Syrien 2025: Kein Frieden, keine Gerechtigkeit und kein Ort für Abschiebungen

Rund ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes ist Syrien weiterhin von Gewalt, Straflosigkeit und politischer Willkür geprägt. Inszenierte Wahlen und Bilder vermeintlicher Normalität ändern daran nichts. Dennoch wächst in Europa der politische Druck, geflüchtete Syrer*innen in ihr Heimatland abzuschieben. Dabei warnen Expert*innen wie das UN-Flüchtlingshilfswerk eindringlich, dass Syrien viel zu instabil ist, um Rückkehrer*innen zu schützen oder angemessen versorgen zu können. Niemand kann aktuell verlässlich einschätzen, ob das Land einen Weg in eine stabile Zukunft findet oder erneut in Gewalt versinkt.
Machtvakuum, Straflosigkeit und neue Gewalt
Nach dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 übernahm die islamistische Miliz HTS die Kontrolle über Damaskus und beansprucht seither die politische Führung des Landes. Die Verbrechen der Assad-Ära wurden bislang nicht aufgearbeitet; mutmaßliche Täter teilweise sogar freigesprochen. Dieses Klima der Straflosigkeit lässt die Menschen im Land schutzlos zurück. Selbstjustiz, politisch motivierte Tötungen und ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen prägen den Alltag vieler Menschen.
So kam es im März beispielsweise in den Küstenregionen im März zu Massakern an Angehörigen religiöser Minderheiten wie Alawit*innen und Christ*innen, begleitet von Plünderungen und Entführungen. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, in der selbst grundlegende Religionsfreiheit abgeschafft wird.
Der Selbstmordanschlag auf die Mar-Elias-Kirche in Damaskus im Juni 2025, bei dem 25 Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden, zeigt, dass selbst zentrale religiöse Orte nicht geschützt sind. Für die Bevölkerung bedeutet dies, dass Räume der Zuflucht und Gemeinschaft zu Orten der Unsicherheit geworden sind.
Besonders dramatisch war auch die Eskalation der Gewalt in der Provinz as-Sweida im Juli. Beduinische Milizen und Regierungstruppen griffen die Provinz an und lieferten sich schwere Kämpfe mit lokalen drusischen Milizen. Dabei wurden über 1.400 Menschen getötet, darunter zahlreiche Zivilist*innen, und mehr als 150.000 Menschen vertrieben. BBC-Recherchen dokumentieren zudem schwere Kriegsverbrechen: Demnach sollen Regierungssoldaten Patient*innen in einem Krankenhaus in ihren Betten erschossen haben sollen. Diese Ereignisse zeigen klar, dass die syrischen Machthaber weder Schutz bieten noch Kontrolle über wesentliche Sicherheitsbereiche besitzen.
Zermürbte Abkommen und verlorenes Vertrauen
Auch im kurdisch geprägten Nordosten Syrien bleibt die Lage instabil. Die Spannungen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF), einer kurdisch geführten Miliz, und der HTS reißen nicht ab. Ein am 10. März 2025 geschlossenes Abkommen sollte zur Stabilisierung der Region beitragen, blieb jedoch weitgehend wirkungslos. Das Scheitern lässt sich vor allem durch die tiefe Verunsicherung in der Bevölkerung erklären: Die brutalen Angriffe in den Küstenregionen und das Massaker in as-Sweida haben die Menschen im Nordosten in Angst versetzt. Viele fürchten, dass sich die Gewalt jederzeit auf ihre Region ausweiten könnte.
Zwar setzt sich die SDF für ein dezentrales Syrien ein, in dem Macht und Verantwortung zwischen Regionen und Zentralregierung geteilt werden, doch die Führung in Damaskus blockiert dieses Modell. Sie betrachtet Dezentralisierung als Vorstufe eines schleichenden Zerfalls des Landes. Entsprechend steht auch ein weiteres Abkommen, das nach erneuten Spannungen in Aleppo im Oktober ausgehandelt wurde, unter schlechten Vorzeichen. Ob es eingehalten wird, erscheint angesichts des tiefgreifenden Vertrauensverlusts derzeit völlig offen.
Scheinwahl statt politischem Aufbruch
Die Parlamentswahl vom 5. Oktober 2025 sollte ein Symbol für einen politischen Neuanfang sein. Stattdessen hat sie deutlich gemacht, wie fest Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa die Macht an sich gerissen hat. Die Wahl war weder frei noch fair, denn al-Sharaa hat sowohl das Wahlverfahren als auch dessen Ergebnis kontrolliert: Nach Dekret Nr. 143/2025 ernennt er ein Drittel der Abgeordneten selbst und bestimmt die Mitglieder der Hohen Wahlkommission. Diese wiederum überwacht nicht nur den gesamten Wahlprozess, sondern bestätigt auch die Vergabe der übrigen Mandate; ein System geschlossener Kontrolle ohne unabhängige Instanzen.
Hinzu kommen bewusst vage formulierte Ausschlusskriterien, die den willkürlichen Ausschluss unerwünschter Kandidat*innen ermöglichen. Unter Vorwürfen wie angeblicher Unterstützung des früheren Regimes oder Spaltung des Landes werden politische Konkurrenten ausgeschaltet. Betroffene erhalten weder Einblick in die Vorwürfe noch die Möglichkeit, rechtlich dagegen vorzugehen. Auch von gesellschaftlicher Repräsentation kann kaum die Rede sein: Die Frauenquote von 20 Prozent bleibt symbolisch, während marginalisierte Gruppen faktisch keine Stimme haben.
In Syrien wurde kein politischer Neubeginn eingeleitet, sondern bestehende autoritäre Machtstrukturen lediglich unter neuem Namen fortgeführt.
Die Folgen für Europa: Politischer Druck statt Schutz
Trotz der katastrophalen Lage im Land fordern Konservative und Rechtsextreme in Europa zunehmend Abschiebungen nach Syrien. Österreich hat bereits erste Menschen nach Syrien abgeschoben. In Deutschland wird die Debatte vor allem vom Bundeskanzler befeuert, der sogar den syrischen Übergangspräsidenten nach Berlin eingeladen hat – eine Person, die noch bis vor kurzem als Terrorist eingestuft wurde. Die Signalwirkung dieser politischen Aufwertung ist deutlich: Sie sendet ein fatales Zeichen der Normalisierung an autoritäre und extremistische Akteure.Lediglich der Außenminister widerspricht der populistischen Rückkehrdebatte deutlich: Nach seiner Syrienreise beschrieb er die Zerstörung als „schlimmer als Deutschland 1945“.
Keine pauschale Asyl-Aussetzung: Karlsruhe stellt BAMF klar in die Schranken
Nach dem Sturz Assads setzte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wie auch mehrere andere EU-Staaten, Asylverfahren für Syrer*innen zunächst pauschal aus. Begründet wurde das mit einem angeblichen Bedarf an weiterer „Aufklärung“. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch klargestellt, dass eine solche pauschale Aussetzung rechtswidrig ist. Die Lage in Syrien sei hinreichend bekannt, um Einzelfälle zu prüfen. Damit bleibt die rechtsstaatliche Verpflichtung zur Einzelfallprüfung verbindlich und nicht verhandelbar.
In der Praxis agieren die Behörden dennoch teils zögerlich. Für Betroffene bedeutet das anhaltende Unsicherheit; gerade für jene, die seit Jahren in Deutschland leben, arbeiten und gesellschaftlich integriert sind. Anstelle von Schutz und rechtlicher Klarheit dominiert damit weiterhin politische Abschreckung.
Das Paradox der Abschiebungsdebatte: Fachkräftemangel vs. Schutzentzug
Deutschland wirbt aktiv um Fach- und Arbeitskräfte, gleichzeitig müssen viele erwerbstätige Syrer*innen um den Verlust ihres Schutzstatus fürchten. Wird dieser entzogen, verlieren Betroffene in der Regel automatisch ihre Arbeitserlaubnis. Damit geraten nicht nur jahrelange Integrationsbemühungen ins Wanken, sondern auch die Existenzgrundlage der Betriebe, die auf ihre eingearbeiteten Mitarbeiter*innen angewiesen sind.
Eine Abschiebepolitik, die über den Entzug von Schutz funktioniert, steht damit neben menschlichen Werten auch in einem starken Widerspruch zu den eigenen arbeitsmarktpolitischen Zielen. Was als migrationspolitische Härte verkauft wird, erweist sich damit auch ökonomisch als kurzsichtig.
Es braucht Schutz statt Symbolpolitik
Angesichts der anhaltenden Gewalt, Straflosigkeit, politischen Willkür und der fragilen Sicherheitslage sind Abschiebungen nach Syrien politisch, humanitär und rechtlich unverantwortlich. Eine verantwortungsvolle deutsche und europäische Politik muss deshalb den Schutz von Geflüchteten in den Mittelpunkt stellen, rechtsstaatliche Verfahren konsequent stärken und gleichzeitig gezielten Druck auf die neuen Machthaber in Syrien ausüben, um demokratische Veränderungen einzufordern.
Außerdem müssen die Hauptaufnahmeländer Türkei, Libanon und Jordanien nachhaltig unterstützt werden. Nur durch eine Verbindung von Schutz, Rechtsstaatlichkeit und internationaler Verantwortung kann langfristig ein Umfeld entstehen, in dem eine sichere und freiwillige Rückkehr überhaupt denkbar ist.