Brief an die Kommission: Bleibelastung im neuen Moria

Seit das neue Camp Mavrovouni (Kara Tepe) auf Lesbos im September 2020 eröffnet wurde, gab es neben all den anderen katastrophalen Lebensbedingungen auch immer wieder schwerwiegende Bedenken wegen der Bleibelastung des ehemaligen Militärgebiets. Über 6.000 Menschen leben auf nachweislich bleiverseuchtem Boden, was vor allem schwangere Frauen und spielende Kinder gefährdet. Zusammen mit vielen weiteren Europaabgeordneten habe ich deshalb einen offenen Brief an die EU-Kommission unterstützt.

Im Januar dieses Jahres hat die Regierung „Ergebnisse“ einer Untersuchung veröffentlicht, die allerdings bewusst nur sehr lückenhafte Tests einbezog. Doch auch die dort gemessenen Bleiwerte liegen bedenklich hoch. Die griechische Regierung versucht das zu rechtfertigen, indem sie für diese Bedingungen ungeeignete und gefährlich hohe Grenzwerte ansetzt.

Wir fordern von der Europäischen Kommission, bei den griechischen Behörden darauf hinzuwirken, alle Camp-Insassen umgehend in weniger belastete Gebiete zu verlegen. Bis dahin müssen alle Bewohner:innen über die Gefahren einer Bleivergiftung umfassend informiert werden. Außerdem braucht es eine kostenfreie Versorgung mit Bluttests, vorrangig für Kinder unter zwei Jahren, die besonders gefährdet sind. Die Gesundheit und Sicherheit dieser Menschen ist stark bedroht. Man darf sie nicht noch länger, und schon gar nicht einen weiteren Winter lang, unter diesen Bedingungen einsperren.

Den vollständigen Brief an die Kommission und alle Unterzeichnenden findet ihr hier.

Anfrage zum „temporären“ Lager Mavrovouni auf Lesbos

Geflüchtete dürfen das neue Moria auf Lesbos nicht mehr einfach verlassen. Zu den Zuständen habe ich der Kommission Fragen gestellt.

Die Kommissarin schreibt in ihrer Antwort auf meine parlamentarische Anfrage, die sich nach Push-Backs an der griechisch-türkischen Seegrenze und der Rolle der EU-Grenz- und Küstenwache Frontex erkundigt: „Eine effektive und gut funktionierende Agentur für das Außengrenzmanagement, die den Schutz der Grundrechte bei der Ausübung ihrer Funktionen garantiert, gehört zu den Prioritäten der Kommission.
Und dennoch tun die Kommission, Frontex und die EU-Mitgliedstaaten ihr Möglichstes, um jede Verantwortung für die systematischen und schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen zu vermeiden, die Asylsuchende jeden Tag aufs Neue gefährden.

Hier findet ihr die vollständige Anfrage auf der Homepage des Europäischen Parlaments.

Ich habe der EU-Kommission folgende Frage am 1. Februar gestellt:

Betrifft: Lebensbedingungen im „temporären“ Lager Mavrovouni auf Lesbos.

Seit Anfang November dürfen Geflüchtete das neue Lager Kara Tepe (Mavrovouni) auf Lesbos nicht verlassen, außer für besonders wichtige Termine. Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Die Schutzsuchenden sind nun de facto eingesperrt.

Nach einem Besuch am 28.11.2020 hat Minister Mitarakis die Maßnahmen, um das Lager winterfest zu machen, für abgeschlossen erklärt, obwohl die Lebensbedingungen noch völlig unzureichend sind.

Das Lager befindet sich auf einem stillgelegten Schießplatz, weshalb ernsthaft zu vermuten ist, dass das Gelände mit Blei verseucht ist. Die Kommission vertraut hier offenbar den unbestätigten Angaben der griechischen Behörden, die auch drei Monate nach Eröffnung des Lagers keine unabhängigen Laboruntersuchungen des Bodens vorlegen konnten. Zusätzlich spricht die griechische Regierung bei den neuen Lagern von „closed controlled structures“, und Journalistinnen und Journalisten wird seit Monaten der Zugang zum Lager untersagt.

1.    Bewertet die Kommission den Zustand eines Lagers, in dem nur in Ausnahmefällen Ausgangsmöglichkeiten bestehen, als geschlossenes Lager oder als Haft?

2.    Wie begründet die Kommission die Nichteinhaltung der Aufnahmerichtlinie im Lager, und welche Maßnahmen wurden ergriffen, um gesundheitliche Gefahren auf dem Schießplatz auszuschließen?

3.    Wie stellt die Kommission sicher, dass EU-Gelder nicht für geschlossene Lager verwendet werden?

Antwort von Kommissarin Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 19.4.2021:

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie haben die griechischen Behörden restriktive Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit erlassen, die landesweit gelten und die Aufnahmezentren miteinschließen. Die Bewohner der Aufnahme- und Unterbringungseinrichtungen dürfen diese nur aus bestimmten Gründen betreten und verlassen. Zu diesen Gründen zählen die Deckung der Grundbedürfnisse oder laufende Asylverfahren.

Bei den mit Unterstützung der Taskforce der Kommission für das Migrationsmanagement durchgeführten Arbeiten zur Verbesserung der Aufnahmebedingungen im provisorischen Aufnahme- und Identifizierungszentrum (RIC) Mavrovouni werden Fortschritte gemacht. Die Hellenic Survey of Geology and Mineral Exploration entnahm Bodenproben und untersuchte diese auf Bleikontamination, um zu überprüfen, ob die Unterbringung in diesem Aufnahme- und Identifizierungszentrum ungefährlich ist. Die Ergebnisse und Einzelheiten der Untersuchungen sind öffentlich zugänglich. Von den 12 entnommenen Bodenproben lag eine Probe, die in der Nähe eines Verwaltungsbereichs entnommen wurde, über dem Grenzwert. Die griechischen Behörden haben das Gebiet eingezäunt, neue Erde aufgetragen, ein Betonfundament im Verwaltungsbereich gegossen und auf dem gesamten Gebiet einen Meter Erde zusätzlich aufgetragen. Nach Abschluss der Arbeiten wird erneut kontrolliert.

Das neue Zentrum auf Lesbos wird ein multifunktionales Zentrum mit technischen Vorkehrungen, die es den Bewohnern ermöglichen, das Zentrum mit Zugangsausweisen zu betreten und zu verlassen.

Über dieses Programm erhalten Geflüchtete in Griechenland Geld von der EU

Um die Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln zu unterstützen, hat das UNHCR ein Cash Assistance Programme aufgelegt. Dabei wird den Schutzsuchenden monatlich ein fester Betrag auf ein Konto überwiesen, über den sie dann frei verfügen können. 

Grundsätzlich soll das Cash Assistance Programme Schutzsuchenden die Möglichkeit bieten, Grundversorgung nach ihren individuellen Bedürfnissen zu gestalten. Es soll ihnen ein Stück Autonomie geben, in einer Situation, in der sie ihre Lebensumstände sonst nicht selbst gestalten können. Gleichzeitig wird versucht, so Beziehungen zur Bevölkerung aufzubauen, das Einleben zu erleichtern und die lokale Wirtschaft zu unterstützen. 

Es ist nicht vergleichbar mit einem Einkommen oder einer Sozialhilfe, auf die rechtlicher Anspruch besteht, sondern soll Menschen darin unterstützen, ihre Möglichkeiten zur eigenen Grundversorgung selbst zu gestalten. 

Wer bekommt Geld? 

Um zu bestimmen, wer Anspruch auf die Zahlung hat, hat sich die griechische Regierung gemeinsam mit der “European Union Civil Protection and Humanitarian Aid” auf eine Liste von Kriterien geeinigt: 

  • Nach dem 1. Januar 2015 in Griechenland angekommen 
  • Registriert von den griechischen Behörden und sich in Griechenland aufhaltend
  • Vorläufige oder abgeschlossene Registrierung durch die Asylbehörde
  • Offiziell von der griechischen Regierung ausgestelltes Dokument über ihre Identität und Aufenthaltsstatus
  • Über 18 Jahre alt 
  • Leben in Lagern oder sonstigen Unterbringungen (Schutzsuchende in privater Unterkunft werden ausgeschlossen) 
  • Nicht angestellt bei einer NGO oder UN Agentur
  • Nicht angestellt und ohne Einkommen 

Wie wird das Geld verteilt?

Das Geld, das zu 99,80% von der Europäischen Union kommt, wird von einem Konsortium namens “Greece Cash Alliance” (GCA) in Kooperation des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik verteilt. Die GCA besteht aus dem UNHCR, Catholic Relief Services, International Rescue Committee, Mercy Corps, International Federation of the Red Cross und Samaritan’s Purse. 

Die Menschen, die unterstützt werden, bekommen eine “UNHCR Greece Cash Alliance Card”, die wie jede andere Girokarte in Griechenland funktioniert. Damit kann also sowohl Geld abgehoben, als auch mit Karte in den Geschäften bezahlt werden. Die Karten funktionieren nur in Griechenland und werden bei versuchter Benutzung außerhalb permanent deaktiviert. Die Schutzsuchenden sind dazu verpflichtet regelmäßig bei einem der GCA Partner ihre Anwesenheit im Land und ihre aktuelle Qualifikation zur Inanspruchnahme zu bescheinigen.

Wie lange werden die Schutzsuchende unterstützt? 

Es gibt keine Mindest- oder Maximallaufzeit. Schutzsuchende werden solange unterstützt bis sie die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen. Das heißt, die Schutzsuchenden sind eigentlich immer nur bis zu dem nächsten Termin bei dem GCA Partner sicher, dass es weiterläuft. Selbstverständlich ist eine Änderung der Voraussetzungen möglich und führt auch dazu, dass Gelder an bestimmte Personen nicht mehr ausgezahlt werden. Auch möglich ist es, dass sich die Höhe des Geldes ändert. Hier ist unklar an welchen Richtgrößen die Höhe bemessen wird und auf welcher Basis, wer Änderungen festlegt. Aktuell wird in Griechenland zum Beispiel die Anzahl der erhaltenen Mahlzeiten im Lagern von den monatlichen Beträgen abgezogen. 

Wieviel und woher kommt das Geld? 

Insgesamt wurden im Jahr 2020 83 779 826,13 € verteilt. Aufgeschlüsselt auf den Februar 2021 haben in Griechenland 64 726 Personen Cash Assistance bezogen, insgesamt waren 37245 Karten im Umlauf. Das macht für den Februar 2021 einen Gesamtbetrag von knapp 7.3 Millionen Euro. 

Aktuell sind die Beträge so hoch: 

Betragshöhe an Orten, wo regelmäßige Mahlzeiten gestellt werden 

Einzelne Person über 18 90€
Paar, Elternteil und Kind140€
3-köpfige Familie190€
4-köpfige Familie240€
5-köpfige Familie290€
6-köpfige Familie310€
7-köpfige oder mehr Familie330€

Betragshöhe an Orten, wo regelmäßige Mahlzeiten nicht gestellt werden 

Einzelne Person über 18 150€
Paar, Elternteil und Kind280€
3-köpfige Familie340€
4-köpfige Familie400€
5-köpfige Familie450€
6-köpfige Familie500€
7-köpfige oder mehr Familie550€

Studie zeigt: EU-Kommission darf Seenotrettung finanzieren

Ich habe eine Studie in Auftrag gegeben ( Deutsch / Englisch), die untersucht welche rechtlichen Pflichten und Kompetenzen die Europäische Union in der Seenotrettung hat. Das gilt auch für militärische Einsätze der EU.

Im März 2020 beschloss die EU die Marinemission Irini, um Waffenschmuggel nach Libyen anhand von Satelliteninformationen, auf See und aus der Luft zu überwachen. Diese Militäroperation findet im östlichen Mittelmeer, weit entfernt der zentralen Fluchtroute über das Mittelmeer, statt. Diese extrem tödliche Route ist für viele Schutzsuchende der einzige Weg, die EU zu erreichen. 

Irini hat bisher keinen einzigen Menschen aus Seenot gerettet. Die Vorgängermisson Sophia rettete hingegen ab 2015 rund 45.000 Menschen. Auf Druck von EU-Staaten umfahren die Schiffe nun allerdings die Migrationsrouten, um keine Menschen retten zu müssen. Trotzdem befürwortet die Bundesregierung eine Fortsetzung von Irini. Aktuell sind an der Mission 19 deutschen Soldat:innen beteiligt. In der Vergangenheit sind auch Zweifel aufgekommen, ob durch die Mission das Ziel das Waffenembargo nach Libyen durchzusetzen, überhaupt erreicht werden kann.

Menschen ertrinken weiterhin im Mittelmeer

Obwohl immer weniger Menschen über das zentrale Mittelmeer fliehen, ist ein kontinuierlicher Anstieg der Todes- und Vermisstenraten zu verzeichnen. Alleine in den ersten drei Monaten 2021 sind bereits über 300 Menschen im Mittelmeer ertrunken. 

Oft wird argumentiert, dass Menschen sich nicht mehr in Gefahr bringen würden, wenn es keine Seenotrettung gäbe. Doch in der Realität sind die Bedingungen insbesondere für Menschen aus Subsahara-Afrika in Libyen so umenschlich, dass weiterhin Menschen fliehen müssen. Auch ohne Seenotrettung besteigen Menschen die seeuntauglichen Boote in der Hoffnung eigenständig Land zu erreichen. Auch ohne Seenotrettung ist es für viele Menschen – zwar noch lebensgefährlicher als ohnehin – aber eben dennoch möglich mit den Schlauchbooten Malta oder Italien zu erreichen. Der verbreitete Vorwurf eines Pull-Effekts durch zivile Seenotrettungsmissionen wurde zudem bereits in vorherigen Studien widerlegt.

Seenotrettung wird kriminalisiert, statt unterstützt 


Bislang sind es also hauptsächlich zivile Organisationen, die Seenotrettung betreiben. Sie werden dabei zunehmend von EU-Staaten kriminalisiert, da das politische Interesse vor allem darauf ausgerichtet ist, dass Menschen nicht aus den unmenschlichen Bedingungen in Libyen fliehen können. Dafür wird die libysche Küstenwache finanziert, die Menschen auf See von der Flucht mit Hilfe von Frontex-Aufklärungsflugzeugen nach Libyen zurückbringt und dort in Lagern interniert. Diese Praxis ist in mehreren Gutachten als völkerrechtswidrig beschrieben worden.

Die Europäische Kommission behauptet, dass Seenotrettung außerhalb ihres Kompetenzbereichs läge, was auch vom Europäischen Rat bekräftigt wird. Es sei die Aufgabe der Anrainerstaaten, Seenotrettungsoperationen durchzuführen. Eine staatliche EU-Seenotrettungsmission unter Beteiligung der Mitgliedstaaten ist leider in den nächsten Jahren nicht realistisch, obwohl absehbar ist, dass weiterhin Menschen im Mittelmeer ertrinken. Die Mitgliedstaaten werden sich nicht auf eine Mission einigen und es wäre zu einfach, immer wieder Dinge zu fordern, die nicht passieren werden.

EU-Kommission kann einspringen und Seenotrettung finanzieren

Doch es gäbe einen Ausweg. Wenn die EU-Kommission ihre immer wieder bekundeten Absichten zur Unterstützung von Seenotrettung ernst meint, könnte sie nichtstaatliche Organisationen finanziell unterstützen und so eine zivile Europäische Seenotrettungsmission aufbauen. Die Zustimmung der Mitgliedstaaten ist dafür nicht erforderlich. So legt es auch das von mir bei der Kanzlei Redeker/Dahs/Sellner in Auftrag gegebene Gutachten dar: “Nach aktueller Rechtslage ist gemäß Art. 214 Abs. 3 AEUV i.V.m. der Verordnung über die humanitäre Hilfe (Verordnung (EG) Nr. 1257/96) insbesondere eine finanzielle Hilfe an nichtstaatliche Organisationen und internationale Einrichtungen möglich, die sich für die Rettung von in Seenot geratenen Flüchtenden einsetzen.”

Kurzum: Die Europäische Kommission könnte eine nichtstaatliche Seenotrettungsmission finanzieren und so die effektive Seenotrettung sicherstellen. Das ist nun auch durch das umfangreiche Rechtsgutachten belegt.

Neues EU-Abkommen erleichtert Abschiebungen nach Afghanistan

Afghanistan gilt, noch vor Syrien, als das gefährlichste Land der Welt. Trotzdem wird nach Afghanistan abgeschoben, trotzdem hat die EU erneut ein Abkommen verabschiedet, das Abschiebungen nach Afghanistan weiter erleichtern soll. Dieses zwischen Kommission und Rat erarbeitete Dokument wurde Anfang Februar unterzeichnet, ohne dass dem EU-Parlament ein Mitspracherecht zugestanden hätte. 

Neues Afghanistan-Abkommen

Das neue Rückführungsabkommen JDMC (Joint Declaration on Migration Cooperation) löst die 2016 ausgehandelte ‚Joint Way Forward‘-Vereinbarung (JWF) ab. Inhaltlich ist das neue Abkommen ein weiterer Rückschritt für die Schutzsuchenden aus dem von Krieg und Wirtschaftskrise gebeutelten Land. In meinem Artikel vom November habe ich das JWF und seine Bedeutung für Abschiebungen, sowie die Situation für Schutzsuchende aus Afghanistan erklärt.  Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen sprachen sich gegen die Verlängerung des JWF-Abkommens aus. Das neue Rückführungsabkommen basiert auf dem JWF-Abkommen, es gibt jedoch eine Reihe von Änderungen:

So wird die Definition von besonders schutzbedürftigen Gruppen enger gefasst. Abschiebungen von Kranken sollen von nun an nur für Menschen, die unter einer sehr ernsten Krankheit leiden und -diese Konkretisierung ist neu – in Afghanistan nicht behandelt werden können, ausgesetzt werden.  Letzteres wird im konkreten Fall vermutlich sehr schlecht nachzuweisen sein. Auch die Möglichkeit für Abschiebungen wird erleichtert, da die Definition einer Familieneinheit auf Eltern und minderjährige Kinder beschränkt wird. Außerdem sollen sich alle EU-Mitgliedstaaten an Abschiebungen nach Afghanistan beteiligen, unabhängig von etwaigen bilateralen Abkommen mit dem Bürgerkriegsland. Das Abkommen ermöglicht Sammelabschiebungen mit bis zu 50 Personen pro Flug, insgesamt sollen künftig bis zu 500 Menschen monatlich abgeschoben werden können, wobei diese Zahl noch erhöht werden kann. Im vorherigen Abkommen gab es die inoffizielle Absprache, dass nicht mehr als ein Flug pro Woche aus Europa kommen soll. Das wird nun deutlich erhöht, es ist aber davon auszugehen, dass die afghanische Regierung keine Zahl über 500 pro Woche akzeptieren wird. 

Während das JWF-Abkommen für zwei Jahre gilt, ist der neue Rahmen durch das JDMC zeitlich unbegrenzt. Stattdessen kann das neue Abkommen nur nach Konsultation und zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr ausgesetzt werden.

verschärfte Sicherheitslage

Nach dem Ende der ersten Verhandlungsrunde in Afghanistan im Dezember 2020 wurden die Friedensgespräche von Doha Ende Februar 2021 wieder aufgenommen, kommen jedoch nur sehr stockend voran. Es gibt keinen Waffenstillstand und die Sicherheitslage verschlechtert sich zunehmend. Die Gewalt befindet sich auf dem höchsten Level der letzten 20 Jahre, in den letzten Monaten kam es vermehrt zu gezielten Anschlägen auf Journalist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und Beamt:innen. Der EU-Kommissar für Konfliktmanagement Janez Lenarčič erklärte erst kürzlich in seinem Reisebericht in das durch den Bürgerkrieg geprägte Land, dass der Konflikt jeden Winkel des Landes durchdringe und dazu führe, dass Millionen Zivilist:innen vertrieben werden und innerhalb und außerhalb des Landes Schutz suchen. Afghanistan hat weltweit die zweitgrößte Anzahl von Flüchtenden und Binnenvertriebenen. Insgesamt ist fast die Hälfte der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ohne diese wären 16,9 Millionen Menschen in Afghanistan vom Hungertod bedroht. Die Pandemie und Naturkatastrophen verschärfen die Situation noch zusätzlich. Das Land leidet unter einer der größten Lebensmittelkrisen der Welt.

EU-Staaten wollen weiterhin abschieben

Auch Kranke und Menschen in Behandlung sind nicht vor Abschiebungen geschützt. Erst im Februar führte Deutschland entgegen breiten Protestes eine weitere Sammelabschiebung von 26 Menschen nach Afghanistan durch, obwohl der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zuvor in einer Einzelfallentscheidung eine Abschiebung in das Land in Verbindung mit der aktuellen Coronalage für unrechtmäßig erklärte. Grund dafür sei die Unmöglichkeit, die elementarsten Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen. Doch die Abschiebungen gehen weiter. Die Anerkennungsquote von Asylantragssteller:innen aus Afghanistan lag 2020 bei etwa 53 %, sie unterscheidet sich jedoch stark zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten und gleicht so einer Lotterie für die Menschen, die es unter schwierigsten Bedingungen nach Europa geschafft haben. So lag sie beispielsweise in Bulgarien bei 1%, in den Niederlanden bei 42%.   Bei einer Rückkehr nach Afghanistan sind die Chancen auf erneute unmittelbare Vertreibung sehr hoch.

Was kann das Europäische Parlament tun?

Das Europäische Parlament hat keine Mitspracherechte bezüglich der Ausarbeitung und Verabschiedung des Abkommens und kann lediglich auf allgemeine Kontrollrechte zurückgreifen. Gleichzeitig ist hervorzuheben, dass Abschiebungen zumindest in Deutschland meist aufgrund eines bilateralen Abkommens mit Afghanistan vorgenommen werden. Trotzdem werde ich in den kommenden Wochen versuchen, das Thema auf die Tagesordnung des EPs zu bekommen und einen Austausch mit der Kommission zu organisieren. Ich möchte wissen,  an welche Bedingungen die EU-Gelder für Afghanistan gekoppelt werden und wo das Geld hinfließt. Besonders Kettenabschiebungen, mit denen Menschen nach Afghanistan abgeschoben werden, die gar nicht aus dem Land kommen, müssen verhindert werden. Nur ein Bruchteil der aus Afghanistan Geflüchteten kommt überhaupt nach Europa, ein Großteil wird von den Nachbarländern Pakistan (1,42 Millionen in 2020) und Iran (951000 in 2020) aufgenommen – von insgesamt 2,7 Mio Geflüchteten in 2020. Diese Länder müssen von der EU unterstützt werden, wir brauchen eine bessere Verteilung von Verantwortung, die auch im Globalen Pakt für Flüchtlinge gefordert wird. Progressive und menschenfreundliche Lösungsansätze sollten hervorgehoben und mobilisiert werden. Afghanistan ist und bleibt in näherer Zukunft nicht sicher, weshalb wir Abschiebungen in das Land weiter verhindern müssen.

Fünf Jahre EU-Türkei-Deal: Wie man sich Zeit erkaufte und sie nicht nutzte

Vor fünf Jahren einigten sich der Europäische Rat und die Kommission mit der Türkei auf einen Deal. 

Mit diesem Deal sollte verhindert werden, dass Menschen aus der Türkei in größerer Anzahl nach Europa fliehen können. Der Zenit der Krise von 2015, in der hunderttausende nach Europa kamen, war dabei längst überschritten und die Ankunftszahlen gingen bereits deutlich zurück. Trotzdem wollte man verhindern, dass Menschen weiterhin über die Türkei nach Europa fliehen können. 

Der Deal war ein Präzedenzfall für eine Politik, die versucht, die Grenzen der EU zu externalisieren: Die Grenze zur EU soll nicht mehr an den EU-Außengrenzen verlaufen, sondern bereits in der Türkei oder in Nordafrika. Auf ein robustes Asylsystem für die EU konnten sich die Staatschef:innen bis heute nicht einigen. Einig ist man sich bislang nur, dass schon außerhalb der EU Menschen aufgehalten werden sollen. Und jene die ankommen, werden seither oft in unwürdigen Massenlagern wie in Moria untergebracht.

Was wurde im EU-Türkei-Deal vereinbart?

Die Türkei erklärte sich bereit, Maßnahmen zu ergreifen, um irreguläre Migration zu verhindern. Im Gegenzug wurden dem Land Milliardenhilfen zugesagt. Der Deal sah außerdem vor, dass syrische Geflüchtete, die dennoch irregulär von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangten, wieder in die Türkei zurückgebracht werden. Für jede zurückgeführte Person sollte jeweils eine aus Syrien geflüchtete Person aus der Türkei in die EU umgesiedelt werden. Dieser Teil des Deals wurde nie wirklich umgesetzt. Zwischen dem ersten Quartal 2016 und dem ersten Quartal 2020 wurden rund 27.000 syrische Geflüchtete aus der gesamten Türkei in EU-Staaten umgesiedelt. Besonders im letzten Jahr wurden kaum noch Menschen umgesiedelt. In den letzten Jahren hatten also weniger als 1% der syrischen Geflüchteten in der Türkei die Möglichkeit, legal nach Europa zu kommen.

Im Gegenzug für die Verhinderung der Flucht aus der Türkei sollte Ankara auch ebeschleunigte Visaerleichterungen für ihre Bürger:innen erhalten. Diese Visa-Erleichterungen gibt es aber bis heute nicht, worauf die Türkei regelmäßig hinweist. Tatsächlich hat die Türkei nie alle Bedingungen für die Visa-Erleichterungen erfüllt. Da das Einhalten der Regeln allerdings auch schon vor fünf Jahren nicht realistisch war, kann man davon ausgehen, dass die Türkei die Erleichterungen als Bonus abseits des üblichen Verfahrens erwartet.

Der wichtigste und teuerste Punkt des Abkommens war die Zahlung von insgesamt 6 Milliarden Euro für diverse Projekte zur Unterstützung von syrischen Geflüchteten in der Türkei. Entgegen einiger Behauptungen floss das Geld tatsächlich und kam auch bereits zu großen Teilen an. 


Die damaligen Zusagen zeigen vor allem, dass die Staats- und Regierungschef:innen bereit waren, sehr große Zugeständnisse zu machen, damit der Deal wirksam wird. Das Europäische Parlament wurde in die Aushandlung des Deals nicht eingebunden. 

Rechtlich fragwürdige Entscheidungen

Dabei waren schon die Umsetzungsentscheidungen des EU-Türkei-Deals rechtlich fragwürdig. Die damalige griechische Regierung unter Alexis Tsipras wurde dazu gedrängt, ein schlechtes Gesetz durch ihr Parlament zu bringen, damit der Deal umgesetzt werden kann. Griechenland erkannte die Türkei als “sicheren Drittstaat” an, damit man Menschen leichter dorthin abschieben kann. Dabei flohen und fliehen auch aus der Türkei selbst tausende Menschen aufgrund von politischer Verfolgung. Die Türkei ist nicht nur kein sicheres Land für alle Geflüchteten. Sie ist noch nicht mal ein sicheres Land für viele ihrer eigenen Bürger:innen. Griechenland hatte damals kaum eine andere Wahl, denn ihnen wurde damit gedroht, dass sie durch die Schließung der nordmazedonischen Grenze mit den Geflüchteten durch Europa allein gelassen werden.

Die EU unterstützt mit den Rückführungen von Syrer:innen in die Türkei außerdem eine Politik, die am Ende auf Abschiebungen nach Syrien hinausläuft, weil sie von der Türkei erwartet, dass diese “alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass sich neue See- oder Landrouten für illegale Migration öffnen“.

Menschen werden inzwischen auch durch europäische Behörden systematisch aus Griechenland in die Türkei gepushbackt oder auch illegal abgeschoben. Damit versucht man auf Kosten der Menschenrechte und -würde weniger Abhängigkeit von der Türkei zu erprügeln und die Zahl der Schutzsuchenden in Europa zu dezimieren.  In der Türkei wiederum droht Kriegsflüchtlingen aus Syrien eine Abschiebung in ihr Heimatland. Das ist für viele lebensgefährlich. Den Menschen droht nicht nur Gefahr durch die Kriegshandlungen, sondern auch durch die Foltergefängnisse des Assad-Regimes, in denen zehntausende Menschen verschwunden sind. Darunter auch Menschen, die nach Syrien zurückkehrten, beziehungsweise zu einer Rückkehr gezwungen wurden. 

Dass derzeit tatsächlich weniger Menschen kommen, liegt nicht nur am EU-Türkei-Deal. Es liegt an der Pandemie und an den systematischen Pushbacks durch die griechischen Behörden. Es kommen nicht weniger Menschen wegen des Deals, sondern weil EU-Staaten fundamentale Menschenrechte mit Füßen treten.

In der Folge des Deals schottete die Türkei zudem auch die syrische Grenze ab, sodass der EU-Türkei-Deal auch dazu beiträgt, dass die Flucht aus dem syrischen Bürgerkrieg immer schwieriger wurde.

Europa macht sich erpressbar 

In den letzten fünf Jahren hat man in der Türkei die Erpressbarkeit der Europäischen Union vielfach mitbekommen. Die Türkei inhaftierte Oppositionelle und Journalist:innen, marschierte mit deutschen Leopard-2 Panzern in Syrien ein und bekämpft Minderheiten im eigenen Land. Insbesondere zum Einmarsch in Syrien war von vielen EU-Verantwortlichen vor allem Schweigen zu vernehmen. Kritik an schweren Menschenrechtsverletzungen wird zwar geäußert, sie hat aber selten reale politische Folgen – aus Angst, die Türkei könnte die Grenzen zu Griechenland und Bulgarien öffnen. 

Dass die Europäische Union auch Jahre, nachdem sie sich durch den Türkei-Deal Zeit erkaufte, immer noch kein robustes rechtsstaatliches Asylsystem hatte, rächte sich im März 2020. Ich selbst habe das vor einem Jahr vor Ort auf Lesbos erfahren. 

Nachdem Erdoğan eine Grenzöffnung verkündete und plötzlich einige Tausend Menschen an der Außengrenze standen, reagierte Griechenland mit Gewalt und setzte einfach das Grundrecht auf Asyl aus. Das war rechtswidrig. Die griechische Küstenwache begann in Richtung von Schlauchbooten voller Menschen zu schießen, statt diese zu retten. Man ließ Boote stundenlang in Seenot verharren, statt sofort einzugreifen. Ein Mädchen ertrank bei dem Versuch nach Lesbos zu gelangen, obwohl man sie hätte retten können. Die griechische Polizei schoß mit scharfer Munition auf Menschen und tötete dabei sehr wahrscheinlich mehrere Personen, zum Beispiel Muhammad Gulzar. 

Diese Handlungen wurden damals mit einer militärischen Rhetorik gerechtfertigt. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland als “Schutzschild Europas.” 

Die Regierung in Ankara hat damals sehr genau mitbekommen, dass sie die EU erpressen kann, indem sie einige wenige Tausend Menschen in Richtung EU-Grenze passieren lässt oder diese sogar in Bussen dort hinbringt. Man muss sich nicht wundern, dass auf dem internationalen Parkett niemand mehr eine Staatengemeinschaft ernst nimmt, die sich durch die Ankunft von Geflüchteten auf ein paar Schlauchbooten erpressbar machen lässt. 

In der EU wird versucht, diese Politik zu rechtfertigen, weil man sich vor einem neuen 2015 fürchtet. Aber die vielen Millionen Menschen, die in der Türkei auf gepackten Koffern sitzen um in die EU zu kommen – es gibt sie nicht. Als Erdoğan vor einem Jahr die Grenzen öffnete, kamen nicht Hunderttausende, sondern nur wenige Tausend. Unter ihnen war kaum jemand aus Syrien, obwohl in der Türkei mehr als 3,5 Millionen Syrer:innen leben. Die meisten Geflüchteten in der Türkei leben nahe der syrischen Grenze. Sie wünschen sich eine Rückkehr oder haben sich in den vergangenen Jahren in der Türkei eingelebt. Viele haben die Sprache gelernt und Arbeit gefunden. Die meisten dieser Menschen wollen überhaupt nicht in die EU. 

Nicht alles ist schlecht am Deal

Nicht alles an dem Deal ist schlecht. Und natürlich ist es gut, wenn die EU den Geflüchteten in der Türkei hilft. Der EU-Türkei-Deal enthält eine Liste wichtiger Zusagen, von denen einige gut und notwendig sind. Dazu gehören die finanzielle Unterstützung, um syrischen Geflüchteten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Vergabe der hierfür notwendigen Mittel wurde erleichtert. Ein Großteil der zugesagten sechs Milliarden Euro wurde inzwischen auf den Weg gebracht. 

Mit diesen Geldern wurde hunderttausenden Kindern aus Syrien der Schulbesuch ermöglicht, Menschen konnten zum Arzt gehen oder ihnen wurde geholfen, die Sprache zu lernen. Ein Großteil der Gelder ging direkt an Hilfsorganisationen, auch wenn die türkische Regierung darauf drängte, mehr Gelder an staatliche Stellen in der Türkei zu überweisen. Auch die Finanzierung des türkischen Gesundheits- und Bildungsministeriums ist nicht per se zu verurteilen.

Eines der Probleme des Deals ist jedoch, dass durch die mangelnde parlamentarische Kontrolle und Rechenschaftspflicht nicht klar ist, welche Projekte wie erfolgreich waren.

Leider wurden einige sinnvolle Aspekte des EU-Türkei-Deals, wie die Schaffung von legalen Fluchtwegen, nicht angemessen umgesetzt. Und trotz der Gelder aus der EU entsprechen die Aufnahmebedingungen für Geflüchtete oft nicht den humanitären Standards und ein wirklicher Zugang zu staatlichen Dienstleistungen oder dem Arbeitsmarkt besteht für viele nur auf dem Papier, aber nicht in der Realität. 

Und wie sollte es weiter gehen?

Es wird viel von Fluchtursachen geredet, doch im Zentrum der Maßnahmen stehen sie selten. Stattdessen wird die Europäische Asylpolitik zu oft von kurzfristigen Zielen geprägt. Für ein künftiges Abkommen wäre es sinnvoll, dass man die Zusagen legaler Fluchtwege und Umverteilung einhält und sich statt auf dysfunktionale Rückführungsmechanismen auf die Ursachen der Flucht aus der Türkei konzentriert. Es muss das Ziel sein, dass Menschen, die in die Türkei geflohen sind, nicht erst nach Europa fliehen müssen, um endlich in Sicherheit zu sein. Das erreichen wir jedoch nicht durch Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen, sondern dadurch, dass wir die Türkei unterstützen, Perspektiven für Geflüchtete zu schaffen. 

Deswegen sollten die erfolgreichen Programme in der Türkei fortgesetzt und ausgebaut werden. Wichtig wäre, dass sie nicht nur Menschen aus Syrien erreichen, sondern auch die vielen Hunderttausend anderen Geflüchteten, die zum Beispiel aus Afghanistan kommen. Man hat sich mit dem Deal als Europa vor allem auf Kosten der Menschenrechte, Zeit gekauft. Tragischerweise hat man diese Zeit nicht genutzt, sondern steht fünf Jahre später schlechter da als vorher: Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen haben inzwischen System und die Massenlager an den Außengrenzen dienen eher der Abschreckung, als der menschenwürdigen Unterbringung von Schutzsuchenden. Auch ein System zur Umverteilung von Schutzsuchenden in der EU oder die Schaffung von legalen Fluchtwegen ist seit 2016 nicht erreicht worden. Weltweit ist die Zahl der Geflüchteten nach UN-Angaben in den letzten 5 Jahren um ca. 15 Millionen Menschen gestiegen – aller Beteuerung zur Bekämpfung von Fluchtursachen zum Trotz.

Diese legalen Migrationsmöglichkeiten in die EU gibt es

Es gibt zu wenige legale Migrationsmöglichkeiten in die EU. Das ist vor allem für Flüchtende ein Problem, die oft ihr Leben riskieren müssen, um Asyl zu beantragen. 

Weil die EU daran scheitert, legale Flucht- und Migrationswege zu schaffen, sterben Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen. Die Externalisierungspolitik der EU ist darauf ausgerichtet, Menschen schon weit vor den Grenzen Europas davon abzuhalten, europäischen Boden zu betreten. Das macht es Schutzsuchenden sehr schwer, in der EU Asyl zu beantragen. Trotz einiger Beteuerungen, vermehrte Möglichkeiten der legalen Einreise zu schaffen, hat sich hier wenig getan. Welche Optionen Menschen haben, die auf legalem Weg in die EU migrieren möchten, will ich im Folgenden erklären. 

Grundsätzlich gibt es die Möglichkeit, mit der “EU Blue Card” oder einem gültigen Visum einzureisen. Wer über kein gültiges Visum oder die EU Blue Card verfügt, kann einen Asylantrag stellen. 

Im Jahr 2019 wurden 2,9 Millionen Menschen aus Drittstaaten Aufenthaltsgenehmigungen gewährt. 41% von ihnen erlangten eine Arbeitsgenehmigung, 27% kamen aus familiären Gründen und 14% der Menschen für Bildungszwecke in die EU. Dazu kommen 631 579 Asylanträge. Legale Migration macht den größten Teil der Migration in die EU aus. Die Zahl der illegalisierten Grenzüberschreitungen beträgt dagegen nur 141 700 Fälle.  

In der Migrationspolitik teilen sich die EU und die Mitgliedstaaten einige Verantwortlichkeiten, was die Einführung von EU-weiten Regelungen zu Migration erschwert. Während die EU Einreisevoraussetzungen und Aufenthaltsbedingungen für Menschen aus Drittstaaten festlegen kann, liegt es an den Mitgliedstaaten, diese umzusetzen. Sie können bestimmen, wie vielen Menschen aus Drittstaaten sie Einreise- und Arbeitsgenehmigungen erteilen. Die EU kann die Aufnahme und Integration von Drittstaatsangehörigen durch geeignete Rahmenbedingungen und Anreize fördern, doch es gelten die jeweils nationalen Bestimmungen. 

Die EU Blue Card 

Die EU Blue Card wurde 2008 eingeführt und nach einigen Mängeln 2017 angepasst. Dieses beschleunigte Verfahren soll attraktive Bedingungen für Hochqualifizierte aus Drittstaaten schaffen. Hochqualifizierte mit einem Universitätsabschluss und einem Arbeitsvertrag in Deutschland mit einem jährlichen Mindesteinkommen von 50.800€ können mit der EU Blue Card in die EU einreisen und hier arbeiten, gleiches gilt für Hochqualifizierte eines Gebiets, in dem es in der EU an Fachkräften mangelt, mit einem Arbeitsvertrag mit einem jährlichen Mindestgehalt von 39.624€.
Mehr Informationen zur Blue Card gibt es bei Infomigrants und im Visaguide.

Visa

Wer ein gültiges Visum besitzt, kann mit dem Flugzeug einreisen und sich nach dem Schengener Grenzkodex im Schengenraum bewegen. In diesem Fall kann ein Wunsch nach Asyl mündlich geäußert werden. Wer ohne gültigen Pass einreisen konnte, muss ein Flughafenverfahren durch die Polizei im Transitbereich durchlaufen. Im Falle einer Ablehnung wird ein Einreiseverbot ausgesprochen. Gegen dieses kann Widerspruch eingelegt werden. Wenn das Flughafenverfahren oder ein dagegen eingelegter Widerspruch positiv ausfällt, wird ein Asylverfahren eingeleitet.

Humanitäre Visa

Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten humanitäre Visa für Menschen, die noch nicht als Geflüchtete anerkannt sind, ausstellen. Diese können legal in den Mitgliedstaat einreisen und hier einen Asylantrag stellen. Einen gemeinsamen europäischen Rahmen hierfür gibt es bislang nicht.

Bei positiv entschiedenen Asylanträgen im Sinne der Genfer Flüchtlingskommission oder dem subsidiären Schutz können Menschen von einem Mitgliedstaat in einen anderen umgesiedelt werden. Hier stehen Menschen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, ähnliche Rechte zu wie im Ersteinreiseland. Dieses Verfahren ist als Relocation bekannt.  

Eine Übersicht der Möglichkeiten für Schutzsuchende in Deutschland eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, findet ihr hier. Infomigrants beschreibt die legalen Migrationsmöglichkeiten in die EU auf Englisch.

Arbeitsmigration

Für Hochqualifizierte, Studierende und Wissenschaftler:innen, Saisonarbeiter:innen und Menschen, die innerbetrieblich den Standort wechseln, gibt es legale Richtlinien, die die Migration erleichtern sollen. 

Für die rund 100.000 Saisonarbeiter:innen in der EU regelt die Richtlinie 2014/36/EU  die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen von Drittstaatsangehörigen. Diese sind besonders im Tourismus- und Landwirtschaftssektor beschäftigt. Für einen Zeitraum zwischen fünf und neun Monaten dürfen sie sich legal in der EU aufhalten, um saisonal zu arbeiten. Auch in dieser Zeit muss sich ihr Hauptwohnsitz jedoch im jeweiligen Drittstaat befinden. 

Die Richtlinie 2014/66/EU regelt die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für Drittstaatsangehörige im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers. Wer außerhalb der EU in einem internationalen Unternehmen beschäftigt ist, kann in eine Niederlassung oder Tochtergesellschaft innerhalb der EU versetzt werden. 

Für internationale Auszubildende, Studierende und Wissenschaftler:innen, sowie für Austauschschüler:innen und Freiwillige, Au-Pairs und Bildungsreisende gilt die Richtlinie (EU) 2016/801. Diese ermöglicht Studierenden und Wissenschaftler:innen auch nach Abschluss von Studium oder Forschung weitere neun Monate in der EU zu bleiben, um Arbeit zu finden oder ein Unternehmen zu gründen. Forschende dürfen auch Familienangehörige in die EU mitbringen.  Am Programm Erasmus+ können auch Nicht-EU-Bürger:innen teilnehmen. 

Familienzusammenführung

Wenn sich ein Familienmitglied bereits legal in der EU aufhält, dürfen Familienmitglieder nachziehen. Die Richtlinie 2003/86/EG legt dafür den Rahmen fest. So können Ehepartner:in, minderjährige Kinder und die Kinder des Ehepartners bzw. der Ehepartnerin nach kommen. Mitgliedstaaten können auch die Zusammenführung unverheirateter Partner:innen, erwachsener Kindern und unterhaltsberechtigter Eltern und Großeltern erlauben. Die nachgezogenen Familienmitglieder erhalten eine Aufenthaltserlaubnis entsprechend des bereits migrierten Familienmitglieds und können nach maximal fünf Jahren eine eigenständige Erlaubnis beantragen. 

Allerdings können Mitgliedstaaten bestimmte Kriterien festlegen, um die Familienzusammenführung zu genehmigen. So kann die Zusammenführung an finanzielle Mittel, eine geeignete Unterkunft und eine Krankenversicherung, sowie „Integrationsmaßnahmen“ geknüpft sein. Zudem kann es zu einer maximal zweijährigen Wartezeit kommen. Wenn aus Sicht der Behörden eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit zu befürchten ist, kann der Antrag abgelehnt werden. Betrugsfälle wie Scheinadoption oder Scheinheirat können geahndet werden. Wenn die antragstellende Person als Flüchtling anerkannt wurde, sind die Kriterien zur Gewährung von Familienzusammenführung etwas milder. 

Nachzulesen sind die Regelungen hier

Neuansiedlung (Resettlement)

Neuansiedlung bedeutet, dass Drittstaatsangehörige, die internationalen Schutz benötigen, aus einem Drittstaat in einen EU-Mitgliedstaat transferiert werden, der sie aufnimmt und ihnen Schutz gewährt.

Voraussetzung für eine Neuansiedlung ist, dass das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) entscheidet, dass die Person nach der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtling gilt und eine Neuansiedlung das geeignetste Verfahren ist. Auch staatenlose Menschen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht als Flüchtlinge gelten, können neu angesiedelt werden. Nach der Auswahl durch UNHCR werden die Fälle potenziellen Aufnahmestaaten vorgelegt, die über die Bewilligung oder Ablehnung der Neuansiedlungen entscheiden. Die Kriterien der einzelnen Mitgliedstaaten und die Zeit für eine Neuansiedlung variieren.

Wer mit dem Neuansiedlungsverfahren in die EU kommt, ist vor Zurückweisung (refoulement) in Drittstaaten geschützt und verfügt über ähnliche Rechte wie Staatsbürger:innen. Gleiches gilt für Familienmitglieder. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, selbst die Staatsbürgerschaft zu bekommen. 

Das European-Resettlement-Network erklärt die einzelnen Schritte im Neuansiedlungsverfahren und zeigt Möglichkeiten auf, über das Verfahren eine Aufenthaltsgenehmigung innerhalb der EU zu erlangen. 

Eine Übersicht über das Neuansiedlungsverfahren von dem wissenschaftlichen Dienst des Europäischen Parlaments könnt ihr bei EPRS nachlesen.

ARAPs (active refugee admission policies)

Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, dass Staaten eigene aktive Richtlinien für die Aufnahme von Schutzsuchenden verabschieden. So werden derzeit neue Aufnahmeinstrumente wie private Partnerschaften und Notfallevakuierungen erprobt. Private Partnerschaften  basieren auf privater Unterstützung und Finanzierung von Schutzsuchenden. Notfallevakuierungen sind an flexiblere Bedingungen als traditionelle Neuansiedlungsverfahren gekoppelt und führen eher zu vorübergehendem Schutzstatus. Außerdem gibt es die Möglichkeit, über Stipendienprogramme nach Europa zu kommen.

Diese ARAPS (active refugee admission policies) sind freiwillig. Es besteht die Gefahr, dass hier über die Aufnahme von hilfsbedürftigen Menschen mehr nach funktionalen Kriterien als nach humanitären Notsituationen entschieden wird und Menschen potenziell Diskriminierung erfahren. Andererseits können ARAPs dazu führen, dass Schutzsuchenden auf sicherem und legalem Weg Schutz erhalten. Darüber hinaus bietet die Internationale Organisation für Migration (IOM) Schulungen vor und nach der Ankunft an, um die Aufnahme und Integration zu fördern. 

Der Fluchtforschungsblog gibt einen Überblick über ARAPs und potenzielle Schwachstellen sowie Forschungslücken.

Wichtige Rechte, Möglichkeiten und Abläufe zu Asyl in der EU findet ihr hier.

Wer in die EU migrieren möchte, um zu arbeiten, zu studieren oder die Familie zusammen zu führen, kann sich auf dem EU-Immigration-Portal informieren. 

Was wir fordern

Die legalen Wege in die EU müssen ausgebaut und Menschen darüber informiert werden. Wir Grüne fordern legale und sichere Migrationswege in die EU und flexible Regelungen, um Familienzusammenführungen sowie Arbeit und Studium innerhalb der EU für Drittstaatenangehörige zu erleichtern.

Daher setzen wir uns für die Gestaltung eines EU-weiten Visasystems für humanitäre Visa ein. So sollen Schutzsuchende verstärkt die Möglichkeit haben, in Botschaften und Konsulaten außerhalb der EU Visa zu beantragen, sodass sie legal und sicher in die EU einreisen können. 

Darüber hinaus fordern wir einen europäischen Migrationskodex. Dieser soll die Rechte von Migrant:innen in der EU schützen. Hierfür müssen die Rechte innerhalb der EU angeglichen und neue und sichere legale Wege für Migration in die EU geschaffen werden – und zwar unabhängig von der Qualifikation und dem Einkommen der Migrant:innen. Besonders die Rechte von Migrant:innen mit geringem Einkommen und geringer Qualifikation müssen ausgebaut werden, denn der Wert von Menschen misst sich nicht in ihrer ökonomischen Verwertbarkeit.

Außerdem braucht es Abkommen mit Drittstaaten, um Fachkräfteabwanderung in diesen Ländern zu vermeiden. Stattdessen sollten ausgewogene Partnerschaften geschlossen werden. Dafür müssen sie von weiteren Maßnahmen zur Migrationskontrolle und Rücknahmeabkommen abgekoppelt sein. Partnerschaften könnten zum Beispiel Mehrfacheinreisevisa erleichtern und Pilotprojekte ausweiten.

Das ganze Positionspapier der grünen Fraktion im Europäischen Parlament zum Thema Arbeitsmigration aus Drittstaaten könnt ihr hier nachlesen. 

Anfrage: Frontex und Zurückweisungen auf See

Um als Europaabgeordneter meine parlamentarische Kontrollfunktion ausüben zu können, habe ich die Möglichkeit, Anfragen an die EU-Kommission stellen. Die Kommission muss diese Fragen beantworten.
Ich habe ich der Kommission folgende Fragen gestellt:

Betrifft: Zurückweisungen auf See und die Forderung von Frontex nach laxeren Regeln für die Ausschiffung von Geretteten in Drittstaaten

Als Reaktion auf Medienrecherchen, wonach die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) in illegale Zurückweisungen auf See in der Ägäis verwickelt war, will Frontex einen „Evaluierungsausschuss“ unter dem Vorsitz der Kommission einsetzen[1]. Der Ausschuss soll sich vor allem mit der Seeaußengrenzenverordnung[2] beschäftigen. Darin sind Frontex-Einsätze auf See geregelt und wird das Verbot der Zurückweisung auf See umgesetzt, das sich aus dem Hirsi-Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs[3] ergibt. Die Agentur hatte sich bereits in ihrem Jahresbericht über die Seeaußengrenzenverordnung vom 27. August 2020 darüber beklagt, dass die Regeln für Frontex-Einsätze auf See zu strikt seien, vor allem was Ausschiffungen von aus Seenot Geretteten in Drittstaaten angehe[4]. Das mache Frontex-Einsätze für die Mitgliedstaaten unattraktiv. Nach der Verordnung ist es Frontex strikt verboten, sich an Zurückweisungen auf See zu beteiligen.

1.    Hält die Kommission die Einrichtung eines solchen Ausschusses für eine angemessene Reaktion auf die mögliche Beteiligung von Frontex an Zurückweisungen auf See?

2.    Sofern die Kommission beabsichtigt, den Vorsitz des Ausschusses zu übernehmen, welche Zielsetzung verfolgt sie dabei?

3.    Kann die Kommission ausschließen, dass die Seeaußengrenzenverordnung aufgeweicht werden soll, um die Zurückweisung oder Ausschiffung von Geretteten in Drittstaaten zu erleichtern?

Antwort von Kommissarin Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission am 25.02.2021:

Die Kommission unterstützt die Einrichtung eines solchen Ausschusses nicht, da der Verwaltungsrat der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) bereits eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, die derzeit eine Untersuchung aller Aspekte im Zusammenhang mit der Angelegenheit durchführt. Diese befasst sich mit den mutmaßlichen Vorfällen, den von Frontex ergriffenen Maßnahmen, den Bestimmungen über die Seeeinsätze von Frontex und der Angemessenheit des Berichterstattungssystems der Agentur. Die Kommission ist in dieser Arbeitsgruppe vertreten.

Der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres und das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments sind eng in diesen Prozess eingebunden.

Alle relevanten Fragen zur praktischen Umsetzung des auf die operativen Tätigkeiten von Frontex anwendbaren Unionsrechts könnten im Rahmen der laufenden Beratungen auf Ebene des Verwaltungsrats mit der Maßgabe behandelt werden, dass eine verbindliche Auslegung des Unionsrechts nur durch den Europäischen Gerichtshof erfolgen kann.

Die Kommission ist nach wie vor entschlossen, den wirksamen Schutz unserer Außengrenzen unter uneingeschränkter Einhaltung der geltenden Bestimmungen des Unionsrechts, einschließlich jener zum Schutz der Grundrechte, sicherzustellen. Unbeschadet des in den Verträgen vorgesehen Initiativrechts der Kommission im Hinblick auf die einschlägigen Politikbereiche der Union ist anzumerken, dass die Überarbeitung der Verordnung (EU) Nr. 656/2014[5] nicht im Legislativprogramm der Kommission enthalten ist.


[1]     https://frontex.europa.eu/media-centre/news-release/frontex-calls-for-committee-to-consider-questions-related-to-sea-surveillance-BMieC8

[2]     Verordnung (EU) Nr. 656/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit.

[3]     Hirsi Jamaa u. a. gegen Italien.

[4]     Frontex: Annual report on the implementation of Regulation (EU) No 656/2014 of the European Parliament and of the Council of 15 May 2014 establishing rules for the surveillance of the external sea borders in the context of operational cooperation coordinated by Frontex 2019, 27/8/2020 (noch nicht veröffentlicht).

[5] ABl. L 189 vom 27.6.2014, S. 93

Frontex-Untersuchungsgruppe im Europäischen Parlament nimmt ihre Arbeit auf

Heute, am 23. Februar 2021, traf zum ersten mal die Frontex-Untersuchungsgruppe des Europäischen Parlaments zusammen. Sie besteht aus 14 Abgeordneten, zu denen auch ich gehöre. Im Zentrum steht die Frage, ob die Agentur systematisch Menschenrechtsverletzungen begangen hat. In vier Monaten wird die Gruppe ihren ersten Bericht vorlegen. Auch nach der ersten Untersuchung wird sich die Gruppe weiter mit Frontex befassen.

Die Vorwürfe gegen die EU-Agentur Frontex wiegen schwer. Griechische Beamte schleppen massenhaft Geflüchtete aufs offene Meer und die Agentur schaut dabei zu oder hilft sogar aktiv mit. Das belegen investigative Recherchen unabhängiger Medien.

Frontex zeigt bislang wenig Interesse an Aufklärung

Das Interesse an einer Aufklärung bei Frontex ist hingegen gering. Interne Unterlagen von Frontex zeigen, dass die Agentur versuchte, Verbrechen zu verschleiern. Insbesondere Frontexchef Fabrice Leggeri verhinderte die Ermittlungen und belog auch uns Abgeordnete, als er im Europäischen Parlament geladen war. Am Folgetag musste selbst die Presseabteilung von Frontex zugeben, dass Leggeri gelogen hatte. 

Trotz der Beweislast behauptet der Frontexdirektor weiterhin, er habe keine Kenntnis von diesen Vorfällen und Frontex halte sich an die menschenrechtlichen Vorgaben. Allerdings hat Leggeri selbst Fragen an die betroffenen Mitgliedstaaten hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen gesendet. Es ist also nicht glaubwürdig, dass er gar nichts wisse. 

Bundespolizei in Pushback involviert

Es gibt eine Vielzahl von Fällen, wo Frontex Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. So hat am 10. August 2020 ein Schiff mit deutscher Besatzung ein Schlauchboot mit Geflüchteten gestoppt und gepushbacked. Somit sind auch deutsche Bundespolizist:innen in solche Aktivitäten verwickelt. Mit dem Magazin Frontal 21 sprach ein Bundespolizist auch darüber, dass von den Beamten erwartet wird, geltendes Recht und grundlegende Menschenrechte zu brechen. 

Am Morgen des 10. August 2020 gegen 6 Uhr beobachtet das an Frontex entsandte deutsche Schiff “DEU CPB 62” ein Schlauchboot mit ca. 40 Menschen in griechischen Gewässern, unweit der Insel Samos. Es fährt hin, stoppt die Fahrt des Bootes und informiert die griechische Küstenwache. Diese erscheint einige Minuten später und übernimmt die Situation. Das deutsche Schiff verlässt die Szene. Im Bericht der griechischen Küstenwache heißt es im Anschluss, dass die Schutzsuchenden auf dem Schlauchboot ihren Kurs geändert hatten und wieder in türkische Gewässer zurückgefahren wären. Auf Nachfrage bestätigen die griechischen Beamt:innen, dass sie “Grenzschutzmaßnahmen zur Verhinderung einer Landung auf Samos” durchgeführt hätten. 

Frontex beobachtet Pushback, doch Leggeri stuft diesen nicht als Grundrechtsverletzung ein

Ein anderer wichtiger Fall ereignete sich in der Nacht vom 18. auf den 19. April 2020. Ein Aufklärungsflugzeug von Frontex überflog das östliche Mittelmeer und beobachtete dort, wie Schutzsuchende sich auf einem Schiff der griechischen Küstenwache befanden und ihr leeres Schlauchboot von dem griechischen Boot gezogen wird. Zwei Stunden später beobachtet das Frontex-Flugzeug, wie die Schutzsuchenden von dem Patrouillenboot der griechischen Küstenwache auf das Schlauchboot zurückgebracht werden, ein weiteres Schnellboot wartet in unmittelbarer Umgebung. Frontex hält zu diesem Zeitpunkt auch klar fest, dass sich keinerlei türkische Boote in der Umgebung befinden. 
Einige Minuten später, gegen 2.45 Uhr am 19. April 2020, macht das Frontex-Flugzeug ein Bild davon, wie das griechische Boot das angeleinte Schlauchboot mit den Schutzsuchenden an Bord in Richtung türkische Gewässer zieht. Eine halbe Stunde später beobachtet Frontex, dass das Schlauchboot keinen Motor hat und die griechischen Boote sich aus der Umgebung des Bootes entfernen. Am nächsten Nachmittag bestätigen die griechischen Behörden, dass das Schlauchboot von der türkischen Küstenwache entdeckt und auf das türkische Festland gebracht wurde. Die Frontex Beamten meldeten den Vorfall und Fabrice Leggeri wandte sich an die griechische Regierung, stufte den Fall jedoch letztendlich nicht als Grundrechtsverletzung ein.

Arbeitsgruppe im Europäischen Parlament wird eingerichtet

Der Innenausschuss des europäischen Parlaments hat Frontex hierzu mehrfach vorgeladen, doch wir Abgeordneten wurden einfach weiter angelogen. Der Ausschuss hat schriftliche Fragen nachgereicht, die Antworten waren eher bescheiden.

Die Untersuchungsgruppe des Europäischen Parlaments soll nun die vorhandenen Beweise und Verfahren prüfen und die Frage beantworten, ob Frontex sein Mandat missachtet, zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt und entgegen der Grundwerte und Gründungsprinzipien der EU handelt. Nach der ersten Untersuchung wird die Gruppe weiterhin bestehen, um die Aktivitäten von Frontex zu überwachen und zu prüfen.

Unsere Ziele in der Arbeitsgruppe

Ich bin froh, dass die Arbeitsgruppe auf Initiative der Grünen/EFA-Gruppe eingerichtet wurde. Mit meiner Fraktionskollegin Tineke Strik, die für den ersten Bericht verantwortlich ist, werde ich mich in der Untersuchungsgruppe dafür einsetzen, die Vorwürfe gegen Frontex zu untersuchen. Konkrete grüne Ziele sind die folgenden: 

  • das Verfassen eines evidenzbasierten Berichts zu den Vorwürfen gegen Frontex
  • Empfehlungen an Frontex, die von der Agentur umgesetzt werden sollen
  • Eine Berücksichtigung von Grundrechten in den Aufträgen der Agentur
  • Veränderung der Arbeitskultur bei Frontex
  • Transparente Berichterstattung von Frontex gegenüber der Öffentlichkeit und dem Europäischen Parlament, dem gegenüber es rechenschaftspflichtig ist. 
  • eine laufende, transparente Überprüfung der Arbeit von Frontex 

Was passiert mit Geld, das die EU Bosnien-Herzegowina für Geflüchtete bereitstellt?

Seit Anfang 2018 hat die EU Bosnien-Herzegowina insgesamt rund 89 Millionen € für Flucht und Migration zur Verfügung gestellt. Mit dem Geld soll laut EU-Kommission humanitäre Hilfe für Flüchtende bereitgestellt und die bosnischen Behörden im Migrationsmanagement unterstützt werden. 

Von diesen Geldern kamen über 75 Millionen € aus den sogenannten Instrument for Pre-accession Assistance (IPA). Dabei handelt es sich um Heranführungshilfen der EU, um Reformen in potentiellen Beitrittsländern der EU zu fördern. Mit den Geldern soll Staaten dabei geholfen werden, fit für die EU zu werden. Weitere 13,8 Millionen € kamen aus dem ECHO-Topf, welcher Gelder für humanitäre Nothilfe bereit stellt. 

Zu diesem Geld gehören auch 3,5 Millionen €, die von der EU-Kommission Anfang Januar zusätzlich zur Verfügung gestellt wurden, nachdem das Camp in Lipa abbrannte und Hunderte Menschen obdachlos dem Winter im bosnischen Gebirge ausgeliefert waren. Das Geld soll für warme Kleidung, Decken, Essen und Gesundheitsversorgung eingesetzt werden. Mit diesem Geld werden vor allem Hilfsorganisationen wie Save the Children oder das Danish Refugee Council unterstützt. Das Danish Refugee Council beispielsweise nutzte Teile der Mittel, um wichtige Berichte über die gewaltvollen und illegalen Pushbacks durch Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zu erstellen. 


Angesichts der furchtbaren Lage in Bosnien fragen sich nun manche, was mit dem Geld geschehen sei. Auch die Deutsche Welle berichtete über das Thema.

Hierhin fließt das Geld  

Das meiste Geld geht aber an IOM in Bosnien-Herzegowina. IOM erhielt seit Juni 2018 insgesamt 76,8 Millionen € von der EU, von denen bis Ende 2020 51,6 Millionen € abgerufen wurden. Somit waren Ende des Jahres noch 25,3 Millionen € übrig. Auf der Homepage der IOM ist die Vergabe der Mittel auch aufgelistet. Ich werde hier nochmal die wichtigsten Punkte aufzählen.

Auf dieser Grafik sieht man, dass ein Großteil der Mittel aus dem IPA.Topf kommt. Außerdem wurden Gelder für eine Antwort auf Covid-19 in Bosnien-Herzegowina auch für Geflüchtete bereitgestellt, damit diese dem Virus nicht schutzlos ausgeliefert sind. Angesichts der räumlichen Enge in den bestehenden Lagern und sehr nah beieinander stehenden Etagenbetten muss aber bezweifelt werden, dass diese Strategie des IOM ausreichend ist. 

Wie setzt IOM die Gelder ein

In dieser Grafik listet IOM auf, wie die Gelder in Bosnien-Herzegowina bislang verteilt wurden. 

14 % der Mittel wurden für die Schaffung beziehungsweise die Renovierung von insgesamt sieben Camps im Kanton Una-Sana und der Umgebung um Sarajevo ausgegeben. Dazu gehören die Installierung von 562 Containern in den Lagern Ušivak, Blažuj, Lipa, Bira, Sedra, Borici und Miral sowie der Umbau des ehemaligen Studierendenwohnheims in Borici. Außerdem wurden rund 5900 Etagenbetten, über 10.000 Matratzen, 1300 Heizungen, 45 Industriewaschmaschinen und weiteres Equipment für die Camps gekauft. Rund 2 % werden für die Verwaltung, Räume und Mitarbeiter des IOM in den Büros in Sarajevo und Bihać ausgegeben.

Intransparenz bei Mittelverwendung durch bosnische Behörden

Mit 3,4 Millionen € gingen rund sieben Prozent der Gelder direkt an die Institutionen Bosnien-Herzegowinas. Von dem Geld erhielt die Polizei neue Fahrzeuge, Drohnen, Wärmebildkameras und schwere Schutzausrüstung zur Aufstandsbekämpfung. Nachdem ich mit eigenen Augen gesehen habe, mit welcher Brutalität die Polizei des Kantons gegen Geflüchtete vorgeht, habe ich aber Zweifel daran, ob das wirklich der beste Einsatz für die Gelder ist. Außerdem werden aus den Mitteln 25 Mitarbeiter der bosnischen Ausländerbehörde finanziert. 

Eine genaue Aufstellung der Nutzung der Mittel durch die bosnischen Behörden ist derzeit leider nicht zu bekommen. Die bosnischen Behörden geben dazu keinen vollumfänglichen Bericht ab und ignorieren Anfragen von Journalist:innen. Das ist kein sehr transparenter Umgang, der hier mit den Mitteln der europäischen Steuerzahler:innen betrieben wird. 

Die Vergabe der Mittel wird von einem Ausschuss kontrolliert, dem Vertreter der EU-Delegation in Bosnien-Herzegowina, das bosnische Sicherheitsministerium, die Grenzpolizei, die Ausländerämter und mehrere Hilfsorganisationen angehören. Insbesondere die bosnischen Behörden müssen darlegen, wo die Gelder hinfließen, wenn sie Zweifel an einer korrekten Mittelvergabe ausräumen wollen.

Gelder für humanitäre Hilfe

77 % der bislang vom IOM ausgegeben Mittel gingen in den Bereich Humanitäre Hilfe. Bei den über 16 Millionen € sind Ausgaben für Heizung, Wasser, Müllabfuhr, Wartung enthalten, sowie die Kosten für die Mitarbeiter des IOM. Insgesamt beschäftigt IOM aktuell 423 Mitarbeiter:innen in den Lagern, von denen 421 bosnische Staatsangehörige sind. 

Knapp 10,9 Millionen € hat das IOM für die Verteilung von mehr als 8,2 Millionen Mahlzeiten ausgegeben. Dabei hat IOM mit der NGO Pomozi.ba im Kanton Sarajevo und dem roten Kreuz im Kanton Una-Sana zusammengearbeitet. 

Für die Anschaffung von Waren des täglichen Bedarfs hat das IOM für 1,6 Millionen Gegenstände insgesamt über 4,7 Millionen € ausgegeben. Dabei handelt es sich um Hygieneartikel wie Seife und Zahnbürsten, aber auch um Schlafsäcke, Winterkleidung oder Schutzmasken. 

Nochmal rund 4,7 Millionen € wurden für den Bereich Gesundheit und Bildung aufgewendet. In diesen Bereich fallen medizinische Versorgung und Transport, sowie besonderer Schutz für minderjährige Geflüchtete und ihre Schulbildung. 

Weitere knapp 3,7 Millionen € wurden für den Bereich Sicherheit ausgegeben. Das Geld ging auch an private Sicherheitsunternehmen, an denen es vonseiten der Bewohner:innen und NGOs viel Kritik gab, weil diese die Geflüchteten schlecht behandelten oder aber schlicht ihre Arbeit nicht machen. So wurde, trotz der Anwesenheit der Sicherheitsleute, im Mai ein Mann im Camp Ušivak getötet. Außerdem wurden Gelder verwendet für Feueralarme, Feuerlöscher und Erste-Hilfe Equipment. 

Die politischen Probleme lassen sich nicht mit mehr Geld lösen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei der Transparenz der Verwendung der Mittel noch Luft nach oben ist. Allerdings handelt es sich bei der Unterbringung für Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina nicht in erster Linie um ein finanzielles Problem, sondern um ein politisches. Die Entitäten und Kantone in Bosnien-Herzegowina wollen keine Geflüchteten aufnehmen, schieben die Verantwortung hin und her und benutzen die Geflüchteten für ein politisches Blame Game, um den jeweils anderen ethnischen Gruppen oder Parteien in Bosnien-Herzegowina die Schuld in die Schuhe zu schieben. Eine Übersicht über die politischen Herausforderungen habe ich in einem Text auf meiner Homepage und auch in meinem Podcast beschrieben. 

Bei aller berechtigten Kritik an Bosnien-Herzegowina dürfen wir aber nicht vergessen, warum dort überhaupt tausende Menschen festsitzen. Die meisten von ihnen waren zuvor bereits in EU-Staaten wie Griechenland, wo sie auch unmenschlich behandelt wurden. Und sie wollen weiter, doch werden sie von den kroatischen Behörden brutal und rechtswidrig zurück geprügelt. Die aktuell furchtbare Lage für Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina ist also auch Schuld der EU-Staaten und vor allem die Kommission muss dafür sorgen, dass sich diese endlich an geltendes Recht halten. 

Auf kurze Sicht müssen in Bosnien-Herzegowina bessere Bedingungen für Flüchtende geschaffen werden und es kann darüber geredet werden, ob sich an der einen oder anderen Stelle auch mit mehr Geld helfen lässt. Aber das grundsätzliche politische Problem wird sich nicht unter höheren Geldsummen verstecken lassen. Wir als Bürger:innen der Europäischen Union dürfen nicht akzeptieren, dass Bosnien-Herzegowina als Abladeplatz für Geflüchtete missbraucht wird und diese immer wieder dorthin zurück geprügelt werden. 

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