Fünf Jahre EU-Türkei-Deal: Wie man sich Zeit erkaufte und sie nicht nutzte

Vor fünf Jahren einigten sich der Europäische Rat und die Kommission mit der Türkei auf einen Deal. 

Mit diesem Deal sollte verhindert werden, dass Menschen aus der Türkei in größerer Anzahl nach Europa fliehen können. Der Zenit der Krise von 2015, in der hunderttausende nach Europa kamen, war dabei längst überschritten und die Ankunftszahlen gingen bereits deutlich zurück. Trotzdem wollte man verhindern, dass Menschen weiterhin über die Türkei nach Europa fliehen können. 

Der Deal war ein Präzedenzfall für eine Politik, die versucht, die Grenzen der EU zu externalisieren: Die Grenze zur EU soll nicht mehr an den EU-Außengrenzen verlaufen, sondern bereits in der Türkei oder in Nordafrika. Auf ein robustes Asylsystem für die EU konnten sich die Staatschef:innen bis heute nicht einigen. Einig ist man sich bislang nur, dass schon außerhalb der EU Menschen aufgehalten werden sollen. Und jene die ankommen, werden seither oft in unwürdigen Massenlagern wie in Moria untergebracht.

Was wurde im EU-Türkei-Deal vereinbart?

Die Türkei erklärte sich bereit, Maßnahmen zu ergreifen, um irreguläre Migration zu verhindern. Im Gegenzug wurden dem Land Milliardenhilfen zugesagt. Der Deal sah außerdem vor, dass syrische Geflüchtete, die dennoch irregulär von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangten, wieder in die Türkei zurückgebracht werden. Für jede zurückgeführte Person sollte jeweils eine aus Syrien geflüchtete Person aus der Türkei in die EU umgesiedelt werden. Dieser Teil des Deals wurde nie wirklich umgesetzt. Zwischen dem ersten Quartal 2016 und dem ersten Quartal 2020 wurden rund 27.000 syrische Geflüchtete aus der gesamten Türkei in EU-Staaten umgesiedelt. Besonders im letzten Jahr wurden kaum noch Menschen umgesiedelt. In den letzten Jahren hatten also weniger als 1% der syrischen Geflüchteten in der Türkei die Möglichkeit, legal nach Europa zu kommen.

Im Gegenzug für die Verhinderung der Flucht aus der Türkei sollte Ankara auch ebeschleunigte Visaerleichterungen für ihre Bürger:innen erhalten. Diese Visa-Erleichterungen gibt es aber bis heute nicht, worauf die Türkei regelmäßig hinweist. Tatsächlich hat die Türkei nie alle Bedingungen für die Visa-Erleichterungen erfüllt. Da das Einhalten der Regeln allerdings auch schon vor fünf Jahren nicht realistisch war, kann man davon ausgehen, dass die Türkei die Erleichterungen als Bonus abseits des üblichen Verfahrens erwartet.

Der wichtigste und teuerste Punkt des Abkommens war die Zahlung von insgesamt 6 Milliarden Euro für diverse Projekte zur Unterstützung von syrischen Geflüchteten in der Türkei. Entgegen einiger Behauptungen floss das Geld tatsächlich und kam auch bereits zu großen Teilen an. 


Die damaligen Zusagen zeigen vor allem, dass die Staats- und Regierungschef:innen bereit waren, sehr große Zugeständnisse zu machen, damit der Deal wirksam wird. Das Europäische Parlament wurde in die Aushandlung des Deals nicht eingebunden. 

Rechtlich fragwürdige Entscheidungen

Dabei waren schon die Umsetzungsentscheidungen des EU-Türkei-Deals rechtlich fragwürdig. Die damalige griechische Regierung unter Alexis Tsipras wurde dazu gedrängt, ein schlechtes Gesetz durch ihr Parlament zu bringen, damit der Deal umgesetzt werden kann. Griechenland erkannte die Türkei als “sicheren Drittstaat” an, damit man Menschen leichter dorthin abschieben kann. Dabei flohen und fliehen auch aus der Türkei selbst tausende Menschen aufgrund von politischer Verfolgung. Die Türkei ist nicht nur kein sicheres Land für alle Geflüchteten. Sie ist noch nicht mal ein sicheres Land für viele ihrer eigenen Bürger:innen. Griechenland hatte damals kaum eine andere Wahl, denn ihnen wurde damit gedroht, dass sie durch die Schließung der nordmazedonischen Grenze mit den Geflüchteten durch Europa allein gelassen werden.

Die EU unterstützt mit den Rückführungen von Syrer:innen in die Türkei außerdem eine Politik, die am Ende auf Abschiebungen nach Syrien hinausläuft, weil sie von der Türkei erwartet, dass diese “alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass sich neue See- oder Landrouten für illegale Migration öffnen“.

Menschen werden inzwischen auch durch europäische Behörden systematisch aus Griechenland in die Türkei gepushbackt oder auch illegal abgeschoben. Damit versucht man auf Kosten der Menschenrechte und -würde weniger Abhängigkeit von der Türkei zu erprügeln und die Zahl der Schutzsuchenden in Europa zu dezimieren.  In der Türkei wiederum droht Kriegsflüchtlingen aus Syrien eine Abschiebung in ihr Heimatland. Das ist für viele lebensgefährlich. Den Menschen droht nicht nur Gefahr durch die Kriegshandlungen, sondern auch durch die Foltergefängnisse des Assad-Regimes, in denen zehntausende Menschen verschwunden sind. Darunter auch Menschen, die nach Syrien zurückkehrten, beziehungsweise zu einer Rückkehr gezwungen wurden. 

Dass derzeit tatsächlich weniger Menschen kommen, liegt nicht nur am EU-Türkei-Deal. Es liegt an der Pandemie und an den systematischen Pushbacks durch die griechischen Behörden. Es kommen nicht weniger Menschen wegen des Deals, sondern weil EU-Staaten fundamentale Menschenrechte mit Füßen treten.

In der Folge des Deals schottete die Türkei zudem auch die syrische Grenze ab, sodass der EU-Türkei-Deal auch dazu beiträgt, dass die Flucht aus dem syrischen Bürgerkrieg immer schwieriger wurde.

Europa macht sich erpressbar 

In den letzten fünf Jahren hat man in der Türkei die Erpressbarkeit der Europäischen Union vielfach mitbekommen. Die Türkei inhaftierte Oppositionelle und Journalist:innen, marschierte mit deutschen Leopard-2 Panzern in Syrien ein und bekämpft Minderheiten im eigenen Land. Insbesondere zum Einmarsch in Syrien war von vielen EU-Verantwortlichen vor allem Schweigen zu vernehmen. Kritik an schweren Menschenrechtsverletzungen wird zwar geäußert, sie hat aber selten reale politische Folgen – aus Angst, die Türkei könnte die Grenzen zu Griechenland und Bulgarien öffnen. 

Dass die Europäische Union auch Jahre, nachdem sie sich durch den Türkei-Deal Zeit erkaufte, immer noch kein robustes rechtsstaatliches Asylsystem hatte, rächte sich im März 2020. Ich selbst habe das vor einem Jahr vor Ort auf Lesbos erfahren. 

Nachdem Erdoğan eine Grenzöffnung verkündete und plötzlich einige Tausend Menschen an der Außengrenze standen, reagierte Griechenland mit Gewalt und setzte einfach das Grundrecht auf Asyl aus. Das war rechtswidrig. Die griechische Küstenwache begann in Richtung von Schlauchbooten voller Menschen zu schießen, statt diese zu retten. Man ließ Boote stundenlang in Seenot verharren, statt sofort einzugreifen. Ein Mädchen ertrank bei dem Versuch nach Lesbos zu gelangen, obwohl man sie hätte retten können. Die griechische Polizei schoß mit scharfer Munition auf Menschen und tötete dabei sehr wahrscheinlich mehrere Personen, zum Beispiel Muhammad Gulzar. 

Diese Handlungen wurden damals mit einer militärischen Rhetorik gerechtfertigt. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland als “Schutzschild Europas.” 

Die Regierung in Ankara hat damals sehr genau mitbekommen, dass sie die EU erpressen kann, indem sie einige wenige Tausend Menschen in Richtung EU-Grenze passieren lässt oder diese sogar in Bussen dort hinbringt. Man muss sich nicht wundern, dass auf dem internationalen Parkett niemand mehr eine Staatengemeinschaft ernst nimmt, die sich durch die Ankunft von Geflüchteten auf ein paar Schlauchbooten erpressbar machen lässt. 

In der EU wird versucht, diese Politik zu rechtfertigen, weil man sich vor einem neuen 2015 fürchtet. Aber die vielen Millionen Menschen, die in der Türkei auf gepackten Koffern sitzen um in die EU zu kommen – es gibt sie nicht. Als Erdoğan vor einem Jahr die Grenzen öffnete, kamen nicht Hunderttausende, sondern nur wenige Tausend. Unter ihnen war kaum jemand aus Syrien, obwohl in der Türkei mehr als 3,5 Millionen Syrer:innen leben. Die meisten Geflüchteten in der Türkei leben nahe der syrischen Grenze. Sie wünschen sich eine Rückkehr oder haben sich in den vergangenen Jahren in der Türkei eingelebt. Viele haben die Sprache gelernt und Arbeit gefunden. Die meisten dieser Menschen wollen überhaupt nicht in die EU. 

Nicht alles ist schlecht am Deal

Nicht alles an dem Deal ist schlecht. Und natürlich ist es gut, wenn die EU den Geflüchteten in der Türkei hilft. Der EU-Türkei-Deal enthält eine Liste wichtiger Zusagen, von denen einige gut und notwendig sind. Dazu gehören die finanzielle Unterstützung, um syrischen Geflüchteten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Vergabe der hierfür notwendigen Mittel wurde erleichtert. Ein Großteil der zugesagten sechs Milliarden Euro wurde inzwischen auf den Weg gebracht. 

Mit diesen Geldern wurde hunderttausenden Kindern aus Syrien der Schulbesuch ermöglicht, Menschen konnten zum Arzt gehen oder ihnen wurde geholfen, die Sprache zu lernen. Ein Großteil der Gelder ging direkt an Hilfsorganisationen, auch wenn die türkische Regierung darauf drängte, mehr Gelder an staatliche Stellen in der Türkei zu überweisen. Auch die Finanzierung des türkischen Gesundheits- und Bildungsministeriums ist nicht per se zu verurteilen.

Eines der Probleme des Deals ist jedoch, dass durch die mangelnde parlamentarische Kontrolle und Rechenschaftspflicht nicht klar ist, welche Projekte wie erfolgreich waren.

Leider wurden einige sinnvolle Aspekte des EU-Türkei-Deals, wie die Schaffung von legalen Fluchtwegen, nicht angemessen umgesetzt. Und trotz der Gelder aus der EU entsprechen die Aufnahmebedingungen für Geflüchtete oft nicht den humanitären Standards und ein wirklicher Zugang zu staatlichen Dienstleistungen oder dem Arbeitsmarkt besteht für viele nur auf dem Papier, aber nicht in der Realität. 

Und wie sollte es weiter gehen?

Es wird viel von Fluchtursachen geredet, doch im Zentrum der Maßnahmen stehen sie selten. Stattdessen wird die Europäische Asylpolitik zu oft von kurzfristigen Zielen geprägt. Für ein künftiges Abkommen wäre es sinnvoll, dass man die Zusagen legaler Fluchtwege und Umverteilung einhält und sich statt auf dysfunktionale Rückführungsmechanismen auf die Ursachen der Flucht aus der Türkei konzentriert. Es muss das Ziel sein, dass Menschen, die in die Türkei geflohen sind, nicht erst nach Europa fliehen müssen, um endlich in Sicherheit zu sein. Das erreichen wir jedoch nicht durch Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen, sondern dadurch, dass wir die Türkei unterstützen, Perspektiven für Geflüchtete zu schaffen. 

Deswegen sollten die erfolgreichen Programme in der Türkei fortgesetzt und ausgebaut werden. Wichtig wäre, dass sie nicht nur Menschen aus Syrien erreichen, sondern auch die vielen Hunderttausend anderen Geflüchteten, die zum Beispiel aus Afghanistan kommen. Man hat sich mit dem Deal als Europa vor allem auf Kosten der Menschenrechte, Zeit gekauft. Tragischerweise hat man diese Zeit nicht genutzt, sondern steht fünf Jahre später schlechter da als vorher: Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen haben inzwischen System und die Massenlager an den Außengrenzen dienen eher der Abschreckung, als der menschenwürdigen Unterbringung von Schutzsuchenden. Auch ein System zur Umverteilung von Schutzsuchenden in der EU oder die Schaffung von legalen Fluchtwegen ist seit 2016 nicht erreicht worden. Weltweit ist die Zahl der Geflüchteten nach UN-Angaben in den letzten 5 Jahren um ca. 15 Millionen Menschen gestiegen – aller Beteuerung zur Bekämpfung von Fluchtursachen zum Trotz.