500 € für Aufnahme von Geflüchteten

Weil viele Kommunen derzeit an ihren Kapazitätsgrenzen arbeiten, habe ich im Spiegel vorgeschlagen, dass Privatleute 500 € für die Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine erhalten sollten.

SPIEGEL: Herr Marquardt, vor allem wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine sind wieder Hunderttausende Menschen nach Deutschland geflohen. Wie gut funktioniert die Unterbringung?

Marquardt: Sie funktioniert, aber die Unterkünfte sind voll und es funktioniert auch deshalb, weil viele Geflüchtete privat unterkommen. Es gibt da eine große Bereitschaft, zu helfen. So wird aufgefangen, dass der Staat in den letzten Jahren angefangen hat, Unterkünfte abzubauen oder Personalkosten zu reduzieren.

SPIEGEL: Der Krieg wird mutmaßlich noch andauern, keiner kann sagen, wie lange. Wie kann der Staat dafür sorgen, dass alle Geflüchteten gut versorgt sind?

Marquardt: Grundsätzlich ist die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten eine staatliche Aufgabe. Das muss sie auch bleiben. Aber es ist auch nicht verkehrt, wenn man wegkommt von zentralen Unterkünften – da helfen die privaten Zimmer und das sollte der Staat ruhig auch fördern.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Marquardt: Ich könnte mir gut vorstellen, dass man 500 Euro bekommt, wenn man zum Beispiel einer ukrainischen Frau mit Kind oder einem Geflüchteten ein Zuhause anbietet. Es gibt ja reichlich große Häuser mit freien Zimmern, viele Menschen haben Platz, sie wollen helfen, aber sie müssen auch die Kosten decken. Das fällt momentan vielen Menschen schwer und die Betreiber von Unterkünften bekommen ja auch viel Geld dafür vom Staat.

SPIEGEL: Gäbe es für eine vierköpfige Familie dann 2000 Euro? Da wären dann gewerbsmäßige Zustände schnell erreicht, wahrscheinlich nicht zum Vorteil der Geflüchteten.

Marquardt: Das müsste man im Detail klären, es gibt da sowieso ein paar Detailfragen zur Ausgestaltung im Mietrecht, die man lösen muss, aber auch lösen kann. Wahrscheinlich hinge es davon ab, wie viele Zimmer man zur Verfügung stellt. Klar ist für mich: Es darf nicht zum Geschäft werden und nicht zulasten der Geflüchteten gehen.

SPIEGEL: Wie wollen Sie das verhindern?

Marquardt: Die Zimmer sollten nicht auf einer Plattform direkt angeboten, sondern mit staatlicher Unterstützung vermittelt werden. Da könnte man dann ausschließen, dass Menschen in unwürdigen Zuständen hausen oder ausgenutzt werden, aber zum Beispiel auch darauf achten, dass Menschen mit einer gewissen Sprachgrundlage zusammenfinden, sei es Ukrainisch, Russisch, Englisch, Französisch oder Deutsch. Außerdem sollte es eine Stelle geben, die bei Problemen vermittelt und Lösungen findet. Privatpersonen sollten auch nicht mehr als eine Familie aufnehmen und das Programm sollte zeitlich begrenzt werden. Sonst hat ja auch niemand was davon.

SPIEGEL: Wer hätte überhaupt was davon?

Marquardt: Alle, ehrlich gesagt. Die Menschen, die gern helfen wollen, aber sich fragen, ob sie sich das leisten können oder ob es dafür einen guten Rahmen gibt. Die Geflüchteten, die oft in überfüllten Massenunterkünften wohnen müssen. Sie hätten mehr Ruhe, mehr Hilfe bei der Jobsuche oder der Bürokratie und könnten sich leichter in die Gesellschaft einfinden. Und auch die Allgemeinheit hätte etwas davon, denn der Staat würde sogar Geld sparen.

SPIEGEL: Würde er?

Marquardt: Betreiber von Unterkünften bekommen pro Person und Nacht viel mehr Geld, oft über 1000 Euro pro Monat. Die Unterbringung kostet also momentan deutlich mehr Geld als die vorgeschlagene Unterstützung der privaten Unterbringung. Natürlich entstünden weitere Kosten für die Organisation und Verwaltung, es wäre aber immer noch viel günstiger. Wenn die Geflüchteten privat auch bei der Jobsuche besser unterstützt werden, würde es auch schneller gar kein Geld mehr kosten, sondern Steuereinnahmen bringen. Es bräuchte auch eine Beschwerdestelle, damit schnell reagiert werden kann, wenn irgendwo Probleme entstehen und alle Seiten wissen, dass sie nicht feststecken. Dann könnte das sehr gut funktionieren.

SPIEGEL: Sehen Sie darin eine Dauerlösung oder ein Mittel für die aktuelle Lage in der Ukraine?

Marquardt: Wie gesagt, prinzipiell bleibt die Versorgung von Geflüchteten eine staatliche Aufgabe. Geflüchtete sollten auch schnell Teil der Gesellschaft werden und eigene Wohnungen finden. Ich würde das Programm nicht nach Nationalität beschränken, sondern für alle anerkannten Geflüchteten öffnen, aber halte es erst einmal für eine rundum vorteilhafte Möglichkeit, so ein Programm über ein Jahr zu testen. Danach kann man prüfen, ob daraus mehr wird – hoffentlich ja sogar europaweit.

Ehemalige Orts­kräfte wollen nach Deutschland: „Bürokratischer Dschungel“

Vor einem Jahr eroberten die Taliban Kabul. Im Interview mit RND fordere ich eine offizielle Anlaufstelle für Verfolgte zu schaffen, um zu beraten und Anträge zu bearbeiten, ein Aufnahmeprogramm einzurichten und das Ortskräfteverfahren zu reformieren und als internationale Gemeinschaft eine gemeinsame Strategie für Afghanistan zu erarbeiten. Das Interview könnt ihr hier lesen.

Weltzeit: Das Desaster der afghanischen Ortskräfte

Ich habe mit Weltzeit vom Deutschlandfunk Kultur ein ausführliches Gespräch zum Jahrestag der Machtübernahme der Taliban in Kabul geführt. Was damals passiert ist, war ein Desaster für das man sich schämen muss. Das deutsche Ortskräfteverfahren war mit Absicht nicht besonders funktional. Mit der neuen Bundesregierung hat sich hier einiges geändert. Das gesamte Gespräch könnt ihr hier nachhören.

RND: Italien darf Schiffe der Seenotrettung kontrollieren

Der Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat geurteilt: Italienischen Behörden ist es grundsätzlich gestattet, Seenotrettungsschiffe in italienischen Häfen zu kontrollieren. Ich beschreibe im Gespräch mit dem RND, dass die Rechtspopulisten in Italien es sich nicht entgehen lassen werden, das zum Thema zu machen. Ich werfe auch den italianischen Behörden eine perfide Taktik vor: „Die Behörden wissen, dass Menschen aus Seenot gerettet werden müssen. Das schreibt das Völkerrecht vor. Also versuchen sie, die zivilen Seenotretter zu schikanieren, um sie von ihren Einsätzen abzuhalten.“ Die Sicherheits­aspekte bei den Kontrollen in den Häfen seien „offensichtlich vorgeschoben, weil man nicht offen sagen will, dass man eine menschenrechts­feindliche Migrationsabwehr durchsetzen will“. Den Artikel könnt ihr hier lesen.

Blätter: „Die deutsche Schande von Kabul“

Dieser Text erschien in den Blättern für deutsche und Internationale Politik (November 2021) und ihr findet ihn auch unter diesem Link.

Nur einen Tag vor dem Fall Kabuls soll der damalige afghanische Präsident Ashraf Ghani gegenüber US-Außenminister Antony Blinken erklärt haben, er werde „bis in den Tod kämpfen“.[1] Doch als die Taliban am 15. August – und damit deutlich früher als erwartet – die Macht in der afghanischen Hauptstadt übernahmen, ergriff Ghani die Flucht. Er konnte nach Tadschikistan fliegen und von dort aus in die Vereinigten Arabischen Emirate reisen, wo ihm schnell und unbürokratisch politisches Asyl gewährt wurde. Ashraf Ghani gehört damit zu einer kleinen Schicht privilegierter Afghanen und Afghaninnen mit genug Geld und Verbindungen, um sich rasch in Sicherheit zu bringen. Die meisten Menschen in Afghanistan genießen diese Privilegien jedoch nicht. Nach der Machtübernahme der Taliban versuchten daher Tausende, auf den Kabuler Flughafen zu gelangen. Dort hofften sie, eine Evakuierungsmaschine zu erreichen, die sie außer Landes fliegen würde. Ihre Angst vor den neuen Machthabern war so groß, dass sich Menschen sogar an startende Flugzeuge klammerten. Einige von ihnen stürzten bei diesem verzweifelten Fluchtversuch in den Tod.

In jenen Tagen verwandelte sich der Flughafen von Kabul in einen Ort der Hoffnung und des Schreckens: Während zehntausende Menschen gerade noch evakuiert werden konnten – vor allem in die USA –, verloren am 26. August 180 Menschen bei einem Bombenanschlag der Terrormiliz „Islamischer Staat“ ihr Leben. Als Mitte August deutlich wurde, dass Afghanistan bald komplett an die Taliban fallen würde, entschied ich mich mit einigen anderen, nicht einfach tatenlos zuzusehen. Ich habe Afghanistan im Jahr 2016 als Fotograf besucht und dort viele Menschen kennengelernt, von denen einige nun gefährdet sind. Als Abgeordneter des Europäischen Parlaments bin ich zwar Teil der Delegation für die Beziehungen zu Afghanistan und arbeite auch in meinen Ausschüssen an Themen, die einen Bezug zum Land haben, aber in dieser Rolle kann man nicht direkt bei der Evakuierung von Menschen helfen. Daher haben wir einen zivilgesellschaftlichen Weg gewählt: Gemeinsam mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus der Seenotrettung und dem Journalismus gründeten wir die „Kabul Luftbrücke“ und arbeiten seither daran, Menschen aus Afghanistan zu evakuieren.

Schon bei einer ersten Rettungsaktion in der Nacht vom 25. auf den 26. August mit einem gecharterten Flugzeug konnten wir 18 Menschen vom Flughafen Kabul retten – und das, obwohl Teile des Auswärtigen Amts den Erfolg unserer Mission verhindern wollten. Zwischenzeitlich sollten die 18 afghanischen Ortskräfte der Portugiesen wieder das Flugzeug verlassen – auf deutsche Anweisung. Der verantwortliche Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in Kabul stand direkt auf dem Flughafen neben der Crew, aber weigerte sich mit ihnen zu reden. Nach einem stundenlangen Thriller gelang es uns, die schutzsuchenden Menschen doch noch auszufliegen.[2] Eine nachvollziehbare Begründung des Auswärtigen Amts für die Behinderung unserer Mission, haben wir bis zum heutigen Tag nicht erhalten. Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe November 2021. Klicken Sie hier, um zur Inhaltsübersicht dieser Ausgabe zu gelangen.

Nachdem die Bundesregierung am 26. August die Evakuierung in Kabul abgebrochen hatte, konnten wir weitere 189 Menschen in den Flughafen und von dort aus in Sicherheit bringen.[3] Seither haben wir es immer wieder geschafft, Schutzsuchende, aber auch deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger aus dem Land zu evakuieren, inzwischen sind es mehr als 400 Personen.[4]

Verschleppte Verfahren

Bei der „Kabul Luftbrücke“ erleben wir täglich, wie die Rettung von Menschen verhindert wird, weil Verfahren aus bürokratischen Gründen verschleppt werden oder niemand zuständig sein möchte. Das hat fatale Folgen: Mehrere Menschen, die auf deutschen Evakuierungslisten stehen, wurden bereits von den Taliban hingerichtet.[5] Obwohl deutsche Stellen öffentlich behauptet haben, dass alle diese Menschen ausgeflogen werden sollen, wurde ihre Rettung praktisch verhindert: Listen wurden nicht weitergeleitet, Busse konnten nicht bezahlt werden, Flugkapazitäten wurden nicht ausgeweitet und die Abstimmung verschiedener Behörden lief so schlecht, dass wir in zahlreichen Gesprächen Informationen von einem ins andere Ministerium tragen mussten.

Statt funktionierende technische Lösungen zu suchen, haben dutzende Beamte wochenlang Daten von E-Mails in Exceltabellen kopiert, in denen am Ende wohl niemand mehr so richtig durchsieht. Und der Transport der erwähnten 189 Personen, die wir in den Flughafen Kabul bringen wollten, war erst erfolgreich, als die Bundeswehr bereits abgezogen war.

Solche Evakuierungen mit der „Kabul Luftbrücke“ zeigen, dass die Bundesregierung mit dem entsprechenden politischen Willen viel mehr Menschen hätte retten können. Doch stattdessen entschied sie sich, die Evakuierung abzubrechen. Wie diese Verschleppung durch deutsche Behörden funktioniert, zeigt sich auch an der Familienzusammenführung: 4000 Menschen aus Afghanistan stehen laut Recherchen des Magazins „Panorama” und nach Auskunft des Auswärtigen Amts seit bis zu zwei Jahren auf der Warteliste für einen Termin, um überhaupt die benötigten Unterlagen einreichen zu können.[6] Aufgrund dieser Verzögerungstaktik sind viele Menschen nun unter Taliban-Herrschaft geraten, obwohl sie das Recht auf eine Familienzusammenführung in Deutschland haben. Inzwischen landen auch regelrecht absurde Fälle in unseren Postfächern: So bekam ein allein reisender 10jähriger Junge im afghanischen Herat die Nachricht, dass er nun nach Deutschland evakuiert werden könnte. Er müsse dazu allerdings zur deutschen Botschaft ins Nachbarland Pakistan gehen. Dass die Grenzen geschlossen sind und man dort nicht hinkommt, sagte ihm jedoch niemand.

All dies lässt sich nicht einfach mit dem plötzlichen Vormarsch der Taliban erklären – auch wenn Bundesregierung und Auswärtiges Amt genau das behaupten. Demnach habe der Siegeszug der Islamisten sie völlig überrascht. Erst mit der Evakuierung der US-Botschaft am 15. August wollen die zuständigen Stellen bemerkt haben, dass auch sie jetzt schnell evakuieren müssen, weil sie den besonders gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt, die Green Zone, nicht ohne US-Unterstützung halten konnten. Gegen diese Behauptung spricht allerdings ein Bericht des „Spiegel“, demzufolge die deutsche Botschafterin in den USA, Emily Haber, die Bundesregierung bereits neun Tage vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul vor einem schnellen Fall der Hauptstadt gewarnt hatte. Die Botschafterin habe das Auswärtige Amt gebeten, umgehend Notfallpläne für die Botschaft in Afghanistan auszuarbeiten.[7]

Das Auswärtige Amt war also informiert, unternahm aber tagelang nichts, um eine schnellere Evakuierung des Botschaftspersonals, von deutschen Staatsbürgerinnen, afghanischen Ortskräften und anderen Menschen, die Anspruch auf Hilfe hatten, zu gewährleisten. Viele Menschen hätten nach der Warnung der Botschafterin noch mit Charterflügen außer Landes gebracht werden können. Doch nichts geschah.

Die alleingelassenen Ortskräfte

Dabei hat allerdings nicht nur das Außenministerium versagt. Vielmehr spielten bei all diesen Entscheidungen auch innenpolitische Erwägungen eine große Rolle. Erhebliche Verantwortung lastet dabei auch auf den Schultern von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Bereits im Juni hatte ihn die Innenministerkonferenz dazu aufgefordert, die rasche Aufnahme von Ortskräften in die Wege zu leiten. Doch wie interne Dokumente, die dem „Tagesspiegel“ vorliegen, belegen, hat Seehofer blockiert und mit bürokratischen Hürden versucht, die Rettung von Menschen zu verzögern.[8]

Eine Methode, die Zahl der zu evakuierenden Menschen aus Afghanistan möglichst niedrig zu halten, bestand darin, die Definition der Ortskräfte so eng zu fassen, dass nur noch sehr wenige Menschen darunterfallen. Laut Auswärtigen Amt umfasst der Begriff Ortskräfte nun „ehemalige Beschäftigte des Auswärtigen Amts (Botschaft Kabul und Generalkonsulat Mazar-i Scharif), der Bundeswehr, der Bundespolizei, oder Agenturen der Entwicklungszusammenarbeit, sofern das Beschäftigungsverhältnis nicht bereits vor 2013 endete.”[9] Vor der Innenministerkonferenz im badischen Rust im Juni 2021 war die Definition sogar auf jene Menschen beschränkt, deren Verträge nicht vor 2019 geendet hatten. Wenn die Taliban aber Menschen jagen, weil diese mit ihren Feinden kooperiert haben, dann ist es für sie kein Kriterium, zu welchem Zeitpunkt diese beschäftigt waren. Die Taliban kämen nicht auf den Gedanken, einen Stichtag auf den 31. Dezember 2012 festzulegen und all jene zu verschonen, die davor für die Bundeswehr gearbeitet haben. Der Einsatz dauerte zwanzig Jahre, also sollten auch alle Menschen, die in diesem Zeitraum für die Deutschen gearbeitet haben, als Ortskräfte anerkannt werden.

Für die Taliban ist es auch irrelevant, ob die Menschen direkt bei ihrem Feind angestellt waren oder ihre Dienstleistungen über einen Drittanbieter zur Verfügung stellten. Wie der „Spiegel“ umfangreich recherchierte, wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr in Afghanistan jedoch systematisch in Subunternehmen gedrängt, damit sie später keine Aufnahme in Deutschland finden.[10] Sie wurden bewusst „outgesourct“, damit der deutsche Staat nicht die Verantwortung für ihr Leben und ihre Sicherheit übernehmen muss.

Dass es den deutschen Behörden vor allem um die Begrenzung der Zahl der Evakuierungsberechtigten geht, und weniger um die Sicherheit der Ortskräfte, zeigt sich auch an den vielen E-Mails, die mich seit dem Fall Kabuls erreichen. Hundertfach melden sich Menschen, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, aber am Ortskräfteverfahren scheitern. Unter ihnen finden sich auch die Fluglotsen aus Mazar-e-Sharif, die seit 2012 Verträge mit der Bundeswehr hatten. Sie organisierten den Abzug der deutschen Soldatinnen und Soldaten mit. Aber als der letzte Flieger abhob, wurden sie einfach zurückgelassen. Auch Bundeswehrsoldaten setzen sich mittlerweile dafür ein, dass diese Menschen nach Deutschland evakuiert werden, doch da sie nur mit Werkverträgen beschäftigt waren, werden ihre Anträge bislang abgelehnt.

Doch die Bundesregierung hintertrieb nicht nur die Aufnahme von Menschen, sondern versuchte auch, so lange wie möglich an ihrer Abschiebepraxis festzuhalten. Schon am 12. Juli hatte ich in meiner Funktion als Europaabgeordneter einen offenen Brief an Bundesaußenminister Heiko Maas gesandt, in dem ich darum bat, den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan an die neuen Erkenntnisse und Entwicklungen anzupassen.[11] Denn der Bericht bildete nicht die zu diesem Zeitpunkt aktuelle und sich bereits rapide verschlechternde Lage ab, sondern diente vor allem dazu, weiterhin Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abschieben zu können. Dabei hatten die Taliban schon damals große Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Längst war absehbar, dass sie in naher Zukunft in Kabul einmarschieren würden.

Erst kurz zuvor war bekannt geworden, dass bereits am 21. Juni ein im Februar aus Deutschland abgeschobener Afghane durch eine Handgranate getötet worden war.[12] Auch die damalige afghanische Regierung bat darum, die Abschiebungen aufgrund der Sicherheitslage vorerst auszusetzen.[13] Trotzdem führte die Bundesregierung weiterhin Sammelabschiebungen nach Afghanistan durch. Erst am 11. August, vier Tage vor dem Fall Kabuls, setzte das Bundesinnenministerium die Abschiebungen nach Afghanistan aus.[14]

Noch in der Vorwoche, am 5. August, hatte Seehofer gemeinsam mit den zuständigen Ministern aus Österreich, Dänemark, Griechenland, Belgien und der Ministerin aus den Niederlanden in einem Brief an den Vizepräsidenten der EU-Kommission, Margaritis Schinas, und die zuständige EU-Innenkommissarin Ylva Johansson gefordert, die Abschiebungen nach Afghanistan fortzuführen[15] – entgegen der Bitten der damaligen afghanischen Regierung. Doch die Ministerin und die Minister drängten in ihrem Brief darauf, den Appell aus Kabul zu ignorieren. Dies zeigt, dass es ihnen nicht um die Rechte und die mögliche Gefährdung von Menschen ging. Es ging ihnen auch nicht um einen nüchternen Blick auf die Realität in den Herkunftsländern oder darum, dass Menschen bedroht sind, weil sie mit europäischen Truppen zusammengearbeitet haben. Nein, es ging und geht einzig und allein darum, Abschiebungen und eine restriktive Flüchtlingspolitik zu rechtfertigen, auch wenn man dazu die Augen vor der Realität verschließen muss.

Die Lehren aus der deutschen Schande von Kabul

Bei alledem spielte nicht zuletzt auch Wahltaktik eine Rolle: Kabul fiel nur gut einen Monat vor der Bundestagswahl am 26. September. Bereits am 23. Juni hatte die Bundestagsfraktion der Grünen einen Antrag zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte gestellt. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD lehnten den Antrag jedoch gemeinsam mit der AfD ab.[16] Es ist durchaus üblich, dass die Regierungsfraktionen Anträge der Opposition ablehnen. Dennoch steht es ihnen frei, eigene Anträge zum selben Thema einzubringen. Doch dies geschah in dem Fall nicht. Das Verhalten der Koalitionspartner erklärt sich auch daraus, dass sie kurz vor der Wahl keine größere Anzahl von afghanischen Schutzberechtigten nach Deutschland kommen lassen wollten.

Bereits an dem Tag, an dem Kabul an die Taliban fiel, twitterte der CDU-Abgeordnete und Obmann im Auswärtigen Ausschuss, Roderich Kiesewetter zwar: „Es war ein großer und gravierender Fehler, den Antrag der Grünen – aus Prinzip – abzulehnen. Punkt.“[17] Doch in weiten Teilen von CDU/CSU und SPD gab es einen breiten Konsens, Migration und Flucht aus dem Wahlkampf herauszuhalten, weil man befürchtete, dass diese Themen der rechtsradikalen AfD nutzen könnten. Da war die notwendige und schnelle Evakuierung von zehntausenden Menschen aus Afghanistan kein Thema, das man offensiv auf die Agenda setzen wollte. Doch diese Strategie ging nicht auf. Die Bilder vom Kabuler Flughafen bestimmten die Nachrichtensendungen kurz vor der Wahl. Und wer über Jahre eine große Herausforderung wie Flucht und Migration nicht bestmöglich managen will, sondern versucht, das Thema aus der politischen Debatte zu halten, wird weder den Menschen noch der Demokratie helfen. Der Erfolg der Rechtsradikalen hängt nicht damit zusammen, dass man Schutzsuchende aufnimmt, sondern erklärt sich daraus, dass die anderen Parteien an konkreten Herausforderungen scheitern.

Es ist beschämend für die Bundesregierung, dass eine ad-hoc gegründete Initiative aus der Zivilgesellschaft wie die „Kabul Luftbrücke“ bereits zwei Wochen nach ihrer Gründung Menschen aus Kabul evakuieren konnte, während die Bundeswehr bereits abgezogen wurde. Umso mehr gilt jetzt: Die Evakuierungen aus Afghanistan müssen fortgeführt werden. Immer noch leben viele tausend Menschen in Afghanistan, die aufgrund ihrer Beziehungen oder ihrer Zusammenarbeit mit den Deutschen gefährdet sind. Wenn ihre Rettung an zu geringen personellen Kapazitäten bei der Bundesregierung, den Ministerien und den zuständigen Ämtern scheitert, müssen diese aufgestockt werden, um dann konsequent und möglichst zügig gefährdete Personen zu evakuieren. Zugleich müssen die Listen für Evakuierungsberechtigte wieder geöffnet werden. Und wir brauchen in Deutschland und der EU jeweils angemessene Aufnahmeprogramme, in deren Rahmen Menschen umgesiedelt werden können, damit sie sich nicht in die Hände von Schleppern begeben und auf einen lebensgefährlichen Weg nach Europa machen müssen. Die entsprechenden Verfahren müssen erleichtert und entbürokratisiert werden.

Natürlich darf man nicht vergessen, dass die großen Herausforderungen für die afghanische Gesellschaft nicht durch die Flucht nach Europa gelöst werden. Doch Zehntausende, die sich Jahrzehnte für uns, für Menschen- und Frauenrechte eingesetzt haben, müssen das Land nun verlassen können. Sie haben verdient, dass wir ihnen das ermöglichen.

Wir können die deutsche Schande von Kabul bei der Evakuierung nicht wiedergutmachen. Aber wir können zumindest zeigen, dass wir daraus gelernt haben und jetzt versuchen, es besser zu machen.

[1] Friederike Böge, Ein Hubschrauber voller Geld, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 24.8.2021.

[2] Wolfgang Bauer, 170 Sitzplätze, 170 Leben, www.zeit.de, 28.8.2021.

[3] Muriel Kalisch, „Lass uns ein Flugzeug mieten”, www.spiegel.de, 5.9.2021.

[4] Christine Keck, „Wir holen jede Woche Afghanen raus”, www.stuttgarter-zeitung.de, 8.10.2021; Private Initiative evakuiert elf Deutsche aus Kabul – neun von ihnen sind minderjährig, www.rnd.de, 6.10.2021.

[5] Joana Rettig, Mindestens sechs Menschen auf deutschen Evakuierungslisten in Afghanistan hingerichtet, www.politik.watson.de, 9.9.2021.

[6] Armin Ghassim und Jonas Schreijäg, Flüchtlinge: Behörden verschleppen Familiennachzug, www.tagesschau.de, 30.9.2021.

[7] Matthias Gebauer und Christoph Schult, Geheimer Kabelbericht warnte früh vor Kollaps in Kabul, in: „Der Spiegel“, 6.9.2021.

[8] Georg Ismar, Die Kabul-Krise der Regierung Merkel und das Bild, dass bleiben wird, www.tagesspiegel.de, 18.8.2021.

[9] Fragen und Antworten: Unterstützung bei der Ausreise aus Afghanistan, www.auswaertiges-amt.de, 11.10.2021.

[10] Matthias Gebauer, Christoph Reuter und Fidelius Schmid, Wie systematisch die Bundeswehr das Outsourcing ihrer Ortskräfte betrieb, www.spiegel.de, 25.6.2021.

[11] Erik Marquardt, Offener Brief an Heiko Maas zu Abschiebungen nach Afghanistan, www.erik-marquardt.eu, 15.7.2021.

[12] Kaija Kutter, In den Tod geschickt, www.taz.de, 6.7.2021.

[13] Afghanistan fordert Abschiebestopp aus Europa, www.zeit.de, 10.7.2021.

[14] Seehofer: Abschiebungen zurzeit zu gefährlich, www.zdf.de, 11.8.2021.

[15] Returns to Afghanistan – Letter to EU Commission, www.fragdenstaat.de, 5.8.2021.

[16] Antrag zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte abgelehnt, www.bundestag.de, 23.6.2021; Kersten Knipp, Kritik an hohen Hürden für Aufnahme afghanischer Ortskräfte, www.dw.de, 27.6.2021.

[17] www.twitter.com/rkiesewetter, 15.8.2021. Themen: Migration, Krieg und Frieden, Menschenrechte Aus: »Blätter« 11/2021, S. 77-82

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