Delegationsreise des Entwicklungsausschusses in den Libanon

Ende Februar war ich als Leiter einer Delegation von fünf Abgeordneten des Entwicklungsausschusses im Libanon, um mir einen Überblick über die Lage vor Ort zu verschaffen. Die sozioökonomische Krise im Libanon hat sich zugespitzt – viele Menschen haben keinen ausreichenden Zugang zu medizinischer Versorgung, Strom und Wasser. Kinder gehen seit Monaten nicht mehr zur Schule, um ihre Eltern durch Arbeit finanziell unterstützen zu können. 74 % der Menschen sind von Armut betroffen, obwohl der Libanon kein armes Land ist. Von den 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten, die das kleine Land aufgenommen hat, leben 90 % in Armut. Die Bevölkerung im Libanon muss in dieser Krise besser unterstützt werden, es braucht nachhaltige Lösungen. 


Doch auch die Lage der Geflüchteten aus dem syrischen Bürgerkrieg steht auf der Tagesordnung. Die allermeisten Geflüchteten sind nicht in Europa. Diese Menschen haben verdient, dass wir nicht erst an ihr Schicksal denken, wenn sie aus Not und Verzweiflung weiter nach Europa fliehen müssen. Ziel der Reise des Entwicklungsausschusses ist es mit syrischen Geflüchteten zu sprechen und sich ein Bild über ihre aktuelle Situation zu machen. Außerdem sollen Wege diskutiert werden, wie ein Weg aus der sozioökonomischen Krise aussehen kann und welchen Beitrag die EU dazu leisten sollte.

Die Ausschüsse des Europäischen Parlaments organisieren regelmäßige Reisen („missions“) innerhalb und außerhalb der EU, um sich über ein bestimmtes Thema zu informieren oder beispielsweise einer internationalen Konferenz teilzunehmen. Durch die Pandemie lange ausgesetzt, gibt es nun endlich wieder mehr Möglichkeiten, diese wichtige Ebene der parlamentarischen Arbeit wahrzunehmen.

Von der Wirtschaftskrise gebeutelt

Der Libanon ist von einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise betroffen, was sich unter anderem durch den Währungsverfall illustrieren lässt. Innerhalb kürzester Zeit wurden 1.500 libanesischen Pfund für einen Dollar auf 20.000 libanesische Pfund für einen Dollar abgewertet. Das führte zu einem enormen Kaufkraftverlust für die Bevölkerung und zu erheblichen Problemen für den Staat bei der Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen. Die Stromversorgung, die die Regierung nur für eine Stunde pro Tag gewährleisten kann (der Rest hängt von einzelnen Dieselgeneratoren ab), ist besonders problematisch, da sie sich auf alle Bereiche der Gesellschaft auswirkt.

Gesundheits- und Bildungswesen besonders betroffen

Das Gesundheits- und das Bildungswesen sind zwei der am stärksten von der Krise betroffenen Sektoren. Viele Menschen müssen aufgrund der Krise von privaten zu öffentlichen Angeboten wechseln, gleichzeitig gibt es keine Kapazitäten für diese gestiegene Nachfrage: Kein Strom, Mangel an Medikamenten und Ausrüstung, demotiviertes Personal aufgrund von Gehaltseinbußen. So ist beispielsweise das Gehalt einer Krankenschwester von 600 USD auf 40 USD gesunken, während sich die Kosten für den Grundbedarf verzehnfacht haben. Auswanderung wird mehr und mehr als einzige Lösung für junge Berufstätige angesehen.

Treffen mit verschiedenen Hilfsorganisationen und weiteren Akteuren

Wir trafen uns mit einer Vielzahl von Akteuren, angefangen bei der EU und den Mitgliedstaaten, die die libanesische Bevölkerung und die syrischen Flüchtlinge im Land unterstützen. Wir trafen auch mit Organisationen zusammen, die diese Hilfe umsetzen, sowohl mit UN-Agenturen als auch Organisationen der Zivilgesellschaft. Ihre Botschaft war besorgniserregend: Die Krise in Syrien dauert an, und der Libanon steht vor seiner eigenen schweren Krise. Es besteht ein eindeutiger Bedarf an fortgesetzter Unterstützung, aber auch an der Harmonisierung und Koordinierung der zahlreichen Hilfsmaßnahmen, die im Zuge der Verschlechterung der Lage unternommen wurden. Derzeit wird eine sektorübergreifende Bedarfsermittlung durchgeführt, um ein möglichst vollständiges und aktuelles Bild des bestehenden Bedarfs zu erhalten. Sie dürfte bald abgeschlossen sein und ihre Ergebnisse zu besser koordinierten Maßnahmen führen.

Besuch von Projekten für syrische Geflüchtete

Die Delegation besuchte auch konkrete Projekte, die syrischen Geflüchteten und bedürftigen Libanes:innen diese dringend benötigte Hilfe leisten. Wir reisten nach Marj, Zahle und Ghazze im Bekaa-Tal, einer Region, in der eine große Zahl syrischer Geflüchteter lebt. Dort besuchten wir EU-finanzierte Projekte (sowohl von ECHO als auch vom Madad Trust Fund), die von lokalen und internationalen NROs durchgeführt werden. Dazu gehörte ein Zentrum für soziale Entwicklung, in dem die Nichtregierungsorganisation Medair Gesundheitsdienste für syrische und libanesische Menschen anbietet. Wir besuchten auch Projekte, in denen der Dänische Flüchtlingsrat und lokale Partner verschiedene Dienstleistungen und Unterstützung für syrische Geflüchtete (informelle Zeltsiedlung, Rechtsberatung) und Einheimische anbieten, die beispielsweise an einem Projekt zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Syrer:innen und Libanes:innen teilnehmen können. Wir besuchten ebenso ein Zentrum für nicht-formale Bildung, in dem die NGO AVSI und eine lokale NGO die Bedürfnisse syrischer Kinder unterstützen.

Treffen mit libanesischen Gesprächspartner:innen

Wir trafen auch mit den Ministern für Gesundheit, Bildung und Soziales sowie mit Mitgliedern der Nationalversammlung, dem Gouverneur und den Gemeindebehörden im Bekaa-Tal zusammen. Bei unseren Treffen mit libanesischen Gesprächspartner:innen und internationalen Akteur:innen bekräftigten wir unsere Wertschätzung für die Solidarität der libanesischen Bevölkerung, die seit über einem Jahrzehnt rund 1,5 Millionen Geflüchtete aus Syrien beherbergt, was einem Viertel der libanesischen Bevölkerung entspricht. Dies hat eine enorme Belastung für die Infrastruktur und die Ressourcen des Landes mit sich gebracht. Wir haben die Zusage der EU unterstrichen, die Syrer:innen und die libanesischen Aufnahmegemeinschaften weiterhin zu unterstützen.Doch das reicht nicht aus, die Notwendigkeit nachhaltiger Lösungsansätze liegt auf der Hand.

Tiefgreifende Reformen sind notwendig

Diese können für die vertriebenen Syrer:innen erst dann gefunden werden, wenn die Situation eine sichere und freiwillige Rückkehr nach Syrien zulässt – eine Bedingung, die weiterhin nicht erfüllt ist. Für die libanesische Bevölkerung erfordert die Lösung der derzeitigen Krise nicht humanitäre Hilfe, sondern tiefgreifende Reformen, die eine nachhaltige Entwicklung des Landes fördern können. Die EU ist bereit, diese zu begleiten und zu unterstützen, aber der erste Schritt muss von der libanesischen Führung kommen, die sich verpflichtet, mit der internationalen Gemeinschaft ein umfassendes Reformpaket zu vereinbaren und dieses umzusetzen.

Wahlen im Mai

Es war nicht der Schwerpunkt unserer Reise – da eine spezielle Wahlbeobachtungsmission entsandt werden wird -, aber bei unserem Austausch wurde deutlich, dass die bevorstehenden Parlaments- (im Mai) und Präsidentschaftswahlen (im Oktober) ein solches Engagement für Reformen erfordern, um die Bedürfnisse einer Bevölkerung zu lindern, die sich mit ihren Nachbarn solidarisch gezeigt hat und unter der derzeitigen Krise sehr leidet.

Mein Debriefing zur Reise könnt ihr auch hier nachhören (ab 14:49:00), es wird außerdem noch einen offiziellen Parlamentsbericht geben.