Flucht nach Europa: “Auf dieser Route kümmert es niemanden, ob du lebst oder stirbst”

Wer sich auf den Weg nach Europa macht, um dort Schutz oder Zukunftsperspektiven zu finden, geht dabei in der Regel durch die Hölle – oder stirbt. Das zeigt ein neuer Bericht des UNHCR, Mixed Migration Centre und der Internationalen Organisation für Migration (IOM)

Dafür wurden von 2020 bis 2023 mehr als 31.000 Menschen in Italien und mehreren afrikanischen Ländern dazu befragt, was sie auf der Flucht nach Europa erleben mussten. An der Tagesordnung: Folter, körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt und Ausbeutung, Versklavung, willkürliche Inhaftierung, Tod, Entführung zur Erpressung von Lösegeld, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Organentnahme, Raub, kollektive Ausweisung und Abschiebungen. 

Extreme Gewalt: Es ist schlimmer als je zuvor

Die Daten zeigen, dass sich die Lage im Vergleich zum ersten Bericht von 2020 noch deutlich verschlimmert hat. Schutzsuchende sind auf dem Mittelmeer und der Flucht dorthin weiterhin extremer Gewalt ausgesetzt. Neue Konflikte in der Sahelzone haben die Zahl der Vertriebenen in der Region verdoppelt, insbesondere der Krieg im Sudan. Extreme Armut und die durch den Klimawandel verursachten Naturkatastrophen im Osten und am Horn von Afrika tun ihr Weiteres. In den Transitländern fallen außerdem immer mehr Flüchtende einem starken Anstieg von Rassismus zum Opfer, oft ausgelöst von politischen Entscheidungsträger:innen wie dem tunesischen Autokraten Saied, der gerne gegen Geflüchtete hetzt.

Wenig Schutz entlang der Fluchtrouten, dafür anhaltende Straflosigkeit

Ein riesiges Problem sind mangelnde Sicherheitsnetze entlang der Routen nach und durch Nordafrika. Schutzsuchende sind dort in der Regel völlig auf sich gestellt. Sie müssen Gebiete durchqueren, in denen bewaffnete Gruppierungen und kriminelle Banden sie ausbeuten, missbrauchen, verschleppen. Wird eine Fluchtroute unpassierbar, zum Beispiel, weil sie durch Konfliktzonen führt oder Grenzbeamte dort stärker kontrollieren, verlagern sich die Wege in noch entlegenere Gebiete. Dort sind die Menschen dann wiederum noch größeren Risiken ausgesetzt. Gleichzeitig herrscht faktisch vollständige Straflosigkeit für Schmuggler und andere bewaffnete Gruppen. Im schlimmsten Fall werden sie noch von Regierungen unterstützt, wie zum Beispiel in Libyen.

Wir dürfen uns an diese Geschichten niemals gewöhnen

Organisationen und Staaten entlang der Routen scheinen sich laut des Berichts fast schon an den Missbrauch gewöhnt zu haben, der dort alltäglich stattfindet. Von einem “gefährlichen Gefühl der Resignation” und einem unaufhaltsamen Verlust von Hoffnung ist die Rede. Dabei gibt es sehr wohl Lösungen und Schutzmaßnahmen; mal ganz abgesehen davon, dass sich Staaten im Rahmen des Völkerrechts und anderer Instrumente dazu verpflichtet haben, Leben zu retten und Menschenrechte zu achten. 

Es braucht Friedensanstrengungen, Armutsbekämpfung, konkrete Maßnahmen zum Schutz vor den Folgen des Klimawandels. Und für diejenigen, die ihr Zuhause verlassen müssen, braucht es sichere Fluchtrouten, humanitäre Visa und Solidarität. In anderen Worten: Wir müssen dringend handeln. 

Aber die “Angst” vor irregulärer Migration und der Unwillen von Regierungen verhindert, dass klar benannt wird, welcher Horror auf den Migrationsrouten geschieht. Mit welchen Akteur:innen man zusammenarbeitet, um Menschen daran zu hindern, nach Europa zu kommen. Und wie lieber weiter Menschen sterben sollen, bevor man hierzulande seiner Verantwortung nachkommt. Spätestens nach diesem Bericht kann niemand mehr sagen, man hätte es nicht gewusst.

EU-Partner setzen Flüchtende in der Wüste aus

Eine Ende Mai erschienene Investigativrecherche, veröffentlicht von u.a. Lighthouse Reports, Spiegel und der Tagesschau zeigt auf, wie  in Marokko, Mauretanien und Tunesien systematisch Menschen von Sicherheitskräften anhand ihrer Hautfarbe aufgegriffen, in Busse verladen und in unbesiedelten, oft Wüsten- Gebieten ausgesetzt werden. Ohne weitere Unterstützung sind diese Menschen – auch Frauen und Kinder – dann auf sich allein gestellt und damit der Gefahr ausgesetzt,  entweder von Menschenhändlern oder Verbrecherbanden aufgegriffen oder im schlimmsten Fall dem Hungertod ausgeliefert zu sein. 

In den letzten Monaten wurden diese Vorfälle nicht nur unzählige Male dokumentiert, der Bericht liefert auch Beweise, dass für diese Vorgänge zum Teil Material wie Jeeps verwendet werden, die von der EU oder ihren Mitgliedstaaten finanziert werden. Deswegen habe ich einen Brief an Kommissionspräsidentin Von der Leyen und  Kommissare Varhelyi und Schinas geschickt, in dem ich meine Besorgnis über diese Erkenntnisse ausdrücke und wissen möchte, ob der Europäischen Kommission die Praxis des „Wüstendumpings“ in nordafrikanischen Ländern bekannt ist und welche Konsequenzen  sich daraus ergeben für die Finanzierung und die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht.

Ich habe außerdem einen parteiübergreifenden Brief unterstützt, in dem wir ebenfalls eine Erklärung und eine vollständige Überprüfung der Verwendung und des Einsatzes von EU-Mitteln verlangen. Wir fordern außerdem, diese Mittel im Falle eines Verstoßes gegen die Werte der EU sowie gegen europäische und internationale rechtliche Verpflichtungen unverzüglich einzubehalten.

Anhaltendes Leid an der EU-Außengrenze Polens

Seit fast drei Jahren befinden sich Schutzsuchende im Wald an der polnisch-belarussischen Grenze in einem Limbo von Pushbacks und Gewalt. Mit dem Machtwechsel in Polen hatten viele gehofft, dass der neue Ministerpräsident Donald Tusk die menschenunwürdige Behandlung von Asylsuchenden im Grenzwald zu Belarus beenden wird. Stattdessen fordert er nun eine Stärkung des Grenzzauns, der zum Teil mit EU-Geldern finanziert werden soll, und schürt die Angst vor Belarus und den Schutzsuchenden, die zwischen den beiden Ländern festsitzen. Tusk will nun über zwei Milliarden € in die Sicherung der östlichen Landesgrenze stecken und sagt offen, dass es sich um ein „Element der Abschreckung“ handele.  

2021: Eine neue Fluchtroute nach Europa

Die neue Route entstand auch, weil der belarussische Machthaber Lukaschenko als Reaktion auf EU-Sanktionen im August 2021 damit angefangen hat, Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderen Ländern nach Belarus einreisen zu lassen, damit sie an die EU-Außengrenze kommen. Lukaschenko hat die leidenden Menschen missbraucht, um Druck auf die EU auszuüben. Polen wirft Belarus eine “Instrumentalisierung” der Schutzsuchenden vor und erklärt die Geflüchteten zur Waffe eines “hybriden Krieges”. Damit rechtfertigt die Regierung in Warschau die anhaltende Militarisierung der Grenze und die menschenrechtswidrigen Pushbacks, die dort stattfinden. In diesem Zusammenhang wurde auch eine militärische Sperrzone errichtet, in der die Schutzsuchenden festsitzen und in der jede Hilfe von außen, egal ob von NGOs oder lokalen Anwohner:innen, verhindert oder kriminalisiert wird.

Nach wie vor viele Ankünfte

Auch wenn es weniger sind als 2021, fliehen bis heute Schutzsuchende über Belarus nach Polen. Lokale Aktivist:innen von Grupa Granica helfen vor Ort und dokumentieren Menschenrechtsverletzungen. Bei einem Treffen diese Woche haben sie berichtet, dass jetzt vor allem im Frühjahr und Sommer die meisten Menschen versuchen, die Grenze im Białowieża-Wald zu überqueren. Der ist auch durch seine vielen Sümpfe und Moore gefährlich; im Winter wird es außerdem so kalt, dass viele Menschen erfrorene Gliedmaßen aufweisen oder gänzlich erfrieren. 

Seit Beginn der Krise sind mindestens 60 Menschen gestorben. Die Zivilgesellschaft geht allerdings von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. Allein im Zeitraum von Dezember 2023 bis April 2024 hat allein die Grupa Granica mehr als 1.700 illegale Pushbacks, fünf Tote und 25 vermisste Menschen dokumentiert. Es wurde auch ein Kind von einer Mutter geboren, die versucht hat, aus Eritrea in die EU zu flüchten.

Pushbacks sind die Realität

Viele dieser Menschen äußern an der Grenze den Wunsch nach Asyl, wonach ihnen nach europäischem und internationalem Recht ein rechtsstaatliches Asylverfahren zusteht, in dem ihr Schutzanspruch geprüft wird. In der Realität berichten die meisten stattdessen davon, dass sie gewaltsam zurückgewiesen werden, manche Betroffene bereits mehrfach. Dabei werden von Behörden auf beiden Seiten oft mutwillig Handys zerstört und Tränengas, Schlagstöcke und sogar Gewehre eingesetzt – auch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Im Herbst 2023 hat ein heute 23-jähriger syrischer Schutzsuchender mit seinen Freunden versucht, von Belarus nach Polen zu fliehen. Ihm wurde dabei von einem polnischen Grenzschutzbeamten in den Rücken geschossen, “versehentlich”.

Neue Regierung, alte Taktiken?

Mit dem Regierungswechsel in Polen haben einige auch auf eine menschlichere Migrationspolitik an der Grenze zu Belarus gehofft, vor allem weil Donald Tusk ja eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit in Polen eingeleitet hat. Leider gilt diese Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit offensichtlich nicht für Schutzsuchende. Stattdessen hat Tusk diese Woche die Grenzregion zwischen Polen und Belarus besucht und eine Verstärkung des 2022 gebauten Grenzzauns versprochen. Der ist bereits jetzt 180 Kilometer lang und 5,5 Meter hoch, mit Stacheldraht verstärkt und elektronisch überwacht. Vor der anstehenden Europawahl bleibt Polen trotz neuer Regierung also bei einer restriktiven Migrationspolitik, ausgetragen auf dem Rücken von schutzsuchenden Menschen im Wald zu Belarus.

Ein Blick in die Zukunft

Hinzu kommt die endgültige Verabschiedung der sogenannten GEAS-Reform (mehr dazu hier auf meiner Website), in der zum Beispiel die Krisenverordnung Asylrechtsverschärfungen im Falle einer “Instrumentalisierung” ermöglicht. Beispielsweise können Grenzverfahren ausgeweitet oder Registrierungsfristen verlängert werden. Asylsuchende können in solchen Fällen unabhängig von der Schutzbedürftigkeit über viele Monate an den Außengrenzen inhaftiert werden. Viele Regeln des neuen GEAS bieten den Behörden der Mitgliedstaaten mehr Spielraum, undokumentiert gegen das EU-Recht zu verstoßen. So können längere Registrierungsfristen etwa dazu beitragen, dass Personen noch Wochen nach der Ankunft gepushbacked werden, ohne dass ihre Einreise jemals dokumentiert werden musste. Auch wenn sich erst zeigen muss, wie diese Verordnung in der Praxis umgesetzt wird, laufen wir damit Gefahr, das Asylrecht weiter zu schwächen und anderen Mitgliedstaaten eine noch bessere Grundlage für Menschenrechtsverletzungen an unseren Außengrenzen zu liefern.

Studie zeigt: Deutsche Binnengrenzkontrollen teilweise EU-rechtswidrig

Ich habe für die grüne Europafraktion eine kritische Analyse der deutschen Binnengrenzkontrollen in Auftrag gegeben, um zu sehen, ob diese mit EU-Recht vereinbar sind. Die ganze Studie könnt ihr hier auf Deutsch und Englisch lesen.

Die aktuelle Lage im Schengenraum

Die Abwesenheit von Kontrollen an den Binnengrenzen ist ein wesentlicher Grundsatz des Europäischen Rechts und das Grundprinzip des freien Schengenraums. Obwohl Binnengrenzkontrollen im Schengenraum also grundsätzlich eine strenge Ausnahme sein sollten, gibt es seit 2015 in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten eine massive Zunahme dieser Kontrollen. Gründe dafür sind laut der deutschen Bundesregierung vor allem mehr irreguläre Migration, Terrorismusgefahr und die Corona-Pandemie. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern die Wiedereinführung dieser Binnengrenzkontrollen mit den unionsrechtlichen Verpflichtungen vereinbar ist.

Wann Binnengrenzkontrollen erlaubt sind

Der Schengener Grenzkodex erlaubt Kontrollen an den Binnengrenzen nur in Ausnahmesituationen, zum Beispiel wenn Gefahr für die Sicherheit und Ordnung eines Mitgliedstaates droht. Dabei dürfen Binnengrenzkontrollen jedoch nur als letztes Mittel angewendet und nur vorübergehend wieder eingeführt werden, wie auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) bestätigt hat.

Die Praxis in Deutschland

Deutschland scheint sich an diese Regelungen nicht immer zu halten. Die unterschiedlichen Bundesregierungen haben die Binnengrenzkontrollen, vor allem an der Grenze zu Österreich, seit 2015 immer wieder verlängert. Das ist ein eindeutiger Verstoß gegen EU-Recht. Das von mir in Auftrag gegebene Gutachten kommt nämlich zu dem Schluss, dass es keine Rechtsgrundlage für die Kontrollen an der Grenze zu Österreich gibt, die seit November 2017 “aus migrations- und sicherheitspolitischen Gründen” stattfinden. Damit sind diese Kontrollen seit diesem Zeitpunkt rechtswidrig. 

Problematisch ist dabei vor allem, dass sich die deutsche Bundesregierung auf zunehmend vage Risikosituationen beruft, anstatt auf tatsächliche Gefahrenlagen, wie vom Schengener Grenzkodex verlangt. Zudem sind die Grenzkontrollen oftmals unverhältnismäßig.

Binnengrenzkontrollen sind politisch motiviert

Insgesamt scheinen Grenzkontrollen zunehmend eine gesellschaftspolitische Symbolwirkung zu haben. Gleichzeitig tut sich die Europäische Kommission schwer, diese strukturelle Aushöhlung des Schengener Grenzkodex aufzuhalten und wird ihrem Mandat und ihrer Rolle als “Hüterin der Verträge” nur unzureichend gerecht. 

Ähnlich problematisch ist der Umgang der deutschen Verwaltungsgerichte mit Klagen gegen diese Binnengrenzkontrollen. Hier werden die Zulässigkeitsvoraussetzungen so eng ausgelegt, dass Klagen gegen Binnengrenzkontrollen als unzulässig abgewiesen werden. Betroffene haben aktuell also keinen effektiven Rechtsschutz gegen rechtswidrige Binnengrenzkontrollen. Das betrifft in erster Linie EU-Bürger:innen.

Die Reform als Antwort – Wirksamkeit abzuwarten

Nach jahrelanger systematischer Fehlanwendung des Schengener Grenzkodexes wurde die Reform bestimmter Teile des Gesetzes vor kurzem abgeschlossen. Mehr dazu könnt ihr hier in meinem Briefing nachlesen. Die aktuelle Reform des Schengener Grenzkodex ist deshalb eine Reaktion auf diese Herausforderungen. Sie erweitert einerseits den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten, zum Beispiel bei verstärkten Migrationskontrollen an Binnengrenzen. Andererseits werden die Anforderungen an die mitgliedstaatlichen Binnengrenzkontrollen verschärft. Ob dies in der Praxis zu einem Rückgang der Binnengrenzkontrollen führen wird, hängt vor allem von der Bereitschaft der Kommission ab, die neuen Regeln des Schengener Grenzkodex auch durchzusetzen.

Briefing: Reform des Schengener Grenzkodex

Worum geht es?

Der Schengener Grenzkodex regelt die Einreisebedingungen und Grenzkontrollen an den EU-Außengrenzen und Binnengrenzen. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, unter welchen Bedingungen Binnengrenzkontrollen möglich sind.

Der Grenzkodex ist ein wichtiges Instrument, um die Freizügigkeit in Europa zu gewährleisten; allerdings halten sich die Mitgliedstaaten oft nicht an den Kodex. Beispielsweise führen sie Kontrollen an den Binnengrenzen ein und missachten die Rechtsgrundlagen dafür. Diese Kontrollen gefährden den Schengen-Raum, indem sie den freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr behindern, der für das Funktionieren der EU und ihrer assoziierten Länder (Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein) so wichtig ist. Besonders in Grenzregionen kosten die Kontrollen an den Binnengrenzen nicht nur viel Geld, sondern schränken das Leben der Menschen ein. Dabei führen sie oft nicht dazu, selbstgesteckte Ziele zu erreichen, beispielsweise weil sie Asylanträge gar nicht verhindern können, obwohl das immer wieder behauptet wird.

Die Reform

Die Europäische Kommission hat 2017 versucht, den Schengener Grenzkodex zu reformieren, aber die Mitgliedstaaten konnten sich nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen.

Nachdem die Mitgliedstaaten während der Corona-Pandemie die Binnengrenzen ohne Koordinierung auf EU-Ebene geschlossen hatten, schlug die Kommission eine neue Reform vor, die unter anderem auch Bestimmungen für gesundheitliche Notfälle größeren Ausmaßes – wie eben Pandemien – enthält.
Der Kommissionsvorschlag vom Dezember 2021 war gelinde gesagt umstritten, gefolgt von einer noch problematischeren Verhandlungsposition der Mitgliedstaaten. Trotz der oft betonten großen Bedeutung des Schengen-Raums für die Verwirklichung der Freizügigkeit in der EU hätten diese Texte dazu geführt, dass Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen endlose Binnengrenzkontrollen einführen können. Das Europäische Parlament hingegen fand mit seiner Verhandlungsposition einen Kompromiss, der den Schengen-Raum schützt.

EuGH-Urteil zu Grenzkontrollen

Parallel zum Reformprozess des Schengener Grenzkodexes hat der Europäische Gerichtshof in einem Grundsatzurteil nicht nur die Dauer der Binnengrenzkontrollen nach dem aktuellen Kodex sehr streng ausgelegt, sondern auch klar festgestellt, dass endlose Binnengrenzkontrollen gegen die im EU-Recht verankerte Freizügigkeit verstoßen. Damit stand fest: Freizügigkeit ist ein Recht, dass die EU-Staaten nicht unbegrenzt einschränken dürfen. Die Mitgesetzgeber (Rat und Parlament) müssen also ein Gleichgewicht zwischen “Freiheit” und “Sicherheit” finden, das nur mit einer festgelegten Befristung der Binnengrenzkontrollen im reformierten Schengener Grenzkodex funktioniert.

Der finale Kompromiss

Die interinstitutionellen Verhandlungen führten zu einem Kompromiss, zu dem wir im Europäischen Parlament in der letzten Plenarwoche der Legislaturperiode (Ende April 2024) abstimmen werden.
Wir sehen das Verhandlungsergebnis kritisch, denn: Die maximale Dauer von Binnengrenzkontrollen wird von derzeit 6 Monaten auf 3 Jahre erhöht. Allerdings haben Mitgliedstaaten eine neue, detailliertere Berichtspflicht, wenn sie Binnengrenzkontrollen einführen. Die Kommission hat im Gegenzug etwas mehr Pflichten und Befugnisse, um die Anwendung zu kontrollieren. Ob das dazu führt, dass die Grenzkontrollen nun stärker beschränkt werden, wird von Expert*innen bezweifelt.

Es wird außerdem zusätzliche Gründe geben, die Binnengrenzkontrollen erlauben. Darunter fällt sinnvollerweise eine gesundheitliche Notlage in großem Umfang, allerdings auch der sehr umstrittene Grund der unerlaubten Sekundärmigration von Drittstaatsangehörigen in großem Umfang. Damit wird die seit 2015 herrschende Praxis, dass Mitgliedstaaten Binnengrenzkontrollen einführen, um “irreguläre” Migration “einzudämmen”, quasi legalisiert.

Das Verhandlungsergebnis beinhaltet außerdem ein neues Verfahren für die interne Überstellung von Drittstaatsangehörigen ohne Bleiberecht zwischen den Mitgliedstaaten. Dieses Verfahren wird wahrscheinlich dazu führen, dass vermehrt “Racial Profiling” und im schlimmsten Fall sogar Kettenabschiebungen stattfinden können.

Durch die Einführung des Begriffs “Instrumentalisierung” können Mitgliedstaaten die Zahl der Grenzübergangsstellen und deren Öffnungszeiten begrenzen sowie die Grenzüberwachung intensivieren, wenn sie sich von einer Instrumentalisierung betroffen fühlen. Welche Fälle genau als Instrumentalisierung gelten, ist aber überhaupt nicht festgelegt und damit der Willkür der Mitgliedstaaten überlassen. Zusätzlich wurden die Möglichkeiten für polizeiliche Kontrollen und die allgemein im Hoheitsgebiet eingesetzten Kontroll- und Überwachungstechnologien erweitert. Diese zusätzlichen Vorschriften treten unmittelbar nach der Veröffentlichung in Kraft, wenn Parlament und Rat zugestimmt haben.

In der Praxis bleibt aber trotzdem abzuwarten, ob die Mitgliedstaaten diese neuen Vorschriften auch tatsächlich einhalten werden und ob die Kommission ihre Befugnisse als Hüterin der Verträge wahrnehmen wird, um dafür zu sorgen, dass sie dies tun.

Syrien: Die aktuelle humanitäre Lage und mögliche EU-Maßnahmen

In Syrien herrscht seit 13 Jahren Krieg. Im Jahr 2011 wurde die syrische Revolution im Rahmen des Arabischen Frühlings von Diktator Bashar al-Assad gewaltsam niedergeschlagen. Der Iran und Russland unterstützen das Assad-Regime, das für brutale Menschenrechtsverbrechen international geächtet wird. Eine halbe Million Menschen wurden bereits getötet, 13 Millionen Menschen wurden vertrieben – mehr als die Hälfte von ihnen lebt außerhalb Syriens. Der Großteil syrischer Geflüchteter hat in Nachbarländern wie der Türkei (3,1 Millionen Menschen), dem Libanon (785.000 Menschen) und in Jordanien (640.000 Menschen) Zuflucht gefunden. Der Konflikt ist in den letzten Jahren zunehmend in Vergessenheit geraten.

Zweifach heimatvertrieben: Das Erdbeben 2023

Durch das heftige Erdbeben am 6. Februar 2023 hat sich die Lage im Nordwesten des Landes  dramatisch verschlechtert. Mehr als 56.000 Menschen starben in Syrien und der Türkei, über zwei Millionen Menschen wurden über Nacht obdachlos. Insgesamt waren mehr als 22 Millionen Menschen betroffen, davon allein 9 Millionen in Syrien. 

Bis heute fehlt es an Grundversorgung, Unterkünften, Strom und Zugang zu Gesundheitsversorgung. Die meisten betroffenen Familien leben noch immer in zerstörten Häusern oder in Zelten. Die Katastrophe hat auch die psychische Gesundheit vieler Menschen stark beeinträchtigt. Viele haben Familienangehörige und Freund:innen verloren. Die ohnehin prekäre humanitäre Situation hat sich weiter verschärft: Mehr als 15 Millionen Menschen in Syrien, darunter 7 Millionen Kinder, sind dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind fünf Prozent mehr als im Jahr 2022. Gleichzeitig fehlt es massiv an humanitärer Hilfe und Finanzierung, während Assad versucht, durch Hilfslieferungen wieder das Ansehen seines Regimes zu rehabilitieren und die internationale Isolation Syriens zu beenden – mit Erfolg. Wer mehr dazu wissen möchte, kann gerne in meinen Artikel von November reinschauen.

Die aktuelle europäische Syrien-Politik

Während die Arabische Liga und andere Staaten wie die Türkei ihre Beziehungen zu Syrien schrittweise normalisieren, basiert die europäische Syrienpolitik weiterhin auf Sanktionen gegen das Assad-Regime und direkter humanitärer Unterstützung für die syrische Zivilbevölkerung. Letztere wird beispielsweise durch Instrumente wie das Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit (NDICI), den MADAD Fonds und die Fazilität für Flüchtlinge in der Türkei zur Verfügung gestellt. Im Rahmen der Überarbeitung des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR), also des langfristigen EU-Haushaltsplans bis 2027, hat die Kommission beispielsweise zusätzliche 5,2 Milliarden zur Unterstützung syrischer Geflüchteter in Syrien, der Türkei, Jordanien und dem Libanon vorgeschlagen. Darüber hinaus sind Ausnahmeregelungen für vertrauenswürdige internationale humanitäre Hilfsorganisationen notwendig, damit diese in Syrien schnell und effektiv helfen können. Wir setzen uns dafür ein, dass Sanktionen die Bereitstellung lebenswichtiger humanitärer Hilfe nicht behindern, sondern zielgerichtet die Eliten und Kriegsverbrecher treffen. Der wissenschaftliche Dienst des Europaparlaments hat die Auswirkungen der Sanktionen hier analysiert.

Außerdem haben wir im Außenausschuss einer Empfehlung an den Rat, die Kommission und den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD)  zur Lage in Syrien zugestimmt. Darin betonen wir noch einmal die schweren Menschenrechtsverbrechen des Assad-Regimes und die Pflicht der EU, von jeglicher Normalisierung mit ihm abzusehen, solange es keine tiefgreifenden und überprüfbaren Veränderungen durch die Umsetzung der Resolution 2254(2015) des UN-Sicherheitsrats gibt. Dazu gehören die Freilassung politischer Gefangener, Informationen über das Schicksal von Vermissten und Opfern von gewaltsamem Verschwindenlassen sowie die Beendigung aller Angriffe auf und Behinderungen von humanitärer Hilfe. Das ist insbesondere wichtig, weil immer noch im ganzen Land eine erhebliche Gefahr für Menschen besteht, wie vertrauliche Quellen aus dem Auswärtigen Amt nahelegen. Außerdem nehmen in letzter Zeit die Kampfhandlungen in Syrien wieder zu, weswegen die Vereinten Nationen einen Waffenstillstand anmahnen.

Weitere Vorschläge der UN-Resolution betreffen die verstärkte Bekämpfung russischer und iranischer Desinformation über Syrien, den Kampf gegen die anhaltende Straffreiheit in Syrien und eine stärkere Unterstützung der Zivilgesellschaft sowie der angestrebten Demokratisierungsprozesse.

Parlament kritisiert Gelder für tunesischen Autokraten

In einer Resolution des Europäischen Parlaments haben wir Abgeordneten die Freigabe von Geldern für die tunesische Regierung kritisiert. Meine Rede im Plenum dazu findet ihr hier.

Die Fraktionen der EVP und Renew Europe haben sich ebenso wie die ECR- und ID-Fraktion gegen die Behandlung der Resolution gewehrt. Der Antrag aus unserer Fraktion auf Behandlung hatte trotzdem Erfolg. Deutliche Kritik wurde beispielsweise daran geäußert, dass die Kommission Zahlungen an Tunesien in einem Dringlichkeitsentschluss Ende vergangenen Jahres beschlossen hatte, um damit Kontrollrechte des Europäischen Parlaments zu umgehen.

Die Resolution wurde recht deutlich angenommen (Ja: 243, Nein: 167, Enthaltung: 41). Wir als EU-Parlament betonen in der Resolution, dass die Einhaltung von Menschenrechten, demokratischer Prinzipien und Rechtsstaatlichkeit die Bedingung für solche Geldzahlungen sein muss. Die tunesische Regierung hat 150 Millionen Euro fast ohne Bedingungen bekommen. Die Resolution kritisiert die Verwendung eines „dringenden schriftlichen Verfahrens“ für die Annahme der Maßnahme ohne vorherigen Kontakt zum Parlament. Dadurch wird das Parlament nicht beteiligt.

Zudem werden Bedenken hinsichtlich der Achtung der rechtlichen Grundprinzipien, insbesondere angesichts der Verschlechterung der Menschenrechtssituation in Tunesien seit Juli 2021, geäußert. Das Parlament fordert die Kommission auf, detaillierte Informationen darüber bereitzustellen, wie und wann die Bedingungen für die Budgethilfe erfüllt werden und wie der Fortschritt objektiv bewertet wird. Darüber hinaus wird gefordert, dass die Kommission erklärt, warum die Unterstützung in einer einzigen Tranche ausgezahlt wird und wie diese Maßnahme zur Verbesserung des Geschäfts- und Investitionsklimas in Tunesien beitragen soll. Schließlich wird die Kommission aufgefordert, zu erklären, warum die tunesischen Behörden frühere EU-Budgethilfen abgelehnt haben und welche Garantien es gibt, dass das Europäische Parlament EU-finanzierte Projekte in Tunesien besuchen kann.

Die EU macht sich von Diktatoren erpressbar 

Wir erleben in Tunesien eine Aushöhlung von Demokratie und Grundrechten, gekrönt von rassistischen und antisemitischen Ausfällen von Präsident Kais Saied. Wir sind nicht gegen Verhandlungen mit Drittstaaten, auch nicht mit schwierigen Regimen oder Regierungen. Aber die unwürdige Geldkofferpolitik, die wir in den letzten Jahren erleben, trägt weder zur Bekämpfung von Fluchtursachen noch zur besseren Steuerung von Migration bei. Statt endlich die Herausforderungen anzunehmen, kopiert man einfache falsche Antworten von Rechtsaußenparteien und wundert sich dann, warum man jedes Jahr die gleichen Diskussionen zu Migration führt.

Nachdem Ursula von der Leyen, Giorgia Meloni und Marc Rutte letzten Sommer eine Vereinbarung mit Tunesien treffen wollten, haben die tunesischen Behörden Geflüchtete einfach ohne Wasser und Nahrung in der Wüste ausgesetzt, Dutzende sind schlicht verdurstet. Von den im Sommer noch angekündigten Bedingungen, wie Fortschritten bei der Demokratieförderung und der Wahrung von Menschenrechten, ist nun keine Rede mehr.

Das Migrationsabkommen mit Diktatoren keine langfristige Perspektive darstellen, haben wir schon beim EU-Türkei-Deal oder der Zusammenarbeit mit dem Niger gelernt. Saied hat sich nicht als verlässlicher Partner erwiesen und letztes Jahr sowohl EU-Abgeordneten und Kommissionsmitarbeitern Besuche verweigert. Die EU macht sich von Diktatoren erpressbar. Wenn es keine Kontrolle über die Verwendung von Gelder durch Diktatoren gibt, sollte es kein Geld geben. 

Die Migrationsbewegungen enden auch nicht, sie verlagern sich nur auf noch gefährlichere Routen. Dass Ursula von der Leyen für diesen Sonntag einen Besuch in Kairo für das nächste EU-Migrationsabkommen, erneut ohne vorherige Rücksprache mit dem Europäischen Parlament, angekündigt hat, zeigt, dass es hier vor allem um Wahlkampf und nicht um nachhaltige Lösungen geht.

Verheerender Frontex-Bericht: Untersuchungskommission zur Seenotrettung muss kommen

Nach dem Schiffsunglück von Pylos mit über 600 Toten vor der griechischen Küste leitete die Europäische Ombudsfrau Emily O’Reilly eine Untersuchung ein. Dabei konzentrierte sie sich mandatsbedingt auf die Rolle von Frontex.

Der nun von ihr vorgestellte Bericht zeigt, dass Frontex die eigenen europa- und menschenrechtlichen Vorgaben nicht erfüllt. Das hängt beispielsweise damit zusammen, dass Frontex bei Seenotrettungsfällen zu stark von der Kooperation der Mitgliedstaaten abhängig ist, die Menschen in Seenot nicht immer retten.

Die Untersuchung identifiziert systemische Probleme und Mangel an einer unabhängigen Kontrolle der Einsätze. O’Reilly appelliert an das EU-Parlament, Rat und Kommission, eine öffentliche Untersuchungskommission einzurichten, um die Ursachen der Mittelmeer-Todesfälle aufzuklären und künftig zu verhindern.

Die Pressemitteilung der Bürgerbeauftragten ist hier zu finden.

Bürgerbeauftragte veröffentlicht verheerenden Bericht – “Untersuchungskommission zur Seenotrettung muss kommen”

Der Bericht ist erschreckend und das Urteil der Bürgerbeauftragten verheerend. Frontex kommt grundlegenden rechtlichen Verpflichtungen nicht nach. So wurden offenbar Seenotrettungsfälle durch Frontex gefunden, dann aber nicht die Schiffe im Umfeld darüber informiert. So auch bei dem Schiffsunglück von Pylos, bei der über 600 Menschen beim Untergang des Fischkutters Adriana gestorben sind, obwohl man viele Stunden lang von dem Seenotfall wusste. Solche Fälle dürfen sich nicht wiederholen.

Frontex bot zwar Hilfe bei der Adriana-Luftüberwachung an, erhielt jedoch keine Antwort von Griechenland. Die Untersuchung identifiziert systematische Probleme, weil immer wieder Seenotfälle ignoriert werden, wodurch es zu vielen vermeidbaren Toten kommt.

Acht Monate nach dem Unglück wurden allerdings immer noch keine Schritte eingeleitet, um zu verhindern, dass eine solche Katastrophe sich wiederholt. Auch auf Seiten der griechischen Behörden scheint es kein Interesse daran zu geben, ernstzunehmende rechtsstaatliche Untersuchungen durchzuführen. Unsere Außengrenzen dürfen nicht länger ein rechtsfreier Raum sein, indem man straflos Menschen ertrinken lassen kann.

Deswegen unterstütze ich die Forderung der Europäischen Bürgerbeauftragten Emily O’Reilly, eine öffentliche Untersuchungskommission einzurichten, um das tausendfache Sterben auf dem Mittelmeer aufzuarbeiten und in Zukunft zu verhindern.

Hintergrund zu der Untersuchung

Am 14. Juni 2023 sank das überfüllte Fischerboot Adriana vor der Küste von Pylos, Griechenland, wobei über 600 Menschen ertranken. Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, bezeichnete das Ereignis als eines der schlimmsten Schiffswracks dieses Jahrhunderts und forderte eine gründliche Untersuchung. 

Die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly leitete eine Untersuchung ein. Dabei konzentriert sie sich auf die Rolle von Frontex und dessen Interaktion mit den nationalen Behörden bei Seenotfällen. Die Untersuchung ergab, dass Frontex‘ Möglichkeiten zur Seenotrettung stark von den Mitgliedstaaten und ihren Maßnahmen in der Seenotrettung abhängig sind. Oft gibt es ein Wirrwarr an Zuständigkeiten, die es erleichtern, sich bei Rettungsmaßnahmen aus der Verantwortung zu ziehen und Menschen ertrinken zu lassen. 

Die Bürgerbeauftragte schlug vor, dass die Kommission, der Rat und das Parlament eine unabhängige Untersuchungskommission zur Bewertung der Situation und zum Schutz der Grundrechte bei Seenotfällen einrichten. 

Das Adriana-Unglück steht sinnbildlich für das Unterlassen von geeigneten Hilfsmaßnahmen, denn auch hier wurden trotz eindeutiger Zeichen für einen Seenotfall Schiffe nicht zur Rettung alarmiert. 

Auch wenn der Fall noch juristisch aufgearbeitet wird, ist klar, dass durch angemessene Seenotrettungsmaßnahmen über 600 Menschen noch am Leben sein könnten.

Hier ein Auszug aus den Empfehlungen der EU-Bürgerbeauftragen O’Reilly:

Unabhängigere operative Entscheidungen durch Frontex: Frontex bindet sich in operativen Entscheidungen zu stark an die Mitgliedstaaten. So mangelt es Frontex an der Fähigkeit, seinen Grundrechtsverpflichtungen nachzukommen. Möglicherweise muss eine Überarbeitung der operativen Pläne und Verfahren, um sicherzustellen, dass die Agentur besser auf Seenotfälle reagieren kann, selbst wenn nationale Behörden keine konkreten Anweisungen zur Rettung oder zum Melden von Rettungsfällen geben.

Reaktion auf Seenotfälle: Frontex muss die operativen Protokolle die Reaktion auf Seenotfälle überarbeiten, insbesondere im Hinblick auf die Ausgabe von Mayday-Relais – also die Meldung von Seenotfällen an umliegende Schiffe. Die Agentur sollte prüfen, ob ihre Kriterien für die Bewertung von Seenotfällen und die Entscheidung zur Ausgabe von Mayday-Relais ausreichend sind, um die besonderen Umstände von Booten zu berücksichtigen und den Tod auf See zu verhindern.

Umgang mit Informationen von Dritten: Frontex sollte seine Praktiken zur Bewertung und Integration von Informationen, die von Nichtregierungsorganisationen und anderen inoffiziellen Quellen bereitgestellt werden, verbessern. Insbesondere sollten gemeldete Gefahren für Kinder oberste Priorität haben.

Beziehung zu nationalen Behörden: Die Untersuchung unterstreicht die Notwendigkeit für Frontex, seine Beziehungen zu den nationalen Behörden zu überdenken, insbesondere in Fällen, in denen Zweifel an der Einhaltung der Grundrechte durch einen Mitgliedstaat bestehen. Frontex sollte bereit sein, seine Aktivitäten mit einem Mitgliedstaat einzustellen, zurückzuziehen oder auszusetzen, wenn der Schwellenwert für ernsthafte Grundrechtsverletzungen erreicht wurde. Hier wird explizit Bezug auf Griechenland genommen.

Rechtsrahmen für Such- und Rettungsaktionen verbessern: Es besteht Bedarf an einem klaren EU-Rechtsrahmen für Such- und Rettungsmaßnahmen, der die Rollen und Verantwortlichkeiten von Frontex und den Mitgliedstaaten klar definiert und die Agentur in die Lage versetzt, ihren Grundrechteverpflichtungen effektiver nachzukommen. Das Seerecht wurde in einer Zeit geschaffen, in der man sich nicht vorstellen konnte, dass sich Staaten weigern, Menschen aus Seenot zu retten. Da diese Zeiten sich leider geändert haben, sollte man den Rechtsrahmen europäisch überarbeiten.

Diese Vorschläge zielen darauf ab, Frontex‘ Einsätze zur Rettung von Menschenleben zu verbessern und sicherzustellen, dass die Grund- und Menschenrechtseverpflichtungen im Rahmen der Such- und Rettungseinsätze zukünftig eingehalten werden.

Reform der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis

Beim abschließenden Trilog über die Neufassung der Richtlinie über die kombinierte Aufenthaltserlaubnis (Single Permit Directive) wurde im Januar eine Einigung erzielt

Worum geht es in der Richtlinie?

Jedes Jahr kommen etwa 3 bis 3,5 Millionen Drittstaatsangehörige in die EU, hauptsächlich aus beruflichen Gründen. Sie arbeiten in den EU-Ländern, zahlen Steuern und tragen durch ihre Mobilität dazu bei, dass Unternehmen dringend benötigte Arbeitskräfte finden. Die Richtlinie über die kombinierte Aufenthaltserlaubnis ermöglicht diesen Menschen ein vereinfachtes Antragsverfahren und stellt sicher, dass ein:e Bewerber:in nur eine Erlaubnis benötigt, die sowohl zum Arbeiten als auch zum Aufenthalt in der EU berechtigt. Sie gibt vielen Nicht-EU-Bürger:innen, die in der EU arbeiten, das Recht, in vielerlei Hinsicht wie EU-Bürger:innen behandelt zu werden. Das gilt insbesondere in Bezug auf faire Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit, Anerkennung von Qualifikationen und steuerliche Vergünstigungen. 

Geschichte der Single Permit Directive

Die Richtlinie ist seit 2011 in Kraft; Ziel der Überarbeitung war es nun, das Verfahren für den Erhalt einer kombinierten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu vereinfachen und den Mitgliedstaaten die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten zu erleichtern. Damit soll dem Fachkräftemangel in der EU entgegengewirkt werden. Darüber hinaus stellt die Arbeitsmigration eine legale Alternative dar, die es Schutzsuchenden ermöglichen kann, gefährliche irreguläre Fluchtrouten zu vermeiden. Damit diese nach ihrer Ankunft geschützt sind, sehen die aktualisierten Vorschriften auch verstärkten Schutz vor Ausbeutung und Ungleichbehandlung in den Mitgliedstaaten vor.  Arbeitnehmer:innen aus Drittstaaten erhalten durch die Neufassung ein einheitliches Paket an Rechten in Bezug auf ihre Arbeitsbedingungen, ihre soziale Absicherung und die Anerkennung ihrer Qualifikationen erhalten. Im Gegenzug müssen sie die jeweiligen Regelungen einhalten, andernfalls kann ihnen die kombinierte Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis entzogen werden.

Was uns Grünen wichtig war

Uns Grünen war es in den Verhandlungen wichtig, bürokratische Hürden abzubauen und mehr Menschen den Zugang zu einer kombinierten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu ermöglichen. Darüber hinaus wollten wir einen besseren Schutz vor Ausbeutung bei der Arbeitsaufnahme in den Mitgliedstaaten, z.B. durch eine Informationspflicht und die Einführung eines Rechts auf Arbeitgeberwechsel sowie ein gestärktes Recht auf Gleichbehandlung. Im folgenden erläutere ich euch einige unserer Hauptanliegen.

Weniger bürokratische Hürden

Diese Ziele konnten wir teilweise verwirklichen, denn der vereinbarte Text enthält einige Verbesserungen im Vergleich zu den vorherigen Vorschriften. Beispielsweise wurde eine Maximalfrist von 90 Tagen für die Entscheidung über Anträge auf eine kombinierte Erlaubnis festgelegt, im Vergleich zu den derzeitigen vier Monaten. Verfahren für besonders komplexe Fälle können um 30 Tage verlängert werden. Allerdings hätten wir uns sehr gewünscht, dass in diese Fristen die potenziell langfristigen Bearbeitungszeiten für die Personen, die ein Visum benötigen, mit einbezogen worden wären. Zudem wollten wir beschleunigte Verfahren für Antragsteller:innen, die bereits eine Genehmigung in einem anderen Mitgliedstaat besitzen oder an EU-Talentpartnerschaften teilgenommen haben; die Mitgliedstaaten werden nun lediglich durch Erwägungsgründe ermutigt, solche Anträge zu beschleunigen.

Wechsel des:der Arbeitgeber:in

Ganz besonders wichtig war uns auch die Möglichkeit, den oder die Arbeitgeber:in sowie Beruf und Arbeitsbereich wechseln zu können. Wir konnten in den Verhandlungen sicherstellen, dass eine einfache Mitteilung des neuen Arbeitgebers für einen solchen Wechsel ausreicht. Allerdings haben die nationalen Behörden trotzdem 45 Tage Zeit, den Wechsel abzulehnen. Zudem können Mitgliedstaaten einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten vorschreiben, in dem ein Wechsel nicht möglich ist. Eine Ausnahme bilden ernsthafte Verstöße gegen den Arbeitsvertrag, einschließlich besonders ausbeuterischer Arbeitsbedingungen, durch den oder die Arbeitgeber:in. Die Bestimmungen gehen damit leider nicht so weit, wie wir es uns gewünscht hätten.

Schutz auch bei Arbeitslosigkeit

Personen, die ihren Job verlieren, haben künftig bis zu drei Monate Zeit – bzw. sechs, wenn die Person ihre Arbeitserlaubnis seit mehr als zwei Jahren besitzt – um einen anderen Arbeitsplatz zu finden, bevor ihnen die Erlaubnis entzogen wird. Das sind zwei – bzw. vier – Monate länger, als es bisher der Fall war. Wenn ein:e Arbeitnehmer:in besonders ausbeuterischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt war, verlängern die Mitgliedstaaten die erlaubte Dauer der Arbeitslosigkeit um drei Monate, während die kombinierte Erlaubnis gültig bleibt. Bei einer Arbeitslosigkeit von mehr als drei Monaten können die Mitgliedstaaten von dem oder der Inhaber:in der kombinierten Erlaubnis den Nachweis verlangen, dass er:sie über ausreichende Mittel verfügt, um seinen:ihren Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe zu bestreiten. Mitgliedstaaten sind zudem durch einen neuen Artikel dazu verpflichtet, Verletzungen der Arbeitnehmerrechte zu überwachen und zu sanktionieren, insbesondere in Sektoren, bei denen ein grundsätzlich hohes Risiko von Verletzungen der Arbeitnehmerrechte besteht.

Was nun?

Die neuen Bestimmungen sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber wir müssen uns weiterhin dafür einsetzen, dass Hindernisse für die Arbeitsmigration abgebaut und Schutzmöglichkeiten geschaffen werden. Dazu gehört zum Beispiel unser Wunsch, dass die Einschränkungen des Rechts auf Gleichbehandlung im Wohnungswesen nur für öffentlichen Wohnraum – und nicht für privaten Wohnraum gelten. Diesmal konnten wir nur eine Ausnahme für Privatwohnungen durchsetzen.Grundsätzlich gilt es außerdem, angesichts der zunehmend restriktiven Migrationspolitik der EU, die auf Abschottung und Externalisierung setzt, legale Migrationswege wie die Arbeitsmigration zu fördern.

Studie: Beyond borders, beyond boundaries

Meine niederländische Kollegin Tineke Strik und Ich haben für die grüne Europafraktion eine kritische Analyse der finanziellen Unterstützung der EU für Grenzregime in Tunesien und Libyen in Auftrag gegeben.

Die gesamte Studie findet ihr hier auf Deutsch, Englisch und Französisch.

Eine zweiseitige Zusammenfassung gibt es auf Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch und Arabisch.

Klare Versäumnisse der Kommission 

Bei den von der Europäischen Kommission und den Mitgliedsstaaten mitfinanzierten Grenzschutzmaßnahmen kommt es regelmäßig zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Dazu gehören der Einsatz von physischer Gewalt oder absichtlichen Kollisionen durch die tunesische Küstenwache bzw. das Abfangen und Freiheitsentzug von Migrant*innen, Versklavung, Zwangsarbeit, Inhaftierung, Erpressung und Schmuggel durch die libysche Küstenwache. 

Es handelt sich dabei um enorme Summen, jeweils über 70 Mio € für Libyen und Tunesien für die Zeiträume von 2018 -2022, eine detaillierte Übersicht findet sich im ersten Kapitel der Studie.

Bei der Zuweisung von Mitteln wird das Risiko von Menschenrechtsverstößen nicht hinreichend beachtet, trotz entsprechender Bestimmungen u.a. in der Verordnung des NDICI, worüber die meisten Maßnahmen seit 2021 finanziert werden. Auch während der Projektlaufzeit ist unklar, wie die Projekte überwacht werden, da die Europäische Kommission unter Berufung auf Vertraulichkeit keine Dokumente zur Verfügung stellt.

Nächste Schritte

Gelder sollten nur dann ausgezahlt werden, wenn sichergestellt werden kann, dass damit keine Maßnahmen unterstützt werden, die mit Menschenrechtsverletzungen einhergehen. Eine menschenrechtliche Folgenabschätzung muss nicht lediglich am Anfang des Projekts durchgeführt werden, auch während der Laufzeit müssen Programme überprüft und ggf. angepasst oder unterbrochen werden. Dafür ist es wichtig, dass dem Europäischen Parlament ausreichend Dokumente zur Verfügung gestellt werden. Auch der Zivilgesellschaft kommt dabei eine wichtige Rolle zu, es ist wichtig, dass zivilgesellschaftliche Organisationen bei Finanzierungsentscheidungen mit konsultiert werden.

Weiterführende Informationen

Um die Studie vorzustellen, haben wir am gleichen Tag in einer Veranstaltung mit Seawatch, den Autorinnen der Studie und DG NEAR besonders die menschenrechtlichen Aspekte diskutiert, auf Anfrage kann eine Aufzeichnung der Veranstaltung zur Verfügung gestellt werden.

Ihr könnt die Zusammenfassung (EN/DE/FR/IT/AR) und die gesamte Studie (DE/EN/FR) hier herunterladen. Die SZ hat ebenfalls berichtet.

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