Syrien 2025: Kein Frieden, keine Gerechtigkeit und kein Ort für Abschiebungen

Rund ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes ist Syrien weiterhin von Gewalt, Straflosigkeit und politischer Willkür geprägt. Inszenierte Wahlen und Bilder vermeintlicher Normalität ändern daran nichts. Dennoch wächst in Europa der politische Druck, geflüchtete Syrer*innen in ihr Heimatland abzuschieben. Dabei warnen Expert*innen wie das UN-Flüchtlingshilfswerk eindringlich, dass Syrien viel zu instabil ist, um Rückkehrer*innen zu schützen oder angemessen versorgen zu können. Niemand kann aktuell verlässlich einschätzen, ob das Land einen Weg in eine stabile Zukunft findet oder erneut in Gewalt versinkt.

Machtvakuum, Straflosigkeit und neue Gewalt

Nach dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 übernahm die islamistische Miliz HTS die Kontrolle über Damaskus und beansprucht seither die politische Führung des Landes. Die Verbrechen der Assad-Ära wurden bislang nicht aufgearbeitet; mutmaßliche Täter teilweise sogar freigesprochen. Dieses Klima der Straflosigkeit lässt die Menschen im Land schutzlos zurück. Selbstjustiz, politisch motivierte Tötungen und ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen prägen den Alltag vieler Menschen.

So kam es im März beispielsweise in den Küstenregionen im März zu Massakern an Angehörigen religiöser Minderheiten wie Alawit*innen und Christ*innen, begleitet von Plünderungen und Entführungen. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, in der selbst grundlegende Religionsfreiheit abgeschafft wird.

Der Selbstmordanschlag auf die Mar-Elias-Kirche in Damaskus im Juni 2025, bei dem 25 Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden, zeigt, dass selbst zentrale religiöse Orte nicht geschützt sind. Für die Bevölkerung bedeutet dies, dass Räume der Zuflucht und Gemeinschaft zu Orten der Unsicherheit geworden sind.
Besonders dramatisch war auch die Eskalation der Gewalt in der Provinz as-Sweida im Juli. Beduinische Milizen und Regierungstruppen griffen die Provinz an und lieferten sich schwere Kämpfe mit lokalen drusischen Milizen. Dabei wurden über 1.400 Menschen getötet, darunter zahlreiche Zivilist*innen, und mehr als 150.000 Menschen vertrieben. BBC-Recherchen dokumentieren zudem schwere Kriegsverbrechen: Demnach sollen Regierungssoldaten Patient*innen in einem Krankenhaus in ihren Betten erschossen haben sollen. Diese Ereignisse zeigen klar, dass die syrischen Machthaber weder Schutz bieten noch Kontrolle über wesentliche Sicherheitsbereiche besitzen.

Zermürbte Abkommen und verlorenes Vertrauen

Auch im kurdisch geprägten Nordosten Syrien bleibt die Lage instabil. Die Spannungen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF), einer kurdisch geführten Miliz, und der HTS reißen nicht ab. Ein am 10. März 2025 geschlossenes Abkommen sollte zur Stabilisierung der Region beitragen, blieb jedoch weitgehend wirkungslos. Das Scheitern lässt sich vor allem durch die tiefe Verunsicherung in der Bevölkerung erklären: Die brutalen Angriffe in den Küstenregionen und das Massaker in as-Sweida haben die Menschen im Nordosten in Angst versetzt. Viele fürchten, dass sich die Gewalt jederzeit auf ihre Region ausweiten könnte.

Zwar setzt sich die SDF für ein dezentrales Syrien ein, in dem Macht und Verantwortung zwischen Regionen und Zentralregierung geteilt werden, doch die Führung in Damaskus blockiert dieses Modell. Sie betrachtet Dezentralisierung als Vorstufe eines schleichenden Zerfalls des Landes. Entsprechend steht auch ein weiteres Abkommen, das nach erneuten Spannungen in Aleppo im Oktober ausgehandelt wurde, unter schlechten Vorzeichen. Ob es eingehalten wird, erscheint angesichts des tiefgreifenden Vertrauensverlusts derzeit völlig offen.

Scheinwahl statt politischem Aufbruch

Die Parlamentswahl vom 5. Oktober 2025 sollte ein Symbol für einen politischen Neuanfang sein. Stattdessen hat sie deutlich gemacht, wie fest Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa die Macht an sich gerissen hat. Die Wahl war weder frei noch fair, denn al-Sharaa hat sowohl das Wahlverfahren als auch dessen Ergebnis kontrolliert: Nach Dekret Nr. 143/2025 ernennt er ein Drittel der Abgeordneten selbst und bestimmt die Mitglieder der Hohen Wahlkommission. Diese wiederum überwacht nicht nur den gesamten Wahlprozess, sondern bestätigt auch die Vergabe der übrigen Mandate; ein System geschlossener Kontrolle ohne unabhängige Instanzen.

Hinzu kommen bewusst vage formulierte Ausschlusskriterien, die den willkürlichen Ausschluss unerwünschter Kandidat*innen ermöglichen. Unter Vorwürfen wie angeblicher Unterstützung des früheren Regimes oder Spaltung des Landes werden politische Konkurrenten ausgeschaltet. Betroffene erhalten weder Einblick in die Vorwürfe noch die Möglichkeit, rechtlich dagegen vorzugehen. Auch von gesellschaftlicher Repräsentation kann kaum die Rede sein: Die Frauenquote von 20 Prozent bleibt symbolisch, während marginalisierte Gruppen faktisch keine Stimme haben.

In Syrien wurde kein politischer Neubeginn eingeleitet, sondern bestehende autoritäre Machtstrukturen lediglich unter neuem Namen fortgeführt.

Die Folgen für Europa: Politischer Druck statt Schutz

Trotz der katastrophalen Lage im Land fordern Konservative und Rechtsextreme in Europa zunehmend Abschiebungen nach Syrien. Österreich hat bereits erste Menschen nach Syrien abgeschoben. In Deutschland wird die Debatte vor allem vom Bundeskanzler befeuert, der sogar den syrischen Übergangspräsidenten nach Berlin eingeladen hat – eine Person, die noch bis vor kurzem als Terrorist eingestuft wurde. Die Signalwirkung dieser politischen Aufwertung ist deutlich: Sie sendet ein fatales Zeichen der Normalisierung an autoritäre und extremistische Akteure.Lediglich der Außenminister widerspricht der populistischen Rückkehrdebatte deutlich: Nach seiner Syrienreise beschrieb er die Zerstörung als „schlimmer als Deutschland 1945“.

Keine pauschale Asyl-Aussetzung: Karlsruhe stellt BAMF klar in die Schranken

Nach dem Sturz Assads setzte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wie auch mehrere andere EU-Staaten, Asylverfahren für Syrer*innen zunächst pauschal aus. Begründet wurde das mit einem angeblichen Bedarf an weiterer „Aufklärung“. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch klargestellt, dass eine solche pauschale Aussetzung rechtswidrig ist. Die Lage in Syrien sei hinreichend bekannt, um Einzelfälle zu prüfen. Damit bleibt die rechtsstaatliche Verpflichtung zur Einzelfallprüfung verbindlich und nicht verhandelbar. 

In der Praxis agieren die Behörden dennoch teils zögerlich. Für Betroffene bedeutet das anhaltende Unsicherheit; gerade für jene, die seit Jahren in Deutschland leben, arbeiten und gesellschaftlich integriert sind. Anstelle von Schutz und rechtlicher Klarheit dominiert damit weiterhin politische Abschreckung.

Das Paradox der Abschiebungsdebatte: Fachkräftemangel vs. Schutzentzug

Deutschland wirbt aktiv um Fach- und Arbeitskräfte, gleichzeitig müssen viele erwerbstätige Syrer*innen um den Verlust ihres Schutzstatus fürchten. Wird dieser entzogen, verlieren Betroffene in der Regel automatisch ihre Arbeitserlaubnis. Damit geraten nicht nur jahrelange Integrationsbemühungen ins Wanken, sondern auch die Existenzgrundlage der Betriebe, die auf ihre eingearbeiteten Mitarbeiter*innen angewiesen sind. 

Eine Abschiebepolitik, die über den Entzug von Schutz funktioniert, steht damit neben menschlichen Werten auch in einem starken Widerspruch zu den eigenen arbeitsmarktpolitischen Zielen. Was als migrationspolitische Härte verkauft wird, erweist sich damit auch ökonomisch als kurzsichtig.

Es braucht Schutz statt Symbolpolitik

Angesichts der anhaltenden Gewalt, Straflosigkeit, politischen Willkür und der fragilen Sicherheitslage sind Abschiebungen nach Syrien politisch, humanitär und rechtlich unverantwortlich. Eine verantwortungsvolle deutsche und europäische Politik muss deshalb den Schutz von Geflüchteten in den Mittelpunkt stellen, rechtsstaatliche Verfahren konsequent stärken und gleichzeitig gezielten Druck auf die neuen Machthaber in Syrien ausüben, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Außerdem müssen die Hauptaufnahmeländer Türkei, Libanon und Jordanien nachhaltig unterstützt werden. Nur durch eine Verbindung von Schutz, Rechtsstaatlichkeit und internationaler Verantwortung kann langfristig ein Umfeld entstehen, in dem eine sichere und freiwillige Rückkehr überhaupt denkbar ist.

Brief zur Lage im Sudan: EU muss dringend handeln

Gemeinsam mit anderen demokratischen Abgeordneten des EU-Parlaments haben wir uns in einem Brief an Kaja Kallas, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, gewandt. 

Hintergrund ist die dramatische Eskalation der Gewalt im Sudan nach der Einnahme von El Fasher durch die Rapid Support Forces (RSF) am 26. Oktober 2025. Berichte über Massenmorde, außergerichtliche Hinrichtungen, systematische sexuelle Gewalt, Folter sowie ethnisch gezielte Angriffe zeigen eine massive Verschärfung der humanitären Lage und gefährden die regionale Stabilität. Deshalb fordern wir, unverzüglich zu prüfen, ob die Handlungen der RSF die Kriterien für eine Aufnahme in die EU-Terrorliste erfüllen.

Wir haben die Entwicklungen im Sudan als Europäisches Parlament bereits in einer Resolution vom 27. November 2025 verurteilt. Umso wichtiger ist es, dass über die politische Verurteilung hinaus konkrete Konsequenzen folgen und die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Für die Menschen im Sudan darf es keinen weiteren Aufschub geben.

Den ganzen Brief könnt ihr hier nachlesen.

Veranstaltung: Hass, Hetze, Normalisierung – Was können wir gegen den Aufstieg der Rechtsextremen tun?

Liebe alle,

Europaweit zeigt sich, dass auch hier rechtsextreme Kräfte auf dem Vormarsch sind. Rechtskonservative werden zu Steigbügelhaltern und radikalisieren sich dabei gleich mit. Gleichzeitig sieht sich die Zivilgesellschaft vielerorts in Europa immer stärker Repressionen und Diffamierungskampagnen ausgesetzt. Wer sich umschaut, merkt schnell: Überall versuchen Rechte zunehmend erfolgreich, ihre Narrative zu verbreiten. Angriffe auf die Demokratie, auf Frauen- und Minderheitenrechte gehen dabei Hand in Hand mit fossiler Propaganda gegen Klimaschutz und migrationsfeindlichen Ressentiments. 

Umso wichtiger ist es, Antworten auf zentrale Fragen zu finden: Warum sind die Rechten so erfolgreich? Wie verhindern wir die weitere Normalisierung der Rechtsextremen und stoppen ihren Aufstieg? Mit welchen Strategien setzen wir wieder eigene Themen auf die Agenda, statt uns auf dem Spielfeld der Rechten in endlosen Klimaleugnungs- und Migrationshetzdebatten wiederzufinden? Wie stärken wir demokratische Institutionen und eine lebendige Zivilgesellschaft? Wie schaffen wir übergreifende Bündnisse für eine wehrhafte und belastbare Demokratie? Und wie lässt sich all das in einer Zeit bewältigen, in der wir global die Erstarkung und enge Vernetzung Rechtsextremer beobachten?


Diese und weitere Fragen wollen wir erläutern und diskutieren und freuen uns auf eine lebhafte Debatte und spannende Inputs!

Die Veranstaltung wird am 17. Oktober um 19 Uhr im tak (Theater Aufbau Kreuzberg) in der Prinzenstraße 85F stattfinden.
Nach Inputs von Luisa Neubauer und Natascha Strobl findet eine Podiumsdiskussion statt. Im Anschluss wird Raum für Anmerkungen und Fragen aus dem Publikum sein.

zu den Referent*innen

Natascha Strobl, Politikwissenschaftlerin und Rechtsextremismusexpertin, spezialisiert auf Rechtsextremismus und die Neue Rechte in Europa.

Luisa Neubauer, Aktivistin, Autorin und Expertin für Klimagerechtigkeit, Mitbegründerin von Fridays-for-Future.

Erik Marquardt, seit 2019 Abgeordneter im Europäischen Parlament. Dort beschäftigt er sich mit Asyl, Migration und Menschenrechten.

Ort der Veranstaltung:

tak Theater Aufbau Kreuzberg GmbH
Prinzenstraße 85F
10969 Berlin

Datum und Uhrzeit

Getränke und Fingerfood ab 19 Uhr, Beginn der Inputs um 19:15 Uhr.

Der Eintritt ist frei.

Anmeldung

Leider ist eine Anmeldung zu unserer Veranstaltung nicht mehr möglich, da wir unsere Kapazitätsgrenze erreicht haben.

Ich freue mich auf euer Kommen, auf eure Fragen und auf eine lebendige Diskussion.

Liebe Grüße
Erik

Veranstaltung: Grenzblockaden, Zurückweisungen, Propaganda – Populismus und Abschottung als Leitmotiv der Asylpolitik

Liebe alle,

seit Jahren sehen wir, wie die Debatte um Asyl- und Migrationspolitik sich von der Realität entkoppelt und zunehmend radikalisiert. Den vorläufigen Höhepunkt dieses Theaters haben wir in diesem Jahr erlebt, als die deutsche Bundesregierung sich offen darauf einigte, sich über Recht und Gesetz hinwegzusetzen und Asylsuchende an deutschen Grenzen zurückzuweisen.

Welche Wirkung haben Grenzkontrollen in der Realität? Warum verfangen sich populistische Narrative über „Kontrolle“ und „Sicherheit“ so leicht? Welche Folgen drohen der EU, wenn der Schengenraum weiter ausgehöhlt wird? Warum gibt es so wenig Empathie mit Asylsuchenden? Wo führt all das hin? Und wie schaffen wir es, dem Populismus und den Rechtsextremen etwas entgegenzusetzen?

Diese und weitere Fragen wollen wir erläutern und diskutieren und freuen uns auf eine lebhafte Debatte und spannende Inputs!

Die Veranstaltung
wird am 19. Juni um 19 Uhr im tak (Theater Aufbau Kreuzberg) in der Prinzenstraße 85F stattfinden. Nach Inputs von Gilda Sahebi, Marcus Engler und mir – Erik Marquardt – findet eine Podiumsdiskussion statt. Im Laufe der Zeit wird Raum für Anmerkungen und Fragen aus dem Publikum sein.

zu den Referent*innen

Dr. Marcus Engler, Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in der Migrationsabteilung und Autor der Expertise zu den Auswirkungen deutscher Binnengrenzkontrollen

Gilda Sahebi, Ärztin und Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Antisemitismus, Rassismus, Menschenrechte, Frauenrechte und Nahost.

Daniela Sepehri, setzt sich in den sozialen Medien und als Journalistin engagiert für Feminismus, Anti-Rassismus, Migration und den Iran ein. Sie wird uns als Moderatorin durch die Veranstaltung begleiten.

Erik Marquardt, seit 2019 Abgeordneter im Europäischen Parlament. Dort beschäftigt er sich mit Asyl, Migration und Menschenrechten. Er war selbst oft an den Außengrenzen und auf Seenotrettungsmissionen im Mittelmeer. Im Parlament begleitete er beispielsweise die Verhandlungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) als Schattenberichterstatter.

Ort der Veranstaltung:

tak Theater Aufbau Kreuzberg GmbH
Prinzenstraße 85F
10969 Berlin

Datum und Uhrzeit

Getränke und Fingerfood ab 19 Uhr, Beginn der Inputs um 19:30 Uhr.

Der Eintritt ist frei.

Anmeldung

Bitte meldet euch bis zum 17. Juni unter dem hier hinterlegten Formular an, da wir nur begrenzte Kapazitäten vor Ort haben.

Achtung! Nach der Anmeldung gibt es KEINE Bestätigungsmail. Die Anmeldung kommt trotzdem bei uns an. Am Tag vor der Veranstaltung bekommt ihr nochmal eine Erinnerungsmail mit allen Details zugesendet.

Ich freue mich auf euer Kommen, auf eure Fragen und auf eine lebendige Diskussion.

Liebe Grüße
Erik

Brief an EU-Kommission: Türkei nutzt EU-Gelder für Zwangsrückführungen

Seit dem umstrittenen EU-Türkei-Deal 2016 unterstützt die EU-Kommission die türkische Regierung bei der Aufnahme von Schutzsuchenden, damit weniger Menschen nach Europa kommen und dort Asyl beantragen. Das betrifft vor allem syrische und afghanische Geflüchtete, die vor dem Bürgerkrieg und der Verfolgung durch die Taliban fliehen. 

Nun haben Medienberichte gezeigt, dass die türkische Regierung von der EU finanzierte Infrastruktur nutzt, um Schutzsuchende zu misshandeln und nach Syrien und Afghanistan zurückzuschicken, wo ihre Menschenrechte und ihre Sicherheit akut gefährdet sind. Dies ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern verstößt vor allem schwerwiegend gegen völkerrechtliche Prinzipien wie das Gebot der Nichtzurückweisung.

Die Europäische Kommission soll trotz der Warnungen von Diplomat*innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und sogar ihrer eigenen Mitarbeiter*innen die Augen vor diesen Abschiebungen verschlossen haben, die mit europäischen Steuergeldern unterstützt wurden.

In einem Brief an die Kommission fordere ich deshalb gemeinsam mit 20 weiteren Europaabgeordneten die Kommission auf, die Migrationszusammenarbeit mit der Türkei zu überdenken. Während die Unterstützung der Aufnahme und Integration von Geflüchteten in der Türkei ein Ziel ist, hinter dem man stehen sollte, hat sich die politische Realität geändert. Wir erwarten von der Kommission, dass sie nicht länger die Augen vor diesen Abschiebungen verschließt und Verantwortung für die Rolle übernimmt, die europäische Gelder dabei spielen.

Brief an EU-Kommission: Zusammenarbeit mit Libyen

Seit Jahren unterstützt die EU-Kommission libysche Behörden mit Geldern und Infrastruktur zur Migrationsabwehr, obwohl Menschen in Libyen systematisch entrechtet werden und die Behörden systematisch Menschenrechte verletzen. Ein Ziel der Kooperation: Die Libyer sollen Boote vom Erreichen europäischer Küsten abhalten. Diese menschenrechtswidrigen Maßnahmen werden in der Europäischen Kommission als Unterstützung der Seenotrettung getarnt.

Nachdem sogar ein Gericht in Italien kürzlich festgestellt hat, dass sowohl die libysche Küstenwache als auch deren Seenotrettungsleitstelle ungeeignet sind, Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durchzuführen, habe ich einen Brief an die Europäische Kommission geschrieben. Denn die Kooperation mit Libyen soll jetzt noch intensiviert werden. Das EU-Parlament ist an diesen Maßnahmen nicht beteiligt und wurde vorab auch nicht über die EU-Pläne informiert.

Ich fordere Transparenz über die Finanzierung von und Zusammenarbeit mit libyschen Akteuren, allen voran die libysche Küstenwache, durch die Kommission. Es kann nicht sein, dass EU-Gelder weiterhin Akteure unterstützen, die nachweislich an Schmuggel, Menschenhandel und schwersten Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. 

Stattdessen muss es unter allen Umständen eine klare Einbeziehung des Europäischen Parlaments und deutliche Menschenrechtsgarantien für jegliche EU-Finanzierung in Libyen geben. Die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache muss außerdem sofort beendet werden. Das hätte schon vor Jahren passieren müssen.

Hier könnt ihr euch den Brief durchlesen (auf Englisch).

Briefing: Reform des Schengener Grenzkodex

Worum geht es?

Der Schengener Grenzkodex regelt die Einreisebedingungen und Grenzkontrollen an den EU-Außengrenzen und Binnengrenzen. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, unter welchen Bedingungen Binnengrenzkontrollen möglich sind.

Der Grenzkodex ist ein wichtiges Instrument, um die Freizügigkeit in Europa zu gewährleisten; allerdings halten sich die Mitgliedstaaten oft nicht an den Kodex. Beispielsweise führen sie Kontrollen an den Binnengrenzen ein und missachten die Rechtsgrundlagen dafür. Diese Kontrollen gefährden den Schengen-Raum, indem sie den freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr behindern, der für das Funktionieren der EU und ihrer assoziierten Länder (Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein) so wichtig ist. Besonders in Grenzregionen kosten die Kontrollen an den Binnengrenzen nicht nur viel Geld, sondern schränken das Leben der Menschen ein. Dabei führen sie oft nicht dazu, selbstgesteckte Ziele zu erreichen, beispielsweise weil sie Asylanträge gar nicht verhindern können, obwohl das immer wieder behauptet wird.

Die Reform

Die Europäische Kommission hat 2017 versucht, den Schengener Grenzkodex zu reformieren, aber die Mitgliedstaaten konnten sich nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen.

Nachdem die Mitgliedstaaten während der Corona-Pandemie die Binnengrenzen ohne Koordinierung auf EU-Ebene geschlossen hatten, schlug die Kommission eine neue Reform vor, die unter anderem auch Bestimmungen für gesundheitliche Notfälle größeren Ausmaßes – wie eben Pandemien – enthält.
Der Kommissionsvorschlag vom Dezember 2021 war gelinde gesagt umstritten, gefolgt von einer noch problematischeren Verhandlungsposition der Mitgliedstaaten. Trotz der oft betonten großen Bedeutung des Schengen-Raums für die Verwirklichung der Freizügigkeit in der EU hätten diese Texte dazu geführt, dass Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen endlose Binnengrenzkontrollen einführen können. Das Europäische Parlament hingegen fand mit seiner Verhandlungsposition einen Kompromiss, der den Schengen-Raum schützt.

EuGH-Urteil zu Grenzkontrollen

Parallel zum Reformprozess des Schengener Grenzkodexes hat der Europäische Gerichtshof in einem Grundsatzurteil nicht nur die Dauer der Binnengrenzkontrollen nach dem aktuellen Kodex sehr streng ausgelegt, sondern auch klar festgestellt, dass endlose Binnengrenzkontrollen gegen die im EU-Recht verankerte Freizügigkeit verstoßen. Damit stand fest: Freizügigkeit ist ein Recht, dass die EU-Staaten nicht unbegrenzt einschränken dürfen. Die Mitgesetzgeber (Rat und Parlament) müssen also ein Gleichgewicht zwischen “Freiheit” und “Sicherheit” finden, das nur mit einer festgelegten Befristung der Binnengrenzkontrollen im reformierten Schengener Grenzkodex funktioniert.

Der finale Kompromiss

Die interinstitutionellen Verhandlungen führten zu einem Kompromiss, zu dem wir im Europäischen Parlament in der letzten Plenarwoche der Legislaturperiode (Ende April 2024) abstimmen werden.
Wir sehen das Verhandlungsergebnis kritisch, denn: Die maximale Dauer von Binnengrenzkontrollen wird von derzeit 6 Monaten auf 3 Jahre erhöht. Allerdings haben Mitgliedstaaten eine neue, detailliertere Berichtspflicht, wenn sie Binnengrenzkontrollen einführen. Die Kommission hat im Gegenzug etwas mehr Pflichten und Befugnisse, um die Anwendung zu kontrollieren. Ob das dazu führt, dass die Grenzkontrollen nun stärker beschränkt werden, wird von Expert*innen bezweifelt.

Es wird außerdem zusätzliche Gründe geben, die Binnengrenzkontrollen erlauben. Darunter fällt sinnvollerweise eine gesundheitliche Notlage in großem Umfang, allerdings auch der sehr umstrittene Grund der unerlaubten Sekundärmigration von Drittstaatsangehörigen in großem Umfang. Damit wird die seit 2015 herrschende Praxis, dass Mitgliedstaaten Binnengrenzkontrollen einführen, um “irreguläre” Migration “einzudämmen”, quasi legalisiert.

Das Verhandlungsergebnis beinhaltet außerdem ein neues Verfahren für die interne Überstellung von Drittstaatsangehörigen ohne Bleiberecht zwischen den Mitgliedstaaten. Dieses Verfahren wird wahrscheinlich dazu führen, dass vermehrt “Racial Profiling” und im schlimmsten Fall sogar Kettenabschiebungen stattfinden können.

Durch die Einführung des Begriffs “Instrumentalisierung” können Mitgliedstaaten die Zahl der Grenzübergangsstellen und deren Öffnungszeiten begrenzen sowie die Grenzüberwachung intensivieren, wenn sie sich von einer Instrumentalisierung betroffen fühlen. Welche Fälle genau als Instrumentalisierung gelten, ist aber überhaupt nicht festgelegt und damit der Willkür der Mitgliedstaaten überlassen. Zusätzlich wurden die Möglichkeiten für polizeiliche Kontrollen und die allgemein im Hoheitsgebiet eingesetzten Kontroll- und Überwachungstechnologien erweitert. Diese zusätzlichen Vorschriften treten unmittelbar nach der Veröffentlichung in Kraft, wenn Parlament und Rat zugestimmt haben.

In der Praxis bleibt aber trotzdem abzuwarten, ob die Mitgliedstaaten diese neuen Vorschriften auch tatsächlich einhalten werden und ob die Kommission ihre Befugnisse als Hüterin der Verträge wahrnehmen wird, um dafür zu sorgen, dass sie dies tun.

Das erste KI-Gesetz der Welt: Warum es insbesondere Menschen auf der Flucht schützen muss

Einigung für das erste Gesetz zur Regulierung künstlicher Intelligenz

Im Rahmen ihrer Digitalstrategie hat die Europäische Kommission einen Rechtsakt zur Regulierung der künstlichen Intelligenz (englisch: AI Act) vorgeschlagen, um bessere Bedingungen für die Entwicklung und Nutzung von künstlicher Intelligenz (KI) in Europa zu gewährleisten und Gefahren vorzubeugen. Das Ziel der Gesetzgeber war es, die Vorteile und Chancen von KI mit dem Schutz der Grundrechte und der Gefahrenabwehr in Einklang zu bringen.

Nach langen und komplizierten Verhandlungen haben wir als Parlament im Dezember 2023 eine Einigung mit dem Rat der EU (also den Mitgliedstaaten) erzielt. Damit wird die erste Verordnung zur Regulierung von KI überhaupt geschaffen, was ein großer Erfolg ist. Auch wenn viele Anwendungsbereiche der künstlichen Intelligenz noch erforscht werden, ist bereits jetzt klar, dass es in Zukunft weitere Regulierungen braucht. Auch wir Grüne hätten uns weitergehende Regelungen gewünscht, insbesondere mit Fokus auf den Schutz von Grundrechten und vulnerablen Gruppen. Denn beispielsweise besteht weiterhin die Gefahr, dass Vorurteile und Diskriminierung durch KI verstärkt werden. Welche Risiken das digitale Zeitalter und künstliche Intelligenz für die Rechte von Asylsuchenden bedeuten, zeigt Amnesty International auch in einem ausführlichen Bericht auf.

Die Gefahren von Künstlicher Intelligenz am Beispiel der Migrationssteuerungssteuerung

Beim Grenzschutz ist es leider nicht gelungen, die Regulierung von Echtzeitüberwachung und anderen Maßnahmen ebenso einzuschränken, wie in anderen Bereichen. Außerdem besteht beim Einsatz künstlicher Intelligenz die große Gefahr, dass die Rechte marginalisierter Personengruppen, zum Beispiel von Asylsuchenden oder Migrant:innen, verletzt werden. Dies kann beispielsweise durch Profiling, automatisierte “Risikobewertungen” und allgegenwärtige Überwachungspraktiken passieren. EU-Regierungen setzen zunehmend KI-gestützte Überwachungssysteme an den Grenzen ein. Diese Systeme nutzen Algorithmen, um Daten von Kameras, Drohnen und Sensoren zu analysieren und Grenzschutzbeamte bei ihren Entscheidungen in Echtzeit zu unterstützen. Auch in Asylverfahren soll KI eingesetzt werden, etwa bei der Bearbeitung von Asylanträgen. Dabei kann es zu relevanten Fehleinschätzungen und komplizierten, bürokratischen Verfahren kommen. Der AI-Act wird nur begrenzt dazu beitragen, solche Gefahren zu verhindern.

Bestimmte KI-Anwendungen werfen erhebliche ethische und rechtliche Bedenken auf, wie zum Beispiel Lügendetektoren und biometrische Erkennungssysteme. Der AI-Act setzt hier an und reguliert solche Überwachungsmöglichkeiten. Allerdings konnten wir Grünen uns nicht an allen Stellen durchsetzen, sodass beispielsweise weiterhin Missbrauch der Technologie bei der Grenzüberwachung droht. Es gibt derzeit einen deutlichen Mangel an verlässlichen Daten über die Fehleranfälligkeit solcher Technologien, insbesondere bei der Gesichtserkennung. Solche Systeme bergen das Risiko, grundlegende Menschenrechte zu verletzen, wie das Recht auf Privatsphäre und das Nichtzurückweisungsgebot, das verbietet, Menschen in Gebiete zurückzuweisen, in denen ihnen eine unmittelbare Gefahr droht.

Worauf bei der Weiterentwicklung entsprechender Gesetzgebung geachtet werden muss

Für die Weiterentwicklung ist es wichtig, auf wesentliche Schwachstellen des AI Act hinzuweisen, auch wenn es grundsätzlich ein großer Erfolg ist, dass es einen europaweiten Einstieg in die Regulierung von KI gibt. Der im AI Act gefundene Kompromiss besteht darin, bestimmte Formen künstlicher Intelligenz zu verbieten, die als gefährlich eingestuft werden, während andere KI-Funktionen als hochriskant eingestuft werden, die eine strenge Überwachung und die Einhaltung strikter Regulierungsstandards erfordern. 

Trotz erheblicher Zugeständnisse, die wir als Grüne machen mussten, wie das fehlende Verbot biometrischer Überwachung, erhebliche Mängel beim Klassifizierungssystem für Hochrisiko-KI und breite Ausnahmen für den Einsatz von KI in der Strafverfolgung, sind wir als Fraktion mit dem Verhandlungsergebnis zufrieden. Die Zukunft wird zeigen, wie robust und zukunftssicher diese Verordnung angesichts der rasanten technologischen Entwicklung um KI sein wird. Vermutlich wird es zeitnah Anpassungen geben müssen.

Zu den wichtigsten Erfolgen für unsere Fraktion gehören:

  • Der Anwendungsbereich der KI-Verordnung, der nun auch allgemeine KI umfasst.
  • Definitionen von KI-Systemen, die mit internationalen Standards und den OECD-Prinzipien übereinstimmen.
  • Verbot von Echtzeit-Fernbiometrie-Identifikation etc. in öffentlich zugänglichen Räumen.
  • Kategorisierung von Hochrisiko-KI-Systemen und damit verbundene Verpflichtungen bzw. Einschränkungen.
  • Eine grundlegende Grundrechtsfolgenabschätzung vor der Einführung eines Hochrisiko-Systems.
  • Verpflichtungen für allgemeine KI-Modelle, einschließlich technischer Dokumentation und Transparenz.
  • Umweltverpflichtungen, die einen neuen Schwerpunkt im Gesetz darstellen
  • Ein neues „KI-Büro“ der Kommission, das die Bestimmungen für allgemeine KI-Modelle überwacht und durchsetzt.
  • Transparenzregeln für Deepfakes und regulatorische Sandkästen, um Start-ups und KMU bei der Entwicklung von KI zu unterstützen, die vollständig mit der Verordnung konform ist.

Reform der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis

Beim abschließenden Trilog über die Neufassung der Richtlinie über die kombinierte Aufenthaltserlaubnis (Single Permit Directive) wurde im Januar eine Einigung erzielt

Worum geht es in der Richtlinie?

Jedes Jahr kommen etwa 3 bis 3,5 Millionen Drittstaatsangehörige in die EU, hauptsächlich aus beruflichen Gründen. Sie arbeiten in den EU-Ländern, zahlen Steuern und tragen durch ihre Mobilität dazu bei, dass Unternehmen dringend benötigte Arbeitskräfte finden. Die Richtlinie über die kombinierte Aufenthaltserlaubnis ermöglicht diesen Menschen ein vereinfachtes Antragsverfahren und stellt sicher, dass ein:e Bewerber:in nur eine Erlaubnis benötigt, die sowohl zum Arbeiten als auch zum Aufenthalt in der EU berechtigt. Sie gibt vielen Nicht-EU-Bürger:innen, die in der EU arbeiten, das Recht, in vielerlei Hinsicht wie EU-Bürger:innen behandelt zu werden. Das gilt insbesondere in Bezug auf faire Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit, Anerkennung von Qualifikationen und steuerliche Vergünstigungen. 

Geschichte der Single Permit Directive

Die Richtlinie ist seit 2011 in Kraft; Ziel der Überarbeitung war es nun, das Verfahren für den Erhalt einer kombinierten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu vereinfachen und den Mitgliedstaaten die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten zu erleichtern. Damit soll dem Fachkräftemangel in der EU entgegengewirkt werden. Darüber hinaus stellt die Arbeitsmigration eine legale Alternative dar, die es Schutzsuchenden ermöglichen kann, gefährliche irreguläre Fluchtrouten zu vermeiden. Damit diese nach ihrer Ankunft geschützt sind, sehen die aktualisierten Vorschriften auch verstärkten Schutz vor Ausbeutung und Ungleichbehandlung in den Mitgliedstaaten vor.  Arbeitnehmer:innen aus Drittstaaten erhalten durch die Neufassung ein einheitliches Paket an Rechten in Bezug auf ihre Arbeitsbedingungen, ihre soziale Absicherung und die Anerkennung ihrer Qualifikationen erhalten. Im Gegenzug müssen sie die jeweiligen Regelungen einhalten, andernfalls kann ihnen die kombinierte Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis entzogen werden.

Was uns Grünen wichtig war

Uns Grünen war es in den Verhandlungen wichtig, bürokratische Hürden abzubauen und mehr Menschen den Zugang zu einer kombinierten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu ermöglichen. Darüber hinaus wollten wir einen besseren Schutz vor Ausbeutung bei der Arbeitsaufnahme in den Mitgliedstaaten, z.B. durch eine Informationspflicht und die Einführung eines Rechts auf Arbeitgeberwechsel sowie ein gestärktes Recht auf Gleichbehandlung. Im folgenden erläutere ich euch einige unserer Hauptanliegen.

Weniger bürokratische Hürden

Diese Ziele konnten wir teilweise verwirklichen, denn der vereinbarte Text enthält einige Verbesserungen im Vergleich zu den vorherigen Vorschriften. Beispielsweise wurde eine Maximalfrist von 90 Tagen für die Entscheidung über Anträge auf eine kombinierte Erlaubnis festgelegt, im Vergleich zu den derzeitigen vier Monaten. Verfahren für besonders komplexe Fälle können um 30 Tage verlängert werden. Allerdings hätten wir uns sehr gewünscht, dass in diese Fristen die potenziell langfristigen Bearbeitungszeiten für die Personen, die ein Visum benötigen, mit einbezogen worden wären. Zudem wollten wir beschleunigte Verfahren für Antragsteller:innen, die bereits eine Genehmigung in einem anderen Mitgliedstaat besitzen oder an EU-Talentpartnerschaften teilgenommen haben; die Mitgliedstaaten werden nun lediglich durch Erwägungsgründe ermutigt, solche Anträge zu beschleunigen.

Wechsel des:der Arbeitgeber:in

Ganz besonders wichtig war uns auch die Möglichkeit, den oder die Arbeitgeber:in sowie Beruf und Arbeitsbereich wechseln zu können. Wir konnten in den Verhandlungen sicherstellen, dass eine einfache Mitteilung des neuen Arbeitgebers für einen solchen Wechsel ausreicht. Allerdings haben die nationalen Behörden trotzdem 45 Tage Zeit, den Wechsel abzulehnen. Zudem können Mitgliedstaaten einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten vorschreiben, in dem ein Wechsel nicht möglich ist. Eine Ausnahme bilden ernsthafte Verstöße gegen den Arbeitsvertrag, einschließlich besonders ausbeuterischer Arbeitsbedingungen, durch den oder die Arbeitgeber:in. Die Bestimmungen gehen damit leider nicht so weit, wie wir es uns gewünscht hätten.

Schutz auch bei Arbeitslosigkeit

Personen, die ihren Job verlieren, haben künftig bis zu drei Monate Zeit – bzw. sechs, wenn die Person ihre Arbeitserlaubnis seit mehr als zwei Jahren besitzt – um einen anderen Arbeitsplatz zu finden, bevor ihnen die Erlaubnis entzogen wird. Das sind zwei – bzw. vier – Monate länger, als es bisher der Fall war. Wenn ein:e Arbeitnehmer:in besonders ausbeuterischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt war, verlängern die Mitgliedstaaten die erlaubte Dauer der Arbeitslosigkeit um drei Monate, während die kombinierte Erlaubnis gültig bleibt. Bei einer Arbeitslosigkeit von mehr als drei Monaten können die Mitgliedstaaten von dem oder der Inhaber:in der kombinierten Erlaubnis den Nachweis verlangen, dass er:sie über ausreichende Mittel verfügt, um seinen:ihren Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe zu bestreiten. Mitgliedstaaten sind zudem durch einen neuen Artikel dazu verpflichtet, Verletzungen der Arbeitnehmerrechte zu überwachen und zu sanktionieren, insbesondere in Sektoren, bei denen ein grundsätzlich hohes Risiko von Verletzungen der Arbeitnehmerrechte besteht.

Was nun?

Die neuen Bestimmungen sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber wir müssen uns weiterhin dafür einsetzen, dass Hindernisse für die Arbeitsmigration abgebaut und Schutzmöglichkeiten geschaffen werden. Dazu gehört zum Beispiel unser Wunsch, dass die Einschränkungen des Rechts auf Gleichbehandlung im Wohnungswesen nur für öffentlichen Wohnraum – und nicht für privaten Wohnraum gelten. Diesmal konnten wir nur eine Ausnahme für Privatwohnungen durchsetzen.Grundsätzlich gilt es außerdem, angesichts der zunehmend restriktiven Migrationspolitik der EU, die auf Abschottung und Externalisierung setzt, legale Migrationswege wie die Arbeitsmigration zu fördern.

Studie belegt weit verbreiteten Rassismus in der EU

Der aktuelle Bericht “Schwarzsein in der EU” kommt zu dem Ergebnis, dass Rassismus, Diskriminierung und Hassverbrechen ein großes Problem bleiben, obwohl es seit dem Jahr 2000 verbindliche Antidiskriminierungsgesetze gibt. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört unter anderem, dass fast die Hälfte der Befragten rassistische Diskriminierung erlebt haben – ein Anstieg von 39 % im Jahr 2016 auf 45 % im Jahr 2022. Zu den Gründen für die Diskriminierung gehören durch EU-Recht geschützte Personenmerkmale wie Hautfarbe, ethnische Herkunft und religiöse Überzeugungen. Mehr als die Hälfte der Befragten, die sich in mindestens einem Lebensbereich diskriminiert fühlten, gaben an, dass sie aus mehreren Gründen diskriminiert wurden. Hautfarbe, ethnische Herkunft oder Migrationshintergrund waren die am häufigsten genannten Gründe.  

Methodik

Ausgewertet wurden die Antworten von 6 752 Personen aus Subsahara-Afrika und ihren Nachkommen mit Wohnsitz in 13 EU-Mitgliedstaaten: Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, Luxemburg, Polen, Portugal, Spanien und Schweden. Das wichtigste Auswahlkriterium war das Geburtsland der Befragten oder ihrer Eltern. Das heißt, die Befragten wurden entweder in einem afrikanischen Land südlich der Sahara geboren (Einwanderer*innen) oder in der EU geboren, wobei mindestens ein Elternteil in einem afrikanischen Land südlich der Sahara geboren wurde (Nachkommen von Einwanderer*innen).

Hohe Dunkelziffer

Obwohl Übergriffe nach wie vor weit verbreitet sind, gaben zwei Drittel (64%) der Opfer rassistischer Gewalt an, dass sie den letzten Vorfall, den sie erlebt haben, keiner Organisation oder Stelle gemeldet haben. Und das, obwohl die meisten Opfer rassistischer Gewalt unter psychischen Problemen leiden und befürchten, erneut angegriffen zu werden. Einige Befragte meldeten den Vorfall nicht, weil sie der Meinung waren, dass dies nichts ändern würde (36 %), oder weil sie eine Meldung für zu bürokratisch oder zeitaufwändig hielten (19 %). Andere meldeten den Vorfall nicht, weil sie befürchteten, niemand würde ihnen glauben oder sie ernst nehmen, weil sie kein Vertrauen in die Polizei hatten oder sich vor der Polizei fürchteten (jeweils 16 %). 15 % der Opfer rassistischer Gewalt wussten nicht, wohin sie sich wenden oder an wen sie sich wenden sollten, um eine Anzeige zu erstatten.

Diskriminierung in vielen Bereichen 

Die erlebte Diskriminierung setzt sich auch in den Lebensbereichen Beschäftigung, Wohnen und Gesundheitswesen fort. Während die durchschnittliche Beschäftigungsquote bei Menschen afrikanischer Abstammung im Alter von 20 bis 64 Jahren (71 %) ähnlich hoch ist wie die der Allgemeinbevölkerung (73 %) in derselben Altersgruppe, arbeitet ein Drittel (32 %) der erwerbstätigen Befragten in einfachen Berufen, verglichen mit einem Durchschnitt von 8 % für die Allgemeinbevölkerung in allen 27 EU-Mitgliedstaaten. Die Überqualifizierungsquote ist bei den Befragten afrikanischer Abstammung höher als bei der Allgemeinbevölkerung, unabhängig davon, ob sie Staatsangehörige des Erhebungslandes (35 % gegenüber 21 %) oder Drittstaatsangehörige (57 % gegenüber 40 %) sind.

Armut 

Die Befragten sind auch stärker von Armut, sozialer Ausgrenzung und Energiearmut bedroht als die Allgemeinbevölkerung. Ein Drittel (32 %) von ihnen hat Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen, verglichen mit 18 % der Allgemeinbevölkerung. 14 % können es sich nicht leisten, ihre Wohnung warm zu halten, verglichen mit 7 % der Allgemeinbevölkerung. 18 % sind mit ihren Strom- und Gasrechnungen im Rückstand, mehr als doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung (6 %). Fast jede*r zweite Befragte (45 %) in den 13 untersuchten Ländern lebt in überfüllten Wohnungen, ein viel höherer Anteil als in der Allgemeinbevölkerung (17 %).

Diejenigen, die versuchen, eine Wohnung zu mieten oder zu kaufen, werden ebenfalls rassistisch diskriminiert. In einigen Ländern wird dies durch den sozialen Wohnungsbau abgemildert. Eine*r von vier (23 %) der Befragten afrikanischer Abstammung gab an, dass ein*e private*r Immobilienbesitzer*in sie aufgrund ihrer Hautfarbe oder ethnischen Herkunft daran gehindert hat, eine Wohnung oder ein Haus zu mieten. Die Befragten waren mehr als viermal so häufig von Diskriminierung betroffen, wenn sie versuchten, eine Wohnung von einer*einem privaten Eigentümer*in zu mieten, als wenn sie versuchten, eine Wohnung von einer öffentlichen oder kommunalen Behörde zu mieten (5 %).

Racial Profiling 

Darüber hinaus ist mehr als die Hälfte der Menschen afrikanischer Abstammung der Meinung, dass ihre jüngste Polizeikontrolle das Ergebnis eines rassistischen Profilings war. Die Umfrageergebnisse zeigen, dass Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung das Vertrauen in öffentliche Einrichtungen, einschließlich der Polizei, des Rechtssystems und der lokalen Behörden, untergraben können. So ist beispielsweise das durchschnittliche Vertrauen in die Polizei bei Befragten, die sich rassistisch diskriminiert fühlten, um 1,2 Prozentpunkte geringer als bei Befragten, die keine rassistische Diskriminierung erlebt hatten. Vergleicht man die Ergebnisse von 2016 und 2022 in Bezug auf das wahrgenommene rassistische Profiling unter den Befragten afrikanischer Abstammung, so stieg die durchschnittliche Quote in allen untersuchten Ländern von 41 % (2016) auf 48 % (2022). Männer werden mit größerer Wahrscheinlichkeit angehalten als Frauen.

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