So ist die aktuelle Lage auf den griechischen Inseln
Stand: Jahreswechsel 2021/22
Momentan befinden sich auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros offiziell 3.544 Asylsuchende. Hier bekommt ihr einen Überblick über die aktuelle Lage auf den Inseln. Alle Zahlen kommen aus der offiziellen Statistik des griechischen Ministeriums für Migration, die ihr hier einsehen könnt. Unter „National Situation: Migrant and Refugee Issue“ findet ihr die tagesaktuellen Zahlen.
Sinkende Zahlen auf den Inseln
Viele Menschen wurden in den vergangenen sechs Monaten auf das Festland gebracht. Die meisten davon sind anerkannte Flüchtlinge, die dann jedoch oft in prekären Lebensverhältnissen oder in der Obdachlosigkeit landen. Der WDR hat die Situation schon im Mai aus der Perspektive der betroffenen Kinder festgehalten.
Ein weiterer Grund für die stetig sinkenden Zahlen ist die Beschleunigung der Asylverfahren auf den Inseln, die mit einer hohen Rechtsunsicherheit hergeht. Zunächst hat die griechische Regierung die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt. Nicht weil die Türkei ein sicherer Drittstaat ist, sondern weil die meisten Schutzsuchenden über die Türkei einreisen. Somit geschieht keine inhaltliche Prüfung mehr von Anträgen von Menschen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia.
Gleichzeitig berichten NGOs von eklatanten Mängeln bei den Asylinterviews: ungeschultes Personal, schlechte Übersetzung, kaum Nachfragen. Am Ende kommen so sehr viele negative Bescheide in kurzer Zeit zusammen. Während in den letzten Jahren die Situation auf Lesbos immer mit einem riesigen Rückstau erklärt wurde, und Menschen zum Teil zwei Jahre auf ihr erstes Gespräch mit den Behörden warten mussten, ist es heute üblich, dass die zweite (finale) Entscheidung nach 6-8 Wochen getroffen wird. Wenn möglich, kommen die Menschen dann in sogenannte “Pre-Removal Detention Centers”, auf deutsch Abschiebeknäste, in denen die Zustände desaströs sind. Die meisten wissen nicht einmal, wann sie abgeschoben werden, da durch die Pandemie Abschiebeflüge meist ausgesetzt sind.
Pushbacks zwischen Griechenland und Türkei
Ein weiterer Grund für die sinkenden Zahlen sind die sinkenden Ankünfte auf den griechischen Inseln. Das liegt an den Pushbacks, die auf See und an Land von der griechischen Polizei durchgeführt werden.
Das türkische Innenministerium, dessen Kommando auch die Seenotrettung in der Ägäis untersteht, hat mittlerweile eine eigene Website eingerichtet (Pushback Incidents), auf denen die Fälle detailliert und zum Teil mit Videos und Fotos verzeichnet sind. Noch nie wurden in der Ägäis eine solche Zahl an manövrierunfähigen Booten oder Rettungsinseln verzeichnet. Es ist dabei klar, dass die Menschen weder in Booten ohne Motor, noch in Rettungsinseln auf der türkischen Seite losfahren. Die NGO Aegan Boat Report, hat hier in dem Archiv detailliert die Pushbacks zusammengerechnet und archiviert. Hinter jeder Zahl steht eine Person, die ihrem Recht, einen Asylantrag zu stellen, beraubt wurde – und in eine lebensgefährliche Situation auf See gebracht wurde.
MPCRIS offen
Eine zentrale Entwicklung der Europäischen Migrationspolitik in Griechenland ist die Eröffnung der “Multi-Purpose-Reception and Identification Centers” (MPRICS), die auf den Ägäischen Inseln mit EU-Mitteln gebaut wurden. Die Idee dahinter ist, dass Schutzsuchende abgeschottet von Städten und ungesehen von der Öffentlichkeit hinter Mauern und Stacheldraht untergebracht werden. Um hineinzugelangen, muss man eine Chipkarte und auch Fingerabdrücke abgeben, nachts sind die Menschen dort eingeschlossen. Die Presse kommt nur in Ausnahmefällen rein. Auf Samos und Kos wurden diese Lager nun eröffnet, auf den anderen Inseln sind die Planungen zum Teil ins Stocken geraten und sollen im nächsten Jahr fertiggestellt werden. Einen weiteren Punkt habe ich in einem Brief mit meiner Fraktionskollegin Alexandra Geese im November thematisiert: Die Lager sind vollkommen mit Videoüberwachung ausgestattet. Teilweise können Mitarbeiter:innen des Ministeriums aus Athen in die privaten Räume der Schutzsuchenden mit Kamera einsehen. Bezahlt wurde dies auch mit Geld aus den EU-Corona-Wiederaufbaufonds, obwohl die Gelder dafür überhaupt nicht vorgesehen sind.
Das neue Lager auf Lesbos ist noch nicht fertig gestellt, was bedeutet, dass die Menschen im provisorischen Camp Mavrovouni, entgegen aller Versprechungen, noch einen Winter verbringen müssen. Zwar sind mittlerweile einige Container aufgestellt worden und es leben nicht mehr alle Menschen in Zelten. Etliche tun es aber immer noch. Die Situation auf Lesbos wird in dem monatlichen “Lesvos Bulletin” von Oxfam und dem griechischen Flüchtlingsrat zusammengefasst, in dem auch erklärt wird, warum Haft für Schutzsuchende mittlerweile in Griechenland eine ganz gewöhnliche Praxis ist.
Kriminalisierung
Die Kriminalisierung von Hilfe und Einschränkung der Pressefreiheit auf den Inseln ist erschreckend. Es gab und gibt mehrere Verfahren gegen Helfende und NGOs, gegen die absurde Vorwürfe erhoben werden. Im November wurde auf Lesbos ein Verfahren gegen 24 Aktivist:innen eröffnet, denen vorgeworfen wird, Schutzsuchende illegal ins Land gebracht zu haben. Dabei haben sie einfach Menschen aus Seenot gerettet. Als zentrales Beweisstück sollen die Weitergabe von Informationen über aktive Seenotrettungsfälle via Messengerdiensten wie WhatsApp dienen. Koordiniert wurde hier Hilfe in einer vom UNHCR dafür eingerichteten Gruppe, in der die beschuldigten Personen Mitglied waren. Der Guardian hat die Geschichte hier aufgeschrieben.
Auch die Presse wird in Griechenland massiv eingeschränkt. Auf den griechischen Inseln kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Vor ein paar Wochen wurde der Fotojournalist Tim Lüddemann beim Fotografieren eines Lagers von außerhalb festgenommen und über mehrere Stunden hinweg verhört. Danach machte Stavros Maliuchidis öffentlich, dass sein Telefon nachweislich von den Geheimdiensten abgehört wurde. Stavros ist Mitglied im Journalistenkollektiv “We Are Solomon”, dass in Griechenland vor allem zu Migration und Asyl recherchiert.