Flucht nach Europa: “Auf dieser Route kümmert es niemanden, ob du lebst oder stirbst”

Wer sich auf den Weg nach Europa macht, um dort Schutz oder Zukunftsperspektiven zu finden, geht dabei in der Regel durch die Hölle – oder stirbt. Das zeigt ein neuer Bericht des UNHCR, Mixed Migration Centre und der Internationalen Organisation für Migration (IOM)

Dafür wurden von 2020 bis 2023 mehr als 31.000 Menschen in Italien und mehreren afrikanischen Ländern dazu befragt, was sie auf der Flucht nach Europa erleben mussten. An der Tagesordnung: Folter, körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt und Ausbeutung, Versklavung, willkürliche Inhaftierung, Tod, Entführung zur Erpressung von Lösegeld, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Organentnahme, Raub, kollektive Ausweisung und Abschiebungen. 

Extreme Gewalt: Es ist schlimmer als je zuvor

Die Daten zeigen, dass sich die Lage im Vergleich zum ersten Bericht von 2020 noch deutlich verschlimmert hat. Schutzsuchende sind auf dem Mittelmeer und der Flucht dorthin weiterhin extremer Gewalt ausgesetzt. Neue Konflikte in der Sahelzone haben die Zahl der Vertriebenen in der Region verdoppelt, insbesondere der Krieg im Sudan. Extreme Armut und die durch den Klimawandel verursachten Naturkatastrophen im Osten und am Horn von Afrika tun ihr Weiteres. In den Transitländern fallen außerdem immer mehr Flüchtende einem starken Anstieg von Rassismus zum Opfer, oft ausgelöst von politischen Entscheidungsträger:innen wie dem tunesischen Autokraten Saied, der gerne gegen Geflüchtete hetzt.

Wenig Schutz entlang der Fluchtrouten, dafür anhaltende Straflosigkeit

Ein riesiges Problem sind mangelnde Sicherheitsnetze entlang der Routen nach und durch Nordafrika. Schutzsuchende sind dort in der Regel völlig auf sich gestellt. Sie müssen Gebiete durchqueren, in denen bewaffnete Gruppierungen und kriminelle Banden sie ausbeuten, missbrauchen, verschleppen. Wird eine Fluchtroute unpassierbar, zum Beispiel, weil sie durch Konfliktzonen führt oder Grenzbeamte dort stärker kontrollieren, verlagern sich die Wege in noch entlegenere Gebiete. Dort sind die Menschen dann wiederum noch größeren Risiken ausgesetzt. Gleichzeitig herrscht faktisch vollständige Straflosigkeit für Schmuggler und andere bewaffnete Gruppen. Im schlimmsten Fall werden sie noch von Regierungen unterstützt, wie zum Beispiel in Libyen.

Wir dürfen uns an diese Geschichten niemals gewöhnen

Organisationen und Staaten entlang der Routen scheinen sich laut des Berichts fast schon an den Missbrauch gewöhnt zu haben, der dort alltäglich stattfindet. Von einem “gefährlichen Gefühl der Resignation” und einem unaufhaltsamen Verlust von Hoffnung ist die Rede. Dabei gibt es sehr wohl Lösungen und Schutzmaßnahmen; mal ganz abgesehen davon, dass sich Staaten im Rahmen des Völkerrechts und anderer Instrumente dazu verpflichtet haben, Leben zu retten und Menschenrechte zu achten. 

Es braucht Friedensanstrengungen, Armutsbekämpfung, konkrete Maßnahmen zum Schutz vor den Folgen des Klimawandels. Und für diejenigen, die ihr Zuhause verlassen müssen, braucht es sichere Fluchtrouten, humanitäre Visa und Solidarität. In anderen Worten: Wir müssen dringend handeln. 

Aber die “Angst” vor irregulärer Migration und der Unwillen von Regierungen verhindert, dass klar benannt wird, welcher Horror auf den Migrationsrouten geschieht. Mit welchen Akteur:innen man zusammenarbeitet, um Menschen daran zu hindern, nach Europa zu kommen. Und wie lieber weiter Menschen sterben sollen, bevor man hierzulande seiner Verantwortung nachkommt. Spätestens nach diesem Bericht kann niemand mehr sagen, man hätte es nicht gewusst.

Anhaltendes Leid an der EU-Außengrenze Polens

Seit fast drei Jahren befinden sich Schutzsuchende im Wald an der polnisch-belarussischen Grenze in einem Limbo von Pushbacks und Gewalt. Mit dem Machtwechsel in Polen hatten viele gehofft, dass der neue Ministerpräsident Donald Tusk die menschenunwürdige Behandlung von Asylsuchenden im Grenzwald zu Belarus beenden wird. Stattdessen fordert er nun eine Stärkung des Grenzzauns, der zum Teil mit EU-Geldern finanziert werden soll, und schürt die Angst vor Belarus und den Schutzsuchenden, die zwischen den beiden Ländern festsitzen. Tusk will nun über zwei Milliarden € in die Sicherung der östlichen Landesgrenze stecken und sagt offen, dass es sich um ein „Element der Abschreckung“ handele.  

2021: Eine neue Fluchtroute nach Europa

Die neue Route entstand auch, weil der belarussische Machthaber Lukaschenko als Reaktion auf EU-Sanktionen im August 2021 damit angefangen hat, Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderen Ländern nach Belarus einreisen zu lassen, damit sie an die EU-Außengrenze kommen. Lukaschenko hat die leidenden Menschen missbraucht, um Druck auf die EU auszuüben. Polen wirft Belarus eine “Instrumentalisierung” der Schutzsuchenden vor und erklärt die Geflüchteten zur Waffe eines “hybriden Krieges”. Damit rechtfertigt die Regierung in Warschau die anhaltende Militarisierung der Grenze und die menschenrechtswidrigen Pushbacks, die dort stattfinden. In diesem Zusammenhang wurde auch eine militärische Sperrzone errichtet, in der die Schutzsuchenden festsitzen und in der jede Hilfe von außen, egal ob von NGOs oder lokalen Anwohner:innen, verhindert oder kriminalisiert wird.

Nach wie vor viele Ankünfte

Auch wenn es weniger sind als 2021, fliehen bis heute Schutzsuchende über Belarus nach Polen. Lokale Aktivist:innen von Grupa Granica helfen vor Ort und dokumentieren Menschenrechtsverletzungen. Bei einem Treffen diese Woche haben sie berichtet, dass jetzt vor allem im Frühjahr und Sommer die meisten Menschen versuchen, die Grenze im Białowieża-Wald zu überqueren. Der ist auch durch seine vielen Sümpfe und Moore gefährlich; im Winter wird es außerdem so kalt, dass viele Menschen erfrorene Gliedmaßen aufweisen oder gänzlich erfrieren. 

Seit Beginn der Krise sind mindestens 60 Menschen gestorben. Die Zivilgesellschaft geht allerdings von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. Allein im Zeitraum von Dezember 2023 bis April 2024 hat allein die Grupa Granica mehr als 1.700 illegale Pushbacks, fünf Tote und 25 vermisste Menschen dokumentiert. Es wurde auch ein Kind von einer Mutter geboren, die versucht hat, aus Eritrea in die EU zu flüchten.

Pushbacks sind die Realität

Viele dieser Menschen äußern an der Grenze den Wunsch nach Asyl, wonach ihnen nach europäischem und internationalem Recht ein rechtsstaatliches Asylverfahren zusteht, in dem ihr Schutzanspruch geprüft wird. In der Realität berichten die meisten stattdessen davon, dass sie gewaltsam zurückgewiesen werden, manche Betroffene bereits mehrfach. Dabei werden von Behörden auf beiden Seiten oft mutwillig Handys zerstört und Tränengas, Schlagstöcke und sogar Gewehre eingesetzt – auch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Im Herbst 2023 hat ein heute 23-jähriger syrischer Schutzsuchender mit seinen Freunden versucht, von Belarus nach Polen zu fliehen. Ihm wurde dabei von einem polnischen Grenzschutzbeamten in den Rücken geschossen, “versehentlich”.

Neue Regierung, alte Taktiken?

Mit dem Regierungswechsel in Polen haben einige auch auf eine menschlichere Migrationspolitik an der Grenze zu Belarus gehofft, vor allem weil Donald Tusk ja eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit in Polen eingeleitet hat. Leider gilt diese Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit offensichtlich nicht für Schutzsuchende. Stattdessen hat Tusk diese Woche die Grenzregion zwischen Polen und Belarus besucht und eine Verstärkung des 2022 gebauten Grenzzauns versprochen. Der ist bereits jetzt 180 Kilometer lang und 5,5 Meter hoch, mit Stacheldraht verstärkt und elektronisch überwacht. Vor der anstehenden Europawahl bleibt Polen trotz neuer Regierung also bei einer restriktiven Migrationspolitik, ausgetragen auf dem Rücken von schutzsuchenden Menschen im Wald zu Belarus.

Ein Blick in die Zukunft

Hinzu kommt die endgültige Verabschiedung der sogenannten GEAS-Reform (mehr dazu hier auf meiner Website), in der zum Beispiel die Krisenverordnung Asylrechtsverschärfungen im Falle einer “Instrumentalisierung” ermöglicht. Beispielsweise können Grenzverfahren ausgeweitet oder Registrierungsfristen verlängert werden. Asylsuchende können in solchen Fällen unabhängig von der Schutzbedürftigkeit über viele Monate an den Außengrenzen inhaftiert werden. Viele Regeln des neuen GEAS bieten den Behörden der Mitgliedstaaten mehr Spielraum, undokumentiert gegen das EU-Recht zu verstoßen. So können längere Registrierungsfristen etwa dazu beitragen, dass Personen noch Wochen nach der Ankunft gepushbacked werden, ohne dass ihre Einreise jemals dokumentiert werden musste. Auch wenn sich erst zeigen muss, wie diese Verordnung in der Praxis umgesetzt wird, laufen wir damit Gefahr, das Asylrecht weiter zu schwächen und anderen Mitgliedstaaten eine noch bessere Grundlage für Menschenrechtsverletzungen an unseren Außengrenzen zu liefern.

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