An der lettischen EU-Außengrenze werden Flüchtende ihrer Rechte beraubt
Am 10. August 2021 erklärte Lettland aufgrund steigender Geflüchtetenzahlen den Ausnahmezustand in vier Grenzregion zu Belarus. Diese Verordnung hat zur Folge, dass das Militär zur Grenze geschickt wird, das Asylrecht in diesen Gebieten ausgesetzt wird und folglich die meisten Geflüchteten gewaltsam wieder nach Belarus gepushbackt werden. Außerdem wird Presse und NGOs der Zugang zu jenen Regionen verboten, was eine unabhängige Überwachung der Situation und humanitäre Hilfe sowie den Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren verhindert. Amnesty International hat nun über ein Jahr die Situation an der Grenze beobachtet, Interviews mit Grenzbeamten und Geflüchteten geführt und die Ergebnisse in ihrem Report hier veröffentlicht.
Im Sommer 2021 hat die lettische Regierung die Grenzregionen zu einem Ausnahmegebiet erklärt. Die lettische Regierung legitimierte dieses Vorgehen damit, dass Geflüchtete von Belarus gegen Lettland instrumentalisiert würden. Die Erklärung eines Ausnahmezustandes erlaubt es einem Staat, bestimmte Menschenrechte unter extremen Umständen einzuschränken, wenn eine „Bedrohung für das Leben der Nation“ besteht. Obwohl sich die Zahlen der Personen, welche es versuchen, über die Grenze nach Lettland zu kommen, massiv verringert haben, bis hin zu verschwindend gering, hat die lettische Regierung ihre Maßnahmen immer wieder verlängert. Sie greifen aktuell immer noch, obwohl im August gerade einmal 35 offizielle Asylanträge in Lettland gestellt wurden. Dass diese Anzahl keine “Bedrohung für das Leben der Nation” darstellt, ist offensichtlich.
Schutzsuchende stecken fest
Aus den Aussagen der interviewten Personen geht hervor, dass Lettland massiv gegen Menschenrechte an seinen Grenzen verstößt und die Menschen teilweise Monate in dem Grenzgebiet feststecken. Dort werden sie abwechselnd von den belarussischen und lettischen Grenzbeamten mit Gewalt über die Grenze in beide Richtungen hin und her geprügelt. Ein Geflüchteter berichtet, dass er über 3 Monate in der Grenzregion festgesteckt hat und insgesamt mehr als 150 Mal über die Grenze geschoben wurde, mit einer Höchstzahl von bis zu acht Pushbacks an einem einzigen Tag. Eine typische Horrorreise im Limbo der Grenzregion schaut wie folgt aus: Die Asylsuchenden versuchen über die grüne Grenze durch den Wald lettisches Gebiet zu erreichen um dort einen Asylantrag zu stellen. Auf lettischem Territorium werden sie von Grenzbeamten aufgegriffen und irgendwo im Wald, weit ab von der Zivilgesellschaft, Presse und NGOs in nicht registrierte Zelt Camps gebracht. Hier werden die Grenzbeamten in offiziellen Uniformen von sogenannten Kommandos abgelöst. Männer, mit Schnellschusswaffen, vermummten Gesichtern und komplett in schwarz gekleidet, ohne jegliche Erkennungsmerkmale auf Zugehörigkeit zu einer offiziellen Behörde. Diese Kommandos schikanieren die Geflüchteten, schlagen und misshandeln sie. Es werden Schlagstöcke und Elektroschocker benutzt – teilweise sogar an Genitalien. Ihnen werden die Handys und Wertsachen abgenommen. Die Schutzsuchenden müssen über Nacht in einem Zelt mitten im Wald schlafen, teilweise im Freien, bei bis zu -20 Grad. Auch nehmen die Kommandos ihnen die Feuerzeuge ab, die einzige Möglichkeit ein Feuer zu machen um sich gegen die kalten Temperaturen zu wärmen und gegen Wölfe und Bären abzusichern. Oftmals werden die Geflüchteten in den frühen Morgenstunden in Bussen wieder an die Grenze nach Belarus gefahren und müssen den Rest des Weges durch den Wald zurückgehen.
In Belarus
In belarussischen Gebiet werden die Menschen von den Grenzbeamten mit angehaltener Waffe dazu gezwungen, sich wieder durch den Wald Richtung Lettland aufzumachen. So werden die Flüchtenden über Wochen und Monate zwischen den zwei Ländern hin und her gepusht. In den Zeltcamps, irgendwo im Wald, gibt es keine sanitären Anlagen. Der Wald in den Grenzgebieten ist voller Kameras, wodurch die Grenzbeamten die Flüchtenden fast immer aufgreifen können, bevor sie es weiter ins Land hinein schaffen. In diesem Limbo, zwischen den Grenzen, sind die Menschen schutzlos Gewalt und Kälte ausgesetzt, ohne jeglichen Zugang zu einem Asylverfahren, welches ihnen laut EU-Recht und der Genfer Flüchtlingskonvention zustehen würde.
Zwang zur Rückreise
Um dieser Hölle zu entgehen, werden die Menschen auf der Flucht dazu genötigt, sogenannte Rückreiseverträge zu unterschreiben, um anschließend in ihre Herkunftsstaaten abgeschoben werden zu können. In Lettland organisiert die Internationale Organisation für Migration (IOM) diese Rückführungen. In mindestens zwei dokumentierten Fällen haben Geflüchtete die IOM-Beamten darauf aufmerksam gemacht, dass sie dies nicht freiwillig tun und nicht in ihre Heimatländer zurück wollen – sie wurden jedoch ignoriert. Amnesty International sucht nach über 30 Menschen, die vermisst werden.
Lettland verstößt gegen EU-Recht
Die lettische Regierung behauptete gegenüber dem EU-Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, dass alle Menschen, welche die Grenzbeamten in den Grenzgebieten aufgreifen in Geflüchtetenunterkünfte gebracht werden, in welchen sie einen Asylantrag stellen können. Dass dies jedoch nur selten der Fall ist, belegt der Bericht von Amnesty. Die Situationen an der polnisch-belarussichen Grenze, sowie an der litauischen-belarussischen Grenze sind ähnlich. Im Juni 2022 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union, dass das litauische Asyl- und Migrationsgesetz, welches die Möglichkeiten der Menschen, während des Ausnahmezustands Asylanträge zu stellen, einschränkt und die automatische Inhaftierung von Asylbewerbern vorsieht, nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Jedoch hat sich in der Praxis nichts verändert.