen über ein Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und Tunesien begannen im Jahr 2016. Tunesien hat mit sechs Mitgliedsstaaten (darunter Italien, Deutschland und Belgien) Rückübernahmeabkommen auf bilateraler Ebene unterzeichnet und allgemein respektiert; sie sind jedoch nur auf tunesische Staatsangehörige beschränkt.
Selbst das Rückübernahmeabkommen mit Italien von 1998, das die Rückführung von Ausländern vorsieht, schließt die Rückübernahme von Drittstaatsangehörigen aus Mitgliedsstaaten der Union des Arabischen Maghreb nach Tunesien aus.
Bereits 2017 hatte Tunesien die Vorschläge der EU zum „Outsourcen“ des Migrationsmanagements abgelehnt, auch Saied betonte, dass Tunesien nicht “Europas Grenzschützer” werden möchte. Die EU finanziert jedoch seit Jahren Migrationsmaßnahmen (zur Grenzkontrolle) in Tunesien, u.a. über EU Trust Fund for Africa (auslaufend) sowie über NDICI – Global Europe. Dort wurden im Rahmen des “Multi-country” Migrationsprogramms für die südliche Nachbarschaft 2021-2027 2021 25 Millionen Euro zur Unterstützung des Aufbaus von Grenzverwaltungseinrichtungen bereitgestellt. Insbesondere für die Unterstützung der Ausbildungsinfrastruktur der tunesischen Garde Nationale Maritime, Unterstützung der Einrichtung einer Koordinierungsstelle für die Seenotrettung und Fertigstellung des integrierten Küstenüberwachungssystems. Darüber hinaus wurden 2021 14 Mio. EUR für die Unterstützung der Rückkehr von Tunesiern bereitgestellt. Hier ein ausführlicher Bericht dazu.
Der Inhalt der “Absichtserklärung”
Am 11. Juni stellten bei einer Pressekonferenz Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (als “Team Europe”) bei einem Besuch in Tunis das geplante Maßnahmenpaket vor, vorangegangen waren in den Monaten davor mehrere Besuche von verschiedenen Vertreter*innen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Von der Leyen unterstrich dabei die historische Partnerschaft zwischen der EU und Tunesien und betonte die Absicht mit Tunesien an einem “umfassendem Paket” zu arbeiten, das sich auf 5 Pfeiler stützt:
- Unterstützung wirtschaftlicher Entwicklung – Mobilisierung von bis zu 900 Mio. € für makrofinanzielle Hilfe (geknüpft an IMF Kriterien/ IMF Kredit von 1,9 Mrd.), zusätzlich 150 Mio € sofortige Budgethilfe (Gelder die direkt in den Staatshaushalt fließen)
- Investment und Handel – Modernisierung Handelsabkommen, Investitionen in digitale Infrastruktur etc.
- Energie – Herstellung und Export von erneuerbarer Energie (u.a. ELMED Kabel)
- Migration – Unterstützung beim Grenzschutz und Schmuggelbekämpfung, Seenotrettung und Rückführungen, dafür 2023 Bereitstellung von 105 Mio. € durch EU Haushalt
- “People to people contacts”/ Völkerverständigung – Maßnahmen zu Austausch und Zusammenarbeit wie Erasmus+, im Forschungsbereich, Berufsausbildungsmaßnahmen etc.
Am 16. Juli wurde das entsprechende Memorandum of Understanding (MoU) unterzeichnet, das die oberen Punkte aufgreift und vertieft. Der rechtliche Status des MoU ist nicht klar, das Parlament wurde nicht eingebunden, was notwendig gewesen wäre, wenn es sich um ein Abkommen handeln sollte.
Makrofinanzielle Unterstützung
Zur makrofinanziellen Unterstützung werden im Text keine konkreten Zahlen genannt, genaueres dazu soll im dritten Quartal ‘23 diskutiert werden.
Hinsichtlich der Zusammenarbeit im Migrationsbereich sind primär die folgenden Punkte genannt:
- irreguläre Migration soll bekämpft werden (entsprechend bisheriger Zusammenarbeit in den Bereichen Grenzschutz, Unterstützung Tunesische Küstenwache, Bekämpfung Schmuggel), legale Migrationswege sollen geöffnet werden
- Tunesien soll bei der Abschiebung von Drittstaatsangehörigen (“irregular migrants”) in ihre Herkunftsländer unterstützt werden
- Entwicklungszusammenarbeit soll auf Fluchtursachenbekämpfung abzielen (z.B. durch Ausbildungsmaßnahmen)
- Saieds bereits im Vorfeld geäußerte Position, dass Tunesien kein “Aufnahmeland” ist und keinen Grenzschutz über eigene Grenzen hinaus durchgeführt wird, wird bekräftigt
- Rückführungsmaßnahmen aus der EU beziehen sich lediglich auf tunesische Staatsangehörige, keine Drittstaatsangehörige
- die EU soll Tunesien beim Abschluss von ähnlichen bilateralen Abkommen mit den Mitgliedsstaaten unterstützen
- für all diese Maßnahmen wird finanzielle Unterstützung durch die EU bereitgestellt
Inwiefern diese Punkte aus dem MoU in der Praxis umgesetzt werden, welche Implikationen sie für die Menschenrechtslage in Tunesien haben oder welche Prioritäten gesetzt werden, lässt sich bislang nicht beantworten. Eine Folgenabschätzung bezüglich der Grund- und Menschenrechte hat nicht stattgefunden, auch eine Folgenabschätzung hinsichtlich der Frage, ob die angestrebten Ziele mit den entsprechenden Maßnahmen erreicht werden können, ist bislang nicht vorhanden.
Das weitere Verfahren
Nach Artikel 218 AEUV bedürfen internationale Verträge, die die EU mit Drittstaaten abschließt, der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Unterzeichnet wurde hier durch den Kommissar für Nachbarschaftspolitik Olivér Várhelyi und dem tunesischen Außenminister Mounir Ben Rijba ein “Memorandum of Understanding”. Die einzelnen Punkte sollen dann in unterschiedlichen Verfahren implementiert werden. Im Innenausschuss des Europaparlaments am 18.07.23 haben Abgeordnete verschiedener Fraktionen deutliche Zweifel artikuliert und ein Rechtsgutachten gefordert, um den Rechtscharakter des Abkommens zu klären. Das ist insbesondere deswegen relevant, weil unklar ist, welche Entscheidungsstrukturen überhaupt angewendet werden und welche Rolle das Parlament in diesem Verfahren hat.
Auch vom juristischen Dienst des Rates, dem Europäischen Auswärtigen Dienst und zahlreichen Mitgliedsstaaten soll es vehemente Kritik gegeben haben, dass das Abkommen ohne ihre Konsultation unterzeichnet wurde, rechtliche Schritte wurden sich vorbehalten.
Die angekündigte Makrofinanzhilfe in Höhe von bis zu 900 Mio. € behält, laut bislang informellen Informationen der Kommission, eine erfolgreiche Vereinbarung mit dem IWF als Vorbedingung und erfordert zudem einen Rechtsakt des Rates und des EP (ordentliches Gesetzgebungsverfahren). Die zusätzlich angekündigte Budgethilfe und weitere Maßnahmen können aus dem Haushalt 2023 über verschiedene Finanzierungsinstrumente bestritten werden, wobei dem EP keine formelle Rolle zur Entscheidung über die konkrete Mittelvergabe zufällt. Das Verfahren und die Geldvergabe sind allerdings bisher so intransparent, dass hier noch keine abschließende Bewertung möglich ist.
Bewertung
Die meisten Maßnahmen im MoU sind nicht neu und stellen auch keine Kehrtwende in der Zusammenarbeit zwischen der EU und Tunesien bzw. der gesamten südlichen Nachbarschaft dar. Es ist ebenfalls wichtig, dass die EU sich nicht von der tunesischen Bevölkerung abwendet und viele der angekündigten Maßnahmen wie beispielsweise der Austausch über eine Einbindung von Tunesien im Erasmus+ Programm sind zu befürworten. Kritisch ist jedoch die de-facto Verknüpfung von finanzieller Unterstützung gegen Zusammenarbeit im Migrationsbereich. Auch wenn laut MoU menschenrechtliche Standards eingehalten werden sollen, ist dies nicht weiter ausdefiniert, eine menschenrechtliche Folgenabschätzung ist nicht vorgesehen. Die Erfahrung beispielsweise in Libyen zeigt, dass ohne konkrete Maßnahmen und Rechtsdurchsetzung in diesem Bereich in der Praxis massive Menschenrechtsverletzungen ungeahndet bleiben können und dass sie auch keinen Einfluss auf die Finanzierung der Zusammenarbeit haben. Es ist auch fraglich, wie die Einhaltung dieser Standards überprüft werden soll, wenn wir damit schon an unseren eigenen Außengrenzen scheitern. Die weitgehend bedingungslose Zusammenarbeit im Migrationsbereich und die Vergabe von Mitteln (insbesondere die Budgethilfe direkt für den Staatshaushalt) ohne klar definierte Konditionen senden ein verheerendes Signal. Das gilt insbesondere, weil in Tunesien immer mehr demokratische Strukturen abgebaut werden und grundlegende Rechte von Geflüchteten im Land nicht eingehalten werden. Die EU (“Team Europe”) versucht recht offensichtlich mit allen Mitteln, Migrationsbewegungen aufzuhalten, obwohl viele der Schutzsuchenden einen Anspruch auf Asyl in der EU hätten. Dabei greift man insbesondere auf Partner in Drittstaaten zurück, weil man Dinge erreichen will, die den EU-Staaten selbst menschenrechtlich nicht erlaubt sind – beispielsweise eine Ausschiffung von schiffbrüchigen Asylsuchenden in Tunesien.
Ein Hauptkritikpunkt der Vereinbarung ist aus meiner Sicht die geplante Unterstützung von Tunesien bei der Rückführung “irregulärer Migrant*innen” in ihre Herkunftsländer, während gleichzeitig ein nationales Asylrecht in Tunesien nicht umgesetzt ist und somit sämtliche Verfahren beim UNHCR liegen. Anstelle Geld in (unwirksamen) Grenzschutz zu investieren und ein autokratisches Regime zu unterstützen, sollte vielmehr versucht werden, einen verbindlichen Rechtsrahmen und angemessene Strukturen für Schutzsuchende in Tunesien zu schaffen.
Insgesamt wurde hier bislang die Chance versäumt, ein transparentes und fortschrittliches Abkommen zu erreichen, das eine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage in Tunesien erreicht, legale Migrationswege und eine gemeinsame Partnerschaft schafft, die dazu beitragen könnte, dass das Sterben auf dem Mittelmeer endet. Auch wenn einige Punkte aus der Vereinbarung zu begrüßen sind, wird abzuwarten sein, ob diese Punkte tatsächlich umgesetzt werden, da viele Punkte aus solchen Abkommen in der Vergangenheit nicht umgesetzt wurden, sobald der Geld-für-Migrationsabwehr-Deal funktioniert hat.
Migrationsabkommen sollten in Parlamenten diskutiert und transparent ausgehandelt werden. In den letzten Jahren haben Regierungen und die EU-Kommission jedoch zunehmend Parlamente und die Öffentlichkeit gemieden, wenn neue Deals verhandelt wurden. Wo das hinführt, hat sich beim gescheiterten EU-Türkei-Deal und in Libyen gezeigt, wo wir laut UN-Kommission inzwischen Schlepperstrukturen mit Steuergeld unterstützen. So etwas sollte sich in Tunesien nicht wiederholen, es wiederholt sich aber gerade.
Man sollte einem Autokraten nicht hunderte Millionen überweisen, ohne einen klaren Plan zu haben. Der tunesische Präsident Kais Saied betreibt einen massiven Demokratieabbau, verbreitet Verschwörungstheorien und schürt rassistische Stimmungen. Mit dieser Abmachung unterstützt die EU nicht nur einen Autokraten, sie macht sich auch von ihm erpressbar. In den letzten Wochen haben sich die Hinweise verdichtet, dass Tunesien Geflüchtete ohne Wasser und Nahrung einfach in der Wüste aussetzt. Die Verantwortlichen in Tunesien nehmen den Tod von Menschen auf der Flucht in Kauf. Die EU-Strategie ist kurzsichtig und naiv, man glaubt sich mit Geld von der Verantwortung freikaufen zu können. Die europäische Asylpolitik sollte nicht von einer rechtspopulistischen Regierung in Italien und deren guten Kontakten zu einem Autokraten in Tunesien abhängig sein.