Wie die EU Abschiebungen in das gefährlichste Land der Welt erleichtert
2016 unterzeichneten die EU und Afghanistan im Zuge der Brüsseler Geberkonferenz das Joint Way Forward Agreement. Ziel ist es, Abschiebungen nach Afghanistan zu erleichtern.
Es handelt sich um ein informelles, nicht-verbindliches Rechtsinstrument, bei dessen Übereinkunft das europäische Parlament nicht mit eingebunden wurde. Weil das Abkommen am 6. Oktober diesen Jahres auslief, möchte die EU bis Ende 2020 eine zweijährige Verlängerung verhandeln.
Seit über 40 Jahren wird Afghanistan von Kriegen erschüttert, sodass im Laufe der Jahrzehnte Millionen von Afghaninnen und Afghanen ihr Land verlassen mussten. Im Gegensatz zum allgegenwärtigen Narrativ hat die überwiegende Mehrzahl der afghanischen Flüchtlinge jedoch in den umliegenden Ländern wie Pakistan, Iran und in der Türkei Schutz gesucht. Somit stellt Afghanistan die weltweit zweitgrößte Flüchtlingsbevölkerung nach dem von Bürgerkriegen gebeutelten Syrien.
Die Menschen haben gute Gründe aus Afghanistan zu fliehen. Zum zweiten Mal in Folge wurde Afghanistan als das “gefährlichste Land der Welt” eingestuft.” Die Gründe dafür sind unter anderem die anhaltenden gewalttätigen Konflikte zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung sowie regelmäßige Terrorattacken auf die Zivilbevölkerung. So starben im Jahre 2019 über 3.000 Zivilist*innen und knapp 7.000 wurden schwer verletzt.
Deswegen lag die Anerkennungsquote von afghanischen Geflüchteten in der EU zuletzt im August diesen Jahres bei 58%. Die Anerkennungsquoten in den einzelnen Mitgliedstaaten variieren jedoch drastisch. So beträgt die Anerkennungsrate afghanischer Flüchtlinge in Italien 94% und in Bulgarien 4%. In vielen Medien und auch in der EU-Kommission wird immer wieder von “illegalen Migranten und Wirtschaftsmigranten” gesprochen wird, obwohl es sich bei einem Großteil um Flüchtlinge handelt, die vor Terror fliehen und einen sehr realistischen Schutzanspruch nach EU-Gesetzgebung haben. Auch die deutsche Regierung vertritt weiterhin den Standpunkt, dass Afghanistan ein Land sei, in das man abschieben könne und verschließt damit absichtlich die Augen vor der Lage vor Ort. Viele Menschenrechtsorganisationen und Anwält*innen stufen Abschiebungen nach Afghanistan als Verstoß gegen das gesetzlich verankerte Non-Refoulement-Verbot (Nichtzurückweisungsverbot) ein: also Menschen dürfen nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
Abschiebung in ein unbekanntes Land
Außerdem verkennt das Joint Way Forward Agreement die afghanische Fluchtrealität. Wie bereits ausgeführt, leben viele Afghan*innen in den umliegenden Ländern und das teilweise seit Jahrzehnten, sodass es immer wieder zu Abschiebungen von Flüchtlingen kommt, die Afghanistan noch nie betreten haben und sich in einem komplett fremden Land zurechtfinden müssen. Hinzu kommt, dass sich trotz offizieller Vorgaben und internationaler und EU-Gesetzgebung immer mehr Berichte von Abschiebungen von jungen Frauen und Kindern häufen, die in den Straßen von Kabul ausgesetzt werden und somit einem Schicksal der Verelendung und erneuter Flucht preisgegeben werden. Außerdem wird immer wieder der Verdacht geäußert, dass finanzielle Entwicklungshilfe an die afghanische Regierung an Abschiebungen gekoppelt wird. Wir brauchen nicht mehr Abschiebungen nach Afghanistan, sondern ein besseres europäisches Asylsystem, dass Schutzsuchenden ihre Rechte gewährt, indem beispielsweise EU-weite, gleiche Anerkennungsquoten eingeführt werden – und zwar beruhend auf der tatsächlichen Lage vor Ort. Zweitens muss sich auch bei informellen Abkommen an geltendes Recht gehalten werden, so beispielsweise das Non-Refoulement-Verbot und die Nichtzurückweisung von besonders Schutzbedürftigen – auch unter Anerkennung der Komplexität der afghanischen Migration. Zudem dürfen finanzielle Entwicklungshilfen auf gar keinen Fall an Abschiebungen gebunden werden. Zu guter Letzt muss das Nachfolgeprogramm im demokratischen Einvernehmen mit dem Europäischen Parlament rechtsverbindlich beschlossen und durch regelmäßige Evaluierungen beobachtet werden.
Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Taliban
Seit Jahrzehnten sehnt die afghanische Bevölkerung ein Ende der Gewalt und Konflikte herbei und noch nie haben sich die afghanische Regierung und die Taliban an einen Tisch gesetzt, um über einen möglichen Frieden zu verhandeln. Beide Seiten scheinen erkannt zu haben, dass es keine militärische Lösung geben kann.
So kam es am 29. Februar 2020 zum Doha-Vertrag, in dem sich auf die Einleitung der intra-afghanischen Friedensverhandlungen geeinigt wurde. Dabei wurde ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass die Verhandlungen ohne äußere Einflüsse von Staaten wie Russland oder den USA stattfinden. Trotz der anstehenden Verhandlungen wurde Afghanistan in den letzten Monaten weiterhin von überdurchschnittlich viel Gewalt erschüttert und viele Menschen starben, obwohl sich die Bevölkerung einen Waffenstillstand erhofft hatte. Insbesondere die letzten fünf Wochen vor Beginn der Verhandlungen wurden von Expert*innen als die gefährlichsten Wochen in den ganzen letzten fünf Jahren eingestuft, was die Quantität und Brutalität der Gewalt angeht. Mit dem Doha-Vertrag geht auch die schrittweise Reduzierung und letztendlich Abschaffung der US-amerikanischen Truppenpräsenz einher, denn dies ist eine Grundvoraussetzung der Taliban für die Teilnahme an den Friedensgesprächen. Momentan halten sich noch etwa 4.500 von den ursprünglichen 13.000 Soldat*innen im Land auf. Dennoch wirft die Wahl von Joe Biden zum US-Präsidenten nun viele ungeklärte Fragen auf, da der Doha-Vertrag unter der Trump-Administration verhandelt wurde und Biden sich während der Kampagne geäußert hatte, eine geringe Truppenpräsenz in Afghanistan aufrechterhalten zu wollen.
Nun begannen die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 12. September 2020 in Doha. Der Beginn der inhaltlichen Verhandlungen zögert sich seitdem hinaus, da diese bisher von strukturellen und verfahrenstechnischen Konflikten und Streitigkeiten um die Agenda geprägt sind. Gerade für Frauen steht besonders viel auf dem Spiel: Von 1996 bis 2001 lebten die Frauen während des Taliban-Regimes unter Verschluss und durften ihre Häuser nur unter Begleitung einer männlichen Aufsichtsperson verlassen. Seit 2001 mit Einmarsch der US-Truppen änderte sich die Situation und Frauen nahmen zunehmend wieder am gesellschaftlichen Leben teil. Heute lebt die afghanische Zivilgesellschaft von engagierten, gebildeten Frauen und die große Sorge ist, dass eine Beteiligung der Taliban an der Regierung die ganze Arbeit der letzten 20 Jahre in diesem Bereich zunichtemachen würde. Am Verhandlungstisch sitzen von der afghanischen Regierung aus insgesamt bloß vier Frauen, bei den Taliban sind es geschlossen nur Männer.
Es ist unmöglich, die nächsten Schritte der Friedensverhandlungen vorherzusehen, aber die Zivilbevölkerung sehnt sich nach einem Waffenstillstand, jedoch unter Bedingung, dass Grundrechte im Friedensprozess nicht kompromittiert werden und dass Verbrecher*innen aus den Reihen der Taliban und der afghanischen Regierungen endlich belangt werden. Denn trotz der Friedensgespräche kommt es weiterhin zu Attacken auf Zivilist*innen, so zum Beispiel das Blutbad an der Kabuler Universität am 2. November.
Terroranschlag in der Kabuler Universität – Angriff auf die Zukunft Afghanistans
Am selben Tag wie der Anschlag in Wien kam es zu einem Terror-Angriff auf die Kabuler Universität. Drei Bewaffnete stürmten die Universität und schossen auf die Student*innen. Die Sicherheitskräfte und ankommendes Militär brauchten sechs Stunden, um den Campus zu sichern. Dabei kamen 22 Student*innen ums Leben und 27 weitere wurden schwer verletzt. Auch wenn die Verantwortlichen noch nicht eindeutig geklärt sind, treibt dies einen Keil in die bereits schwer anlaufenden Friedensverhandlungen. Es regen sich erste Forderungen, die Verhandlungen in Doha zu boykottieren, so beispielsweise unter dem Hashtag #BoycottDohaTalks oder in Form von Protesten gegen die Regierung, die unfähig war, die jungen Menschen zu beschützen. Eine der Forderungen ist es, keinen Deal mit den Taliban einzugehen. Es bleibt zu abzuwarten, wie sich die Kette der Gewalt fortsetzt und wie diese die Friedensverhandlungen beeinflusst.
Geflüchtete Afghan*innen in Europa
Die Lage von geflüchteten Afghan*innen in Europa ist fatal. Die Hälfte aller Flüchtlinge auf den griechischen Inseln stammt aus Afghanistan. Es ist weithin bekannt, dass die Zustände in den völlig überfüllten Lagern sowie im neuen Moria absolut menschenunwürdig und unhaltbar sind. Viele halten sich bereits seit vielen Monaten oder gar Jahren dort auf, einige Kinder wurden sogar dort geboren. Entweder warten sie darauf, einen Asylantrag zu stellen oder auf die Bearbeitung dessen. Der Antrag auf Familienzusammenführung beispielsweise gestaltet sich für viele afghanischen Familien als ein langer, steiniger Weg, weil das Bundesamt für Migration und Asyl in Deutschland solche Anträge häufig zu Unrecht abweist und den Betroffenen zumeist der Zugang zu Rechtsbeistand fehlt, um Widerspruch einzulegen.
Wenn ihrem Antrag auf Asyl stattgegeben wird, verlegen die griechischen Behörden einige der Schutzsuchenden auf das griechische Festland, ohne sie jedoch unterzubringen. Stattdessen leben viele afghanische Flüchtlinge und Familien in Obdachlosigkeit auf den Straßen Athens und werden nur notdürftig von Nichtregierungsorganisationen vor Ort unterstützt. Aber gerade diese Hilfe gestaltet sich momentan besonders schwierig, da Athen sich wieder im Lockdown befindet und die Helfer*innen nur noch heimlich Mahlzeiten und andere Güter verteilen können.
Außerdem einigten sich im Oktober diesen Jahres Griechenland und Afghanistan auf ein Memorandum, das zukünftig die Abschiebung von “illegalen Migrant*innen” nach Afghanistan erleichtern soll – eine erschütternde Entwicklung in Anbetracht der gefährlichen Lage in Afghanistan. Auch die Lage auf der Balkanroute ist menschenrechtlich eine Katastrophe. Die afghanischen Flüchtlinge dort sind Teil eines grausamen Katz-Und-Maus-Spiels. Sie versuchen über Serbien und Bosnien-Herzegowina in die EU zu gelangen, nur um brutal von der kroatischen Grenzpolizei oder auch in sogenannten Kettenabschiebungen von Italien, Österreich oder Slowenien wieder nach Bosnien-Herzegowina abgeschoben zu werden. Schon seit Jahren häufen sich die Berichte von Folter und Gewalt durch kroatische Grenzpolizisten, die immer wieder von der kroatischen Regierung als fälschlich zurückgewiesen werden. In Bosnien-Herzegowina leben viele Flüchtlinge in leerstehenden Häusern oder in den kalten, nassen Wäldern, in denen sie unter Planen schlafen – so auch Familien mit Kindern. Ebenso wie in Griechenland wird den humanitären Helfern die Unterstützung von Flüchtlingen weitestgehend untersagt. Vor allem mit dem bevorstehenden Winter bahnt sich erneut eine humanitäre Katastrophe an.